Denken (mit) der Kunst oder: Was ist ein theoretisches Objekt?

Ausgabe #3
November 2014
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Was mag das sein, ein theoretisches Objekt? Und was bedeutet es, kunsthistorische Gegenstände als theoretische Objekte in Anspruch zu nehmen? Der Text erläutert den Begriff und skizziert Grundzüge dieses methodologischen Ansatzes. Dabei wird die Notwendigkeit betont, Kunst und Theorie in der kunsthistorischen Analyse in einen wechselseitigen Dialog zu versetzen. Es geht um die Möglichkeit, sich einem Denken (mit) der Kunst zu nähern.

Das Zusammenbringen von kunsthistorischem Gegenstand und theoretischem Denken erweist sich als eine methodologische Herausforderung, die sich immer wieder aufs Neue stellt. Häufig besteht die Lösung darin, dass man eine Theorie auf ein Kunstwerk anwendet. Der einfachste, aber verbreitetste Umgang mit Theorie scheint also der, sie als ein Instrument einzusetzen, mit dem sich z.B. Gemälde oder Skulpturen erklären lassen. Sie fungiert gewissermaßen als Werkzeug, das einen verborgenen Sinn oder Inhalt freilegen kann. Ein wesentlicher Nachteil einer solchen einseitigen Applikation von Theorie besteht unterdessen darin, dass die Theorie den Horizont des Kunstwerks absteckt. Die angewandte Theorie vermag letztlich nur das zutage zu fördern, was sie ohnehin selbst schon weiß. Oder andersherum formuliert: Im Kunstwerk könnte – wenn überhaupt – stets nur so viel drinstecken, wie die Theorie zu sagen in der Lage ist. Doch wozu sollte man sich dann überhaupt noch mit Kunst befassen? Wäre es nicht angemessener, sich gleich mit der Lektüre theoretischer Texte zu begnügen, die es ohnehin ‚besser wissen‘? Es ist evident, dass ein solcher Schluss zugleich zur Selbstdemontage der Disziplin Kunstgeschichte beitrüge.

Der vorliegende Text plädiert nun aber nicht dafür, Kunstwerke vor der Theorie in Schutz zu nehmen. Das Gegenteil ist der Fall. Es wäre ein Irrweg, die kunsthistorische Analyse in eine (angeblich) theoriefreie Zone hinüberretten zu wollen. Aus diesem Grund wird im Folgenden die Möglichkeit einer anderen Kontaktaufnahme zwischen Gegenstand und Theorie skizziert. Zu diesem Zweck greife ich auf Überlegungen zur Kunst als einem theoretischen Objekt zurück. Dahingehende Ansätze sind bei zahlreichen Autor_innen zu finden; ich werde mich auf Hubert Damisch, Louis Marin und Mieke Bal konzentrieren. 11In Betracht zu ziehen wären u.a. auch Giovanni Careri: Bernini. Flights of Love, the Art of Devotion, Chicago 1995;Rosalind E. Krauss: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998; Martina Dobbe: Fotografie als theoretisches Objekt. Bildwissenschaft, Medienästhetik, Kunstgeschichte, München 2007. Besonders Letztere hat sich wiederholt energisch gegen eine rein instrumentelle Anwendung eines „Oberdiskurses“ bzw. einer „theoretischen Maschinerie“ auf kunsthistorische Gegenstände geäußert. 22Vgl. Bal, Mieke: Kulturanalyse, Frankfurt a.M. 2002a, S. 17–18, 68, 229, 323. Mieke Bals methodologische Kritik basiert auf einer Haltung gegenüber dem künstlerischen Schaffen und seinen Produkten, die sie – ungeachtet zahlreicher Differenzen – mit den anderen erwähnten Autor_innen teilt. Anstatt die Kunst der Theorie unterzuordnen, sie klein und erklärungsbedürftig zu machen, versuchen sie, die künstlerische Praxis gegenüber den theoretischen Diskursen aufzuwerten und sie als eine eigene Form des Denkens oder Theoretisierens zu erfassen. Kunst als ein theoretisches Objekt zu betrachten, heißt in diesem Sinne, ihrem Erkenntnispotenzial bzw. ihrer epistemischen Arbeit nachzuforschen.

Der französische Philosoph und Kunsthistoriker Hubert Damisch gilt als einer der ersten Autoren, der den Begriff des theoretischen Objekts explizit in der für uns relevanten Bedeutung verwendete. Er hat in den verschiedensten thematischen Zusammenhängen davon Gebrauch gemacht: so etwa in Texten über die Malerei der frühen Neuzeit, über moderne Architektur und Fotografie. Sein Buch Der Ursprung der Perspektive soll hier als Einstiegsbeispiel dienen. 33Hubert Damisch: Der Ursprung der Perspektive, Berlin/Zürich 2010 [zuerst Paris 1987]. Damisch befasst sich darin mit dem zentralperspektivischen Konstruktionsverfahren, das er auf doppelte Weise als Reflexionsobjekt heranzieht. Es ist ihm einerseits Objekt der Forschung, d.h. ein kunsthistorischer Gegenstand, über den er nachdenkt. Anderseits diskutiert er die Perspektive als ein „Paradigma“ bzw. als ein „Modell für das Denken“; sie ist ihm also zugleich ein Gegenstand, der an sich schon eine bestimmte (visuelle) Form der Reflexion darstellt. 44Damisch (2010), S. 18, 25. Dieser zweite Aspekt ist entscheidend. Am Beispiel der Perspektive möchte Damisch zeigen, „inwiefern die Kunst auf ihre Weise der Ort und das Instrument einer Denkarbeit“ 55Damisch (2010), S. 36. An einer früheren Stelle schreibt er demgemäß, es gehe um die Anerkennung einer „Denkarbeit, deren Anlass, Ort und Instrument die Perspektive“ sei, einer Denkarbeit folglich, die sich in den Bildern und daher mit bildlichen Mitteln vollzieht. Ebd., S. 25. sein kann.

Seine Untersuchung erschöpft sich somit nicht in der Zielsetzung, das perspektivische Konstruktionsverfahren als Produkt einer bestimmten historischen Situation bzw. als Effekt einer vergangenen Konstellation zu bestimmen, in denen auch theoretische Momente (z.B. Geometrie, Optik) zum Tragen kamen. Darum geht es Damisch zweifellos auch, doch ist das nicht der Grund, weshalb er angesichts der Kunst der Perspektive von einem theoretischen Objekt spricht. Viel wichtiger ist, dass er nach der Wirksamkeit der Perspektive als einem „Modell für das Denken“ fragt. Damisch interessiert sich dafür, inwiefern das perspektivische Paradigma selbst „Effekte produziert“ und sich in unser Denken einmischt. 66Damisch (2010), S. 48. Doch noch ein Wesentliches kommt hinzu: Diese „Kapazität“ der Perspektive, theoretische bzw. epistemische Effekte zu zeitigen, überschreitet seiner Ansicht nach „die Grenzen ihrer Entstehungszeit“. 77Ebd. Damisch beharrt darauf, dass die Wirksamkeit der Perspektive als theoretisches Objekt nicht auf den historischen Kontext beschränkt bleibt, sondern sich selbst heute noch in der Anschauung und der Theorie niederschlagen kann.

In einem ganz anderen thematischen Zusammenhang schreibt er dementsprechend, dass theoretische Objekte „not only belong to theory but rework it, put it to the test, or even present a challenge to it.” 88Hubert Damisch: »Against the Slope«, in: Log, Nr. 4, Winter 2005, S. 29–48, hier: S. 31. Vgl. auch ders.: »Vorwort: Ausgehend von der Photographie«, in: Krauss (1998), S. 7–13, hier: S. 13, wo er diesen Effekt der Theoriekritik mit deutlichen Worten herausstellt. Das „Eindringen“ eines theoretischen Objekts in ein gegebenes Theoriefeld, heißt es dort, könne „die Karte dieses Feldes so weit umstürzen, daß die Vermessungsarbeit wieder bei Null aufgenommen werden muß.“ Als konkrete kunsthistorische Gegenstände können sie demzufolge für Verschiebungen im Bereich der gegenwärtigen Theorie sorgen. Die seiner Meinung nach entscheidenden Merkmale solcher Objekte, die er als ‚theoretisch‘ qualifiziert, resümiert er in einem Interview aus dem Jahr 1998:

“A theoretical object is something that obliges one to do theory […]. Second, it’s an object that obliges you to do theory but also furnishes you with the means of doing it. […] Third, it’s a theoretical object because it forces us to ask ourselves what theory is. It is posed in theoretical terms; it produces theory; and it necessitates a reflection on theory.” 99Yve-Alain Bois u.a.: »A Conversation with Hubert Damisch«, in: October, Bd. 85, Sommer 1998, S. 3–17, hier: S. 8. Andernorts bezeichnet er Le Corbusiers La Tourette als ein theoretisches Objekt “that gives pause for thought and opens the way to reflection […] as an object that […] itself secrets theory, or at least directs it, feeds it, informs it – in other words, secretly programs it.” Damisch (2005), S. 30.

Man kann hiervon ausgehend festhalten, dass die Idee des theoretischen Objekts nicht so sehr darauf abhebt, dass Kunstwerken Theorien zugrunde liegen können. Es geht weniger um vorherige theoretische Einflüsse auf die jeweiligen kunsthistorischen Gegenstände, als vielmehr um das, wozu Kunst im Rahmen einer künftigen Analyse fähig ist bzw. wozu sie befähigt. Für Damisch und andere ist entscheidend, dass Kunstwerke zum Theoretisieren anregen, dass sie einen durch ihre eigenen Mittel dazu in die Lage versetzen und dass sie sogar Effekte im Feld der Theorie hervorrufen können. Und es geht ihnen darum, dieses epistemische Vermögen in der kunsthistorischen (oder philosophischen) Arbeit in Anspruch zu nehmen und fruchtbar zu machen.

Die holländische Kulturanalytikerin Mieke Bal hat sich wiederholt auf Hubert Damisch und dessen Charakterisierung des theoretischen Objekts berufen. 1010Vgl. zuletzt Mieke Bal: Of What One Cannot Speak. Doris Solcedo’s Political Art, Chicago 2010, S. 7 Sie ist in vielerlei Hinsicht wesentlich deutlicher als dieser, und sie geht in etlichen Punkten wesentlich weiter. In Bals methodologischen Überlegungen spielt der Begriff eine zentrale Rolle. Ihre Äußerungen über das theoretische Objekt stehen in enger Beziehung zu jener „anti-instrumentalistischen Theorieauffassung“ 1111Bal (2002), S. 229., die oben bereits zur Sprache kam. Theorie sollte demzufolge nicht unilateral auf kunsthistorische Gegenstände angewendet werden, vielmehr sollte man beide wechselseitig zur Geltung bringen. Im Kontrast zu einer bloßen Applikation von Theorie auf Kunst handelte es sich dann um einen engen Austausch zwischen beiden. 1212Der Begriff des theoretischen Objekts, so Bal, “holds a program of correlativism […] between theoretical thought and cultural artefact.” Mieke Bal: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History, Chicago 1999a, S. 48. Entscheidend ist für Bal, dass jede Seite von dieser Wechselbeziehung profitieren kann. Der Grund, weshalb sie die Möglichkeit einer gewinnbringenden Interaktion überhaupt sieht, ist folgender: Für Bal besitzt Kunst per se nicht nur einen ästhetischen, sondern stets auch einen epistemischen Wert. Kunstpraxis und deren Produkte sind ihres Erachtens Formen des Philosophierens mit anschaulichen Mitteln; dezidiert begreift sie „Kunst als Denken“. 1313Vgl. Bal (1999a), S. 5, 20–25, 46; Dies.: Louise Bourgeois’ Spider. The Architecture of Art-Writing, Chicago 2001, S. 4–5; Dies.: »Autotopography. Louise Bourgeois as Builder«, in: Biography, Bd. 25, Nr. 1, Winter 2002b, S. 180–202, hier: S. 187; Dies. (2010), S. 6–9. Ganz in diesem Sinne schreibt sie: “If visual art makes any sense at all beyond the narrow domain of beauty and the affective domain of pleasure, it is because art […] thinks; it is thought […] visual thought, the thought embodied in form.” 1414Bal (1999a), S. 117. (Hervorhebung im Original.) Vgl. auch dies.: »Narrative inside out: Louise Bourgeois‘ Spider as Theoretical Object«, in: Oxford Art Journal, Bd. 22, Nr. 2, 1999b, S. 103–126, hier: S. 104; (2001), S. 5, Anm. 5.

Das epistemische Potenzial von Kunst erschöpft sich für Bal aber nicht darin, theoretische Sachverhalte bloß zu illustrieren bzw. zu visualisieren. Wie Damisch beharrt auch sie darauf, dass kunsthistorische Gegenstände selbst theoretische Effekte hervorrufen können – und zwar keineswegs nur im Umfeld ihrer Entstehung. Die für Bal bedeutsamste Wirkung von Kunst besteht darin, dass sie die Betrachtenden auch dazu bewegen kann, „Theorie zu betreiben.“ 1515Bal (2002a), S. 65. Mit ihren eigenen Mitteln rege sie zu einem kritischen Denken an, lege „der Reflexion und Diskussion Ideen [vor]“ 1616Ebd., S. 319. und helfe dabei, alternative theoretische Gedanken zu formulieren. 1717Vgl. Bal (1999b), S. 113, 124; (2010), S. 6–7. Im Einklang mit Damisch betont auch sie das Vermögen des theoretischen Objekts, existierende Positionen im Feld der Theorie verschieben und neue Gedankengänge eröffnen zu können. Ungleich deutlicher als Damisch verweist Bal allerdings darauf, dass mit dem Begriff des theoretischen Objekts ein liebgewonnenes Konzept der Kunstgeschichte auf dem Spiel steht: nämlich jenes der Intention. So stellt sich die Frage, ob es in der Absicht der Künstlerin oder des Künstlers gelegen haben muss, ein theoretisches Objekt zu produzieren. Was den Denkprozess des Letzteren betrifft, hält Bal unmissverständlich fest: „Art […] has the potential to produce knowledge greater than that of its creator. […] It is a type of knowledge that is constantly on the move, since its fragile articulations can only occur in singular relationship to viewers, users, or readers of a work of art.” 1818Bal (2010), S. 7.

Sind es die Künstler_innen, die ein theoretisches Objekt (vorsätzlich) erzeugen? Oder ist jeder kunsthistorische Gegenstand von sich aus schon ein theoretisches Objekt? Die erste Frage lässt sich einfach beantworten; die zweite bereitet größere Probleme. Folgt man Bal, dann ist die Intention von Künstlerinnen und Künstlern keine notwendige Voraussetzung, damit aus einem Gegenstand ein theoretisches Objekt werden kann. Für die Möglichkeit des Letzteren ist es irrelevant, ob Erstere sich gezielt mit einer Theorie befasst haben oder ob sie in ihren Arbeiten bestimmte theoretische Problemstellungen verfolgten. Es genügt, dass das theoretische Potenzial auf eine (nachvollziehbare und noch nachzuvollziehende) Weise, in dem jeweiligen Gegenstand verkörpert ist. Es kann auch nur als eine Art „ungedachtes Gewusstes“ (Christopher Bollas) in den Werken impliziert oder in deren Struktur oder operativer Logik eingelassen sein. Bal interessiert sich aber nicht sonderlich dafür, wie besagtes ‚Denken‘ im Zuge der Produktion überhaupt erst in die Gegenstände ‚hineingekommen‘ ist.

Bal nähert sich vielmehr vonseiten der Rezeption, ihr geht es um das Geschehen zwischen dem historischen Werk und seinen aktuellen Betrachter_innen. Worauf es ihr ankommt, ist mithin der Umstand, dass das Denken der Kunst in der Analyse, d.h. in einer sachnahen Auseinandersetzung mit den jeweiligen Gegenständen, freigelegt werden muss. Entscheidend dabei: Das Potenzial des theoretischen Objekts kann nur über den Umweg der Gegenwart, also in einer kritischen Retrospektive, realisiert werden. 1919Vgl. Bal (1999a), S. 7; (2002a), S. 232. Das theoretische Objekt, als das der kunsthistorische Gegenstand fungieren kann, wird demzufolge im Vollzug der Analyse erzeugt oder konstruiert; es existiert als eine Möglichkeit, die es in die Tat umzusetzen gilt. „Ein solches Objekt“, schreibt Bal, „‚geschieht‘, wenn es betrachtet wird […] und der normalisierenden Einordnung in die bis dahin vertretenen Theorie widersteht […].“ 2020Bal (2002a), S. 323. (Hervorhebungen im Original.) Kunst lässt sich somit als ein epistemisches Objekt in Anspruch nehmen und kann (bzw. muss) für theoretische Fragestellungen durch eine gezielte Konfrontation mit der Theorie fruchtbar gemacht werden. Wie sich in Bals Studien über Caravaggios Malerei oder Louise Bourgeois’ Skulpturen zeigt, spricht vieles dafür, einen reziproken Dialog zwischen historischen Werken und gegenwärtigen Theorien in Gang zu setzen. Im besten Fall ist der wechselseitige Austausch zugleich wechselseitig erhellend.

Es stellt sich nun die Frage, wie dieses kritische Aufeinandertreffen von historischem Werk und gegenwärtiger Theorie funktionieren könnte. Darauf gibt es selbstredend verschiedene Antworten. Letztere sind im Einzelnen u.a. abhängig von den individuellen Gegenständen, den theoretischen Problemstellungen und den Zielen der Autor_innen. In seinem Buch Das Opake der Malerei unterbreitet Louis Marin einen interessanten Vorschlag, 2121Louis Marin: Das Opake der Malerei. Zur Repräsentation im Quattrocento, Berlin/Zürich 2004 [zuerst Paris 1989]. der hier vor allem wegen seines allgemeinen methodologischen Charakters von Belang ist. Marin bringt Bilder der Renaissance (z.B. Fresken von Luca Signorelli) in Kontakt mit zeitgenössischen semiotischen Theorien und diskutiert, inwiefern Erstere als theoretische Objekte gelten können. Obgleich er gelegentlich argumentiert, als existierten theoretische Objekte „an sich selbst und durch sich selbst“ 2222Ebd., S. 18., bezeichnet er sie andernorts als „das gemeinsame Produkt [einer …] in reziproker Wechselseitigkeit geleisteten Arbeit“ 2323Ebd., S. 20. von Kunstwerk und Theorie. Es ist diese zweite Auffassung, die mir am hilfreichsten scheint. Folgt man Marin in diesem Punkt, dann sind kunsthistorischer Gegenstand und gegenwärtige Theorie so zueinander in Beziehung zu bringen, dass beide „in gegenseitigem Kontakt an der Arbeit“ sein können; beide bearbeiten sich im Sinne einer „Ökonomie reziproker Aktion.“ 2424Ebd., S. 19, 22.

Wie Hubert Damisch und später Mieke Bal öffnet Louis Marin den üblichen theoretischen Einbahnstraßenverkehr zugunsten eines dialogischen Prozesses. Von einer unilateralen instrumentellen Anwendung von Theorie ist man hiermit weit entfernt, und zwar nicht nur, weil der Kunst in diesem Zusammentreffen dieselben Rechte und Möglichkeiten zugestanden werden wie der Theorie. Ein wichtiger Punkt kommt hinzu: Wird Theorie wie ein Werkzeug auf kunsthistorische Gegenstände angewendet, bleibt sie von ihrer Applikation in der Regel unberührt; sie ist nach Gebrauch dieselbe wie zuvor. Ganz anders bei Marin und im Fall des Konzepts des theoretischen Objekts allgemein. Denn im Zuge jener wechselseitig geleisteten Arbeit kommt es zu Verschiebungen auf beiden Seiten. Weder Kunstwerk noch Theorie gehen im Idealfall unverändert aus dieser Begegnung hervor. 2525Vgl. ebd., S. 19–20. Besonders für die Theorie bedeutet dies, dass sie in Bewegung versetzt wird und sich von einem „starren Oberdiskurs“, der die Regeln der Auslegung diktiert, zu einer offenen Praxis kritischer Interaktion wandelt. 2626Vgl. Bal (2002), S. 17, 68–70.

Fazit

Die wenigen Hinweise und Beispiele sollten deutlich gemacht haben, dass der Begriff des theoretischen Objekts keineswegs darauf abzielt, dass es dieses Objekt nur hypothetisch gibt, dass es lediglich in der Theorie existiert oder gar etwas bloß Ausgedachtes ist. Eine seiner Stärken liegt hingegen gerade darin, dass ein theoretisches Objekt in der Regel etwas sehr Konkretes ist (z.B. ein Bildelement oder Motiv, Gemälde oder Fotografien, eine Bildpraxis, künstlerische Strategien o.ä.). 2727Vgl. neben den oben aufgeführten Publikationen auch Marcel Finke: »Tableaus des Vergessens. Temporalität und produktive Krise bei Muybridge und Butler«, in: Sabine Lucia Müller, Anja Schwarz (Hg.): Iterationen. Geschlecht im kulturellen Gedächtnis, Göttingen: Wallstein, 2008, S. 49–72; Ders.: »Aus der Fliegenperspektive. Facetten der Fotografie als theoretisches Objekt«, in: Fotogeschichte, Bd. 33, Nr. 129, September 2013, S. 39–48; Ders.: Prekäre Oberflächen. Zur Materialität des Bildes und des Körpers am Beispiel der künstlerischen Praxis Francis Bacons, Berlin (in Vorbereitung). Spricht man von Letzteren als theoretischen Objekten, dann bedeutet dies zunächst, ihnen eine gewisse Theoriehaftigkeit sowie ein epistemisches Leistungsvermögen zuzugestehen. Wichtig ist hierbei, dass damit nicht allein Aspekte der Selbstreflexivität oder eines allgemeinen ‚Philosophischwerdens der Kunst‘ gemeint sind. Abgehoben wird auf ein wesentlich weiter gefasstes Potenzial kunsthistorischer Gegenstände, und zwar jenes, in theoretischen Zusammenhängen Wirkungen auslösen zu können.

Die Anerkennung ihrer Theoriefähigkeit ist folglich nur ein Schritt auf dem Weg zu einem theoretischen Objekt. Die entscheidende Operation besteht darin, die Gegenstände in einen kritischen Dialog mit der Theorie zu versetzen. So wie man in der Philosophie (historische) Texte und Argumentationen heranziehen kann, um über gegenwärtige theoretische Sachverhalte zu reflektieren, so ist es auch möglich, (historische) Kunst als eine Art Reflexionsmittel heranzuziehen, um über gegenwärtige theoretische Problemstellungen nachzudenken. Hinfällig wird damit die strikte Trennlinie zwischen der Theorie auf der einen Seite und den (damit zu interpretierenden) Gegenständen auf der anderen. Letztere können ihrerseits anschauliche Argumente in theoretische Debatten einbringen und beim Theoretisieren behilflich sein.

In ihrem reziproken Austausch sollten Kunst und Theorie als gleichberechtigte Partner auftreten dürfen. Idealerweise kommt es zu einer Begegnung auf Augenhöhe, in der das übliche Gefälle zugunsten einer egalitären gegenseitigen Bespiegelung überwunden ist. Dieser dialogische Prozess ist aber weder für den kunsthistorischen Gegenstand noch für den theoretischen Diskurs harmlos, weil er als eine wechselseitig aneinander verrichtete Arbeit zu konzipieren ist, die zu Effekten in beiden Bereich führt. Im günstigsten Fall legt die Theorie ein bereits implizites theoretisches Potenzial des jeweiligen Gegenstandes frei und erschließt ihm damit neue Dimensionen; umgekehrt stellt der Gegenstand die Theorie auf die Probe, irritiert oder korrigiert deren Thesen, verlagert ihr Zentrum oder verschiebt ihre Kategorien.

Theoretische Objekte entstehen folglich immer dann, wenn (kunsthistorische) Gegenstände und Theorien im Prozess der Analyse auf eine bestimmte Weise in eine bilaterale Beziehung versetzt werden. Das heißt auch, dass kunsthistorische Gegenstände in gewisser Hinsicht zu theoretischen Objekten gemacht werden müssen. Ihre Eignung muss sich aber aus ihnen selbst begründen lassen, weshalb für das Konzept des theoretischen Objekts eine nahe an den konkreten Artefakten orientierte Auseinandersetzung unumgänglich ist. Hierdurch ergibt sich eine Spannung zwischen der Singularität des jeweiligen Gegenstandes und der Generalität der hinzugezogenen Theorie; 2828Vgl. Xavier Vert: »›Expectation‹ of Art: The History of its Theoretical Bases«, in: Critique d’art, Bd. 39, 2012, S. 2–3. eine Spannung, die nicht unproblematisch ist, die es aber produktiv zu machen gilt. Was ein theoretisches Objekt im Einzelfall ist und was es leisten kann, erweist sich wiederum allein in dessen Inanspruchnahme, d.h. im Vollzug der Analyse bzw. in seiner gemeinsamen reflexiven Arbeit mit der Theorie. Aus diesem Grund sind Überlegungen zum theoretischen Objekt stets auch methodologische Überlegungen.

Bleibt die Frage, ob sich der Begriff des theoretischen Objekts auf eine bestimmte Methode festlegen lässt. Meine Antwort lautet: vermutlich nicht. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass momentan noch keine kanonisierte Version in der Literatur existiert; ein Problem, das früher oder später gelöst werden könnte. Es ist meines Erachtens fraglich, ob eine Methode des theoretischen Objekts generell möglich ist. Eine solche Methode ist unwahrscheinlich, zumindest dann, wenn darunter ein Set systematischer Regeln verstanden wird oder eine vorgegebene Verfahrensweise bzw. ein Programm, das sich schrittweise abarbeiten und zu einem Ende bringen ließe. Denn wie die Inanspruchnahme eines theoretischen Objekts jeweils aussieht, muss sich im Grunde jedes Mal neu zeigen – und zwar in unmittelbarer Abhängigkeit vom individuellen Gegenstand, der jeweiligen Theorie sowie des Problemfeldes, auf dem sich beide begegnen. Es ist darum schwer vorstellbar, dass sich der Umgang mit theoretischen Objekten zu einer klar definierten Methode verfestigen kann. Hierin muss man nun aber kein Manko sehen. Vielmehr bleibt zu vermuten, dass gerade in dieser Offenheit und der Bereitschaft, auf situationsbedingte Konstellationen zu reagieren, einer der Vorzüge der Idee des theoretischen Objekts liegen könnte.

Sollte es keine begründete Hoffnung auf eine kunsthistorische Methode geben, die unter dem Schlagwort ‚Kunst als theoretisches Objekt‘ firmieren kann, dann muss man sich eventuell damit trösten, dass der Begriff immerhin für eine produktive methodologische Haltung steht. Er steht für eine Einstellung gegenüber dem künstlerischen Schaffen und dessen Artefakten, die sich dadurch auszeichnet, dass sie Kunst auch in ihrer epistemischen Wirksamkeit ernst nimmt. Kunst wird hier gewissermaßen zu einem Reflexionsgegenstand in einem doppelten Sinne: So ist sie keineswegs nur ein Objekt, über das man spricht oder von dem man handelt; sie fungiert darüber hinaus auch als ein Gegenstand, mit dem gedacht und durch den Wissen generiert wird. In diesem Sinne gemahnt der Begriff des theoretischen Objekts an die Möglichkeit eines Denkens (mit) der Kunst.

    Fußnoten

  • 1In Betracht zu ziehen wären u.a. auch Giovanni Careri: Bernini. Flights of Love, the Art of Devotion, Chicago 1995;Rosalind E. Krauss: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998; Martina Dobbe: Fotografie als theoretisches Objekt. Bildwissenschaft, Medienästhetik, Kunstgeschichte, München 2007.
  • 2Vgl. Bal, Mieke: Kulturanalyse, Frankfurt a.M. 2002a, S. 17–18, 68, 229, 323.
  • 3Hubert Damisch: Der Ursprung der Perspektive, Berlin/Zürich 2010 [zuerst Paris 1987].
  • 4Damisch (2010), S. 18, 25.
  • 5Damisch (2010), S. 36. An einer früheren Stelle schreibt er demgemäß, es gehe um die Anerkennung einer „Denkarbeit, deren Anlass, Ort und Instrument die Perspektive“ sei, einer Denkarbeit folglich, die sich in den Bildern und daher mit bildlichen Mitteln vollzieht. Ebd., S. 25.
  • 6Damisch (2010), S. 48.
  • 7Ebd.
  • 8Hubert Damisch: »Against the Slope«, in: Log, Nr. 4, Winter 2005, S. 29–48, hier: S. 31. Vgl. auch ders.: »Vorwort: Ausgehend von der Photographie«, in: Krauss (1998), S. 7–13, hier: S. 13, wo er diesen Effekt der Theoriekritik mit deutlichen Worten herausstellt. Das „Eindringen“ eines theoretischen Objekts in ein gegebenes Theoriefeld, heißt es dort, könne „die Karte dieses Feldes so weit umstürzen, daß die Vermessungsarbeit wieder bei Null aufgenommen werden muß.“
  • 9Yve-Alain Bois u.a.: »A Conversation with Hubert Damisch«, in: October, Bd. 85, Sommer 1998, S. 3–17, hier: S. 8. Andernorts bezeichnet er Le Corbusiers La Tourette als ein theoretisches Objekt “that gives pause for thought and opens the way to reflection […] as an object that […] itself secrets theory, or at least directs it, feeds it, informs it – in other words, secretly programs it.” Damisch (2005), S. 30.
  • 10Vgl. zuletzt Mieke Bal: Of What One Cannot Speak. Doris Solcedo’s Political Art, Chicago 2010, S. 7
  • 11Bal (2002), S. 229.
  • 12Der Begriff des theoretischen Objekts, so Bal, “holds a program of correlativism […] between theoretical thought and cultural artefact.” Mieke Bal: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History, Chicago 1999a, S. 48.
  • 13Vgl. Bal (1999a), S. 5, 20–25, 46; Dies.: Louise Bourgeois’ Spider. The Architecture of Art-Writing, Chicago 2001, S. 4–5; Dies.: »Autotopography. Louise Bourgeois as Builder«, in: Biography, Bd. 25, Nr. 1, Winter 2002b, S. 180–202, hier: S. 187; Dies. (2010), S. 6–9.
  • 14Bal (1999a), S. 117. (Hervorhebung im Original.) Vgl. auch dies.: »Narrative inside out: Louise Bourgeois‘ Spider as Theoretical Object«, in: Oxford Art Journal, Bd. 22, Nr. 2, 1999b, S. 103–126, hier: S. 104; (2001), S. 5, Anm. 5.
  • 15Bal (2002a), S. 65.
  • 16Ebd., S. 319.
  • 17Vgl. Bal (1999b), S. 113, 124; (2010), S. 6–7.
  • 18Bal (2010), S. 7.
  • 19Vgl. Bal (1999a), S. 7; (2002a), S. 232.
  • 20Bal (2002a), S. 323. (Hervorhebungen im Original.)
  • 21Louis Marin: Das Opake der Malerei. Zur Repräsentation im Quattrocento, Berlin/Zürich 2004 [zuerst Paris 1989].
  • 22Ebd., S. 18.
  • 23Ebd., S. 20.
  • 24Ebd., S. 19, 22.
  • 25Vgl. ebd., S. 19–20.
  • 26Vgl. Bal (2002), S. 17, 68–70.
  • 27Vgl. neben den oben aufgeführten Publikationen auch Marcel Finke: »Tableaus des Vergessens. Temporalität und produktive Krise bei Muybridge und Butler«, in: Sabine Lucia Müller, Anja Schwarz (Hg.): Iterationen. Geschlecht im kulturellen Gedächtnis, Göttingen: Wallstein, 2008, S. 49–72; Ders.: »Aus der Fliegenperspektive. Facetten der Fotografie als theoretisches Objekt«, in: Fotogeschichte, Bd. 33, Nr. 129, September 2013, S. 39–48; Ders.: Prekäre Oberflächen. Zur Materialität des Bildes und des Körpers am Beispiel der künstlerischen Praxis Francis Bacons, Berlin (in Vorbereitung).
  • 28Vgl. Xavier Vert: »›Expectation‹ of Art: The History of its Theoretical Bases«, in: Critique d’art, Bd. 39, 2012, S. 2–3.
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