Ethnizität im Musikunterricht?

Ausgabe #1
Oktober 2013
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Wie kann die Musikpädagogik mit Ethnizität als einer in der Unterrichtspraxis anzutreffenden Identitätsdimension umgehen? Innerhalb der Interkulturellen Musikpädagogik besteht gegenwärtig die Tendenz, Ethnizitätskonstruktionen zur Beschreibung von Jugendlichen und Jugendmusikkulturen aufgrund ihres essentialisierenden und exkludierenden Charakters zu nivellieren oder zu vermeiden. Die Analyse einiger Gruppendiskussionspassagen mit Jugendlichen zu ihrer Rezeption von arabesk-Musik kann dagegen aufzeigen, dass der Dimension Ethnizität als Orientierungsrahmen ihrer eigenen musikbezogenen Identitäten eine zentrale Bedeutung zukommt. Mit Paul Mecherils Migrationspädagogik lässt sich das Thema Ethnizität im Musikunterricht multiperspektivisch denken.

1. Ethnizität in der ‚Interkulturellen Musikpädagogik‘

In der ‚Interkulturellen Musikpädagogik‘ wird seit einem guten Jahrzehnt versucht, einen „prinzipiell interkulturellen“ Musikunterricht zu konzeptualisieren, anstatt sich wie in den 1990er Jahren auf benachteiligte Jugendliche ‚mit Migrationshintergrund‘ zu fokussieren. 11Ein Beispiel für einen Ansatz der frühen ‚Interkulturellen Musikpädagogik‘ ist Irmgard Merkts „Schnittstellenansatz“. Dieser verfolgt die Idee eines interkulturellen Vergleichs im Musikunterricht, beispielsweise anhand eines türkischen und eines deutschen Volksliedes. Musikdidaktische Ziele sind dabei, eine Begegnung zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ zu initiieren, jede Kultur in ihrer Einzigartigkeit anzuerkennen und eine eurozentrische Perspektive aufzubrechen. Vgl. Irmgard Merkt: „Interkulturelle Musikerziehung“, in: Musik und Unterricht 22 (1993), S. 4–7. Die Idee eines „prinzipiell interkulturellen“ Musikunterrichts geht auf Hans Jünger zurück, vgl. Hans Jünger: „Prinzipiell interkulturell! Plädoyer für eine kulturübergreifenden Musikunterricht“, in: Diskussion Musikpädagogik 17/2003, S. 15–21. Dabei wird an den älteren Ansätzen kritisiert, dass Kultur und damit auch Interkulturalität mit Ethnizität oder Nationalität essentialisierend gleichgesetzt und darauf aufbauend Menschen mit ihrer vermeintlichen Herkunftskultur identifiziert werden. 22Erste Ansätze dieser Ethnisierungskritik liegen beispielsweise mit Hans-Martin Strohs „erweitertem Schnittstellenansatz“ oder Volker Schütz „Transkulturellem Musikunterricht“ vor. Vgl. Wolfgang Martin Stroh: <http://www.interkulturelle-musikerziehung.de/methode.htm> zuletzt aufgerufen am 20.02.2013; Volker Schütz: „Transkulturelle Musikerziehung“, in: Martina Claus-Bachmann (Hg.): Musik transkulturell erfahren. Anregungen für den schulischen Umgang mit Fremdkulturen, Bamberg 1998, S. 1–6. Dorothee Barth führt beispielsweise in Anlehnung an den Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz ein bedeutungsorientiertes Kulturverständnis in die Diskussion ein und fordert, die zentrale Bezugsgröße von Jugendlichen primär in Jugendkulturen zu sehen, anstatt in ethnischen oder nationalen (Mehrfach-)Zugehörigkeiten. Sie zieht die Konsequenz, dass in einem interkulturell sensiblen Musikunterricht ethnische und nationale Kategorien wie ‚Deutscher‘ oder ‚türkische Musik‘ besser vermieden oder, wenn sie auftreten, dekonstruiert werden sollten. 33Dorothee Barth: Ethnie, Bildung oder Bedeutung? Zum Kulturbegriff in der interkulturell orientierten Musikpädagogik, Augsburg 2008, S. 210f. Thomas Ott sieht im kulturalisierenden Reden generell die Gefahr einer projektiven Homogenisierung und fordert MusikpädagogInnen auf, im „wechselseitigen Zuerkennen von Eigensinn“ eine konsequente Individuierungsperspektive einzunehmen. 44Thomas Ott: „Heterogenität und Dialog. Lernen am und vom Anderen als wechselseitiges Zuerkennen von Eigensinn“, in: Diskussion Musikpädagogik 55 (2012), S. 4–10.

In dieser Kritik knüpft die Musikpädagogik an einen seit Längerem bestehenden Disput zwischen Anerkennungs- und Dekonstruktionsansätzen innerhalb der Allgemeinen Pädagogik an. Auch hier dominierte zunächst eine Pädagogik der Anerkennung von Jugendlichen ‚mit Migrationshintergrund‘, indem strukturelle Ungleichheiten im Bildungssystem, die Beschränkung von Bildungsinhalten auf die nationale Mehrheitskultur und die damit verbundene Exklusion mehrnationaler Identitäten überwunden werden sollten. 55Vgl. Georg Auernheimer: Einführung in die Interkulturelle Pädagogik, Darmstadt 2007. Die Kritik an diesem Paradigma entzündete sich an der Reproduktion einer alteritären Struktur, die solch einem Engagement für die „Migrationsanderen“ durch die „Nicht-Migrationsanderen“ zugrunde liegt. 66Die Begriffe „Migrationsandere“ und „Nichtmigrationsandere“ gehen auf Paul Mecheril zurück; vgl. Paul Mecheril, Maria do Mar Castro Varela, Inci Dirim et al.: Migrationspädagogik, Weinheim, Basel 2010, S. 14 und 17. Zu Recht ist nämlich zu befürchten, dass es für Kinder und Jugendliche ‚mit Migrationshintergrund‘ das größte Risiko darstellt, als solche essentialisiert und überhaupt erst zu Anderen gemacht zu werden. 77Beispielsweise weist Franz Hamburger auf den unerwünschten Kreislauf der stereotype-threat-theory hin: Die Jugendlichen werden als Angehörige der Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ als anders und implizit als hilfebedürftig wahrgenommen und behandelt. Eine negative Leistungserwartung einer nichtmigrationsanderen Lehrperson kann bei Schülern Angst befördern, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten schwächen und dazu führen, dass kognitive Energien auf die Bewältigung der Angst konzentriert werden. Negative Leistungserwartungen können somit zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen führen. Franz Hamburger: Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wandel sozialpädagogischer Konzepte, Weinheim, Basel 2012, S. 191–193. Hans-Olaf Radtke unterstellt der interkulturellen Bildung – namentlich Georg Auernheimer – gar, dass sie ethnische und nationale Zugehörigkeitsordnungen überhaupt erst herstelle und somit institutionellen Diskriminierungsstrukturen den ideologischen Boden bereite. Auernheimer erwidert in seiner Replik auf Radtkes dekonstruktiven Ansatz, dass dieser blind sei gegenüber der Bedeutung, die ethnische und nationale Bezüge für die Identitätskonstruktionen der Jugendlichen haben können. Zudem bleibe Radtkes Modell praktisch folgenlos, wenn man Diskriminierungsstrukturen angehen möchte und münde in einer handlungshemmenden ‚political correctness‘. 88Zur Auseinandersetzung zwischen Georg Auernheimer und Hans-Olaf-Radtke vgl. ebd., S. 106–108.

Indem Musikdidaktiker nun fordern, ethnische und nationale Kategorien im Musikunterricht konsequent zu vermeiden oder zu problematisieren, vertreten sie nach einer einseitigen Orientierung an einem Anerkennungsansatz in den 90er Jahren nun eine einseitig dekonstruktive Perspektive. Dabei gerät zweierlei aus dem Blick:

Erstens zeigt die zeitgenössische Stereotypenforschung auf, dass nationale Stereotype einen Teil des sozial geteilten Wissens einer kollektiven Gruppe darstellen und auf einer vorbewussten Ebene wirken. 99Innerhalb der Sozialpsychologie und der Imagologie werden nach der ‚kognitiven Wende‘ Stereotype wertneutral als „kognitive Prozesse der Unterscheidung und Verallgemeinerung“ verstanden und von Vorurteilen als „affektive Prozesse der Abwertung“ unterschieden. Dass Stereotype einen unhintergehbaren Wahrheitskern haben, ist allgemeiner Konsens, aber bisher von wenig Forschungsinteresse. Vielmehr wird nach den Funktionen gefragt, die sie für Kommunikationsprozesse erfüllen. Vgl. Ruth Florack: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007, S. 33–39. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen zwar ohne bestimmte Inhalte, nicht aber ohne den Prozess einer nationalstereotypen Informationsverarbeitung auskommen können. Des Weiteren werden nationale Stereotype in ihrer Funktionsweise nicht nur negativ bewertet: Sie ermöglichen überhaupt erst, die Wahrnehmung der komplexen Umwelt, die Konstruktion der eigenen sozialen Identität und Anschlussmöglichkeiten der Kommunikation vorzustrukturieren. Vor diesem Hintergrund ist Vorsicht geboten, von Lehrenden und Lernenden einen unrealistischen Verhaltenskodex zu fordern, der letztendlich noch mehr davor abschrecken dürfte, sich dem Thema Musikunterricht und Migration zu widmen.

Zweitens weiß die Musikpädagogik bislang sehr wenig über musikbezogene Narrative von Jugendlichen, für die transnationale Bezüge eine wichtige identitätsstiftende Rolle spielen. Im Folgenden werden deswegen Beispiele aus einer Gruppendiskussion mit Filiz, Melek, Sema und Fatih 1010Es handelt sich hierbei um Pseudonyme. – sie besuchen die zehnte Schulklasse eines Gymnasiums in Berlin – vorgestellt und analysiert. Die Gruppendiskussions- und Datenanalyse-Ausschnitte wurden aus einem laufenden Dissertationsprojekt ausgewählt. Darin wird der Frage nachgegangen, welches konjunktive Wissen der arabesk 1111Arabesk bezeichnet einen Musikstil beziehungsweise eine Musikästhetik, die in den 1960er Jahren im Zuge der massenhaften Binnenmigrationsbewegungen in der Türkei aufkam. Kennzeichnend sind insbesondere ihre resignativen oder fatalistischen Texte, eine reichhaltige Ornamentik der Stimme, synthetische Streicherchöre, ein südosttürkischer Dialekt und eine sehr freie Synthese von Volksmusik-, Kunstmusik-, sowie europäischen und arabischen Popmusikelementen. Charakteristische Vertreter dieser Ästhetik sind Orhan Gencebay – dieser gilt als Pionier dieses Stils – Ibrahim Talises, Ceylan, Ferdi Tayfur oder Müslüm Gürses. Sie stammen überwiegend aus südöstlichen Provinzen der Türkei, wie Urfa oder Diyabakır, in denen es einen hohen arabischsprechenden Bevölkerungsanteil gibt. Arabesk gilt seinen Kritikern als Ausdruck einer sich seit der Regierung Turgut Özals entwickelnden islamischen Gegenreaktion (irtica) der ländlichen und religiös orientierten Bevölkerung und somit als genuin nicht ‚türkisch‘. Vgl. Martin Stokes: The Arabesk Debate. Music and Musicians in Modern Turkey, Oxford 1992, S. 89–114.-Rezeption von deutsch-türkischen Jugendlichen, ein zumindest in Berlin relativ verbreitetes Phänomen, zugrunde liegt. Konjunktives Wissen meint dabei mit dem Soziologen Ralf Bohnsack einen handlungsleitenden „Orientierungsrahmen“, der den Interaktionen innerhalb eines bestimmten Milieus implizit zugrunde liegt. Das Ziel eines qualitativen bzw. rekonstruktiven Forschungsansatzes ist demnach, „ein den Erforschten bekanntes, von ihnen aber selbst nicht expliziertes handlungsleitendes (Regel-)Wissen (abduktiv) zur Explikation zu bringen.“ 1212Ralf Bohnsack: „Typenbildung, Generalisierung und komparative Analyse. Grundprinzipien der dokumentarischen Methode“, in: Ders., Iris Nentwig-Gesemann, Arnd-Michael Nohl (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Forschung, Wiesbaden 2007, S. 225–253, hier S. 227. Um dieses Ziel zu erreichen, werden zunächst Gruppendiskussionen durchgeführt. Anschließend werden diese mit Hilfe der dokumentarischen Methode daraufhin befragt, inwieweit die DiskussionsteilnehmerInnen bestimmte kollektive Muster über die Form ihres Erzählens und ihrer Interaktion performativ herstellen. Mit diesem Ansatz möchte Bohnsack zweierlei vermeiden: einerseits lediglich die Aussagen der Interviewten deskriptiv wiederzugeben und andererseits ihnen eine objektivistische Interpretation von außen, ohne plausible Nachweise am Interviewmaterial, zu unterstellen.

2. Arabesk-Rezeptionsmuster von Jugendlichen in einem Gymnasium in Berlin

Filiz: Und das ist auch, ich finde auch bei der türkischen Musik, wenn man das versucht zu singen, das ist auch voll schwer, also bei den englischen Liedern, da gibt es manches in einem Ton und so, also bei den türkischen das ist schon ein bisschen anspruchsvoller, das merkt man auch, deshalb, also, weil, ich glaube der Stil wird auch arabesk genannt, oder?

Melek: Ja

Filiz: Genau, der Stil wird arabesk genannt und, also wenn man so was gleich hört, dann staunen immer gleich alle, weil so was ist wirklich besonders, so singen zu können

An dieser Stelle, die exemplarisch für andere Interviewpassagen steht, taucht das Motiv auf, arabesk als „türkische“ Musik vor der pauschalen Folie „deutscher“, „englischer“ oder „europäischer“ Musik distinktiv abzusetzen. Dabei betonen die Jugendlichen den höheren Anspruch, die größere stimmliche Virtuosität, in anderen Interviewpassagen auch den authentischeren Ausdruck des Gefühls, den tieferen Hintergrund an persönlich gemachten Erfahrungen in der Musik und die stärkere Traditionsanbindung. Die westliche Musik, überwiegend mit Popmusik assoziiert, habe diese anspruchsvolle, authentische und von zeitlichen Veränderungen unabhängige Qualität nicht. Diese pauschalisierende Weise der Distinktion stellt eine Umkehrung gegenüber den defizitären und vereinnahmenden Fremdzuschreibungen dar, die sie in Deutschland immer wieder in ihrem Alltag erfahren. 1313Filiz: Und man hat auch immer dieses Gefühl, wenn man jetzt auf eine neue Schule kommt oder so, neue Lehrer alles neu, dann haben Ausländer oder Türken (kurzes Lachen), Türken immer das Gefühl, die müssten sich zusätzlich rechtfertigen, damit man nicht gleich dieses Vorurteil hat, Ausländer, also Türke, Ausländer heißt, ist nicht so intelligent, wie ein anderer Deutscher vielleicht, ich habe immer das Gefühl, weil ich ja besonders mit Kopftuch bin, dass man gleich denkt, ja wegen dem Migrationshintergrund, die kann bestimmt nicht viel oder so, und man muss sich zusätzlich immer beweisen, und schon das nervt einen eigentlich langsam

Int.:  Und türkü 1414Ein auffälliges Phänomen in dieser Gruppendiskussion ist, dass die vier Jugendlichen die Begriffe türkü und arabesk gleichsetzen, wobei diese Begriffe in der Literatur unterschiedliche Phänomene bezeichnen und in anderen ideologischen Kontexten einander gegenübergestellt werden. Für sie ist türkü der umgangssprachliche Begriff für den Musikstil, den sie hören, während arabesk das Fachwort dafür darstellt. Diesem sehr interessanten Phänomen kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden, in dieser Interviewpassage sind aber türkü und arabesk synonym zu verstehen. Bei der Frage des Interviewers handelt es sich somit um eine immanente Frage. meint das, also jetzt zum Beispiel Murat Boz Özledim, ist das auch

Melek: └Kein türkü┘ 1515Die Zeichen „└“ und „┘“ signalisieren den Beginn und das Ende von Überlappungen in der Gruppendiskussion. Dabei wird der Beginn der Überlappung in Bezug auf die vorangegangene Transkriptzeile durch Einzüge markiert.

Sema:             └Nee┘

Fatih:                 └Nein, nein┘

Filiz:                   └Nein┘ das ist zum Beispiel, das ist mehr an den europäischen Stilangepasst, das merkt man auch also

Sema:                            └Ja┘

Fatih:                             └das ist Pop┘

Melek:                                                                     └mhm (bejahend)┘

Filiz: Deshalb ist es ja so, also, ja das geht so eher in Poprichtung, das hören zwar jetzt auch Jugendliche, aber das ist nicht so ein hoher Anspruch wie die türküler

Ein weiteres Orientierungsmuster spielt für die Jugendlichen in der Rezeption des arabesk eine wichtige Rolle: der Widerstand gegenüber einer europäischen Vereinnahmung. Der Song Özledim von Murat Boz ist zu angepasst an den „europäischen Stil“ und erfüllt somit nicht so einen hohen Anspruch wie türkü beziehungsweise arabesk. Der arabesk-Stil und das Hören von arabesk tragen für sie dabei auch ein widerständiges Moment in Bezug auf die Assimilationsforderungen in Deutschland in sich. Über dieses Orientierungsmotiv der Nicht-Assimilation gibt es eine Verbindung zwischen Aussagen zum arabesk, zu Erfahrungen im Migrationkontext und auch zur Identität der Türkei:

Filiz: Aber das ist halt das Problem, dass jetzt die Türkei versucht, sich immer mehr an das Europäische anzugleichen, von allen möglichen Seiten, von der Musik her, von der Kultur her, es wird jetzt auch Weihnachten immer gefeiert (Lachen) in der Türkei {…} 1616Das Zeichen {…} bedeutet, dass an dieser Stelle ein kurzer Gesprächsausschnitt aus dem Transkript ausgelassen wurde., also man sieht auch immer in türkischen Serien, da steht auch immer ein Weihnachtsbaum und so da

Fatih: Dass es ein Weihnachtsbaum ist, steht aber nicht für Weihnachten da,
sondern für Sylvester

Melek:        └Sylvester┘ Aber das ist doch ohne Sinn

Sema: Ja

Melek: Warum ziehen die so Weihnachtsmannmützen und so an?

Filiz:                                                                  └Aber Sylvester┘ gab es im osmanischen Reich auch nicht, jetzt wird auch von allen Dings Sylvester gefeiert

Melek: Das ist ja nicht mehr eigentlich das Jahr von den Osmanen, und von richtig, das ist, wir haben ja, also die Osmanen haben ja ihr anderes Jahr

{…}

Fatih: Aber wenn es überall auf der Welt so ist, was sollen wir machen?

Melek: Ja, eben, die passen sich an

Fatih:                  └Und dann, dann,┘ ja aber muss doch

{…}

Sema:                                                       └Aber nicht zu viel┘ anpassen

Filiz: Ja

Sema: Man verliert doch so Stück für Stück einfach die Kultur und so was, ich meine, es gibt so viele Leute, es gibt so viele schön Volkstänze in der Türkei, die man auch auf Hochzeiten tanzt, und es gibt einfach so viele, die können das einfach nicht, und stattdessen gehen die auf Diskos oder so und tanzen da, ich meine so, das ist einfach nur ein Beispiel dafür, dass, wenn die Türkei in die EU eintritt, dass einfach alles anders sein wird.

Auch in der Diskussion um die Identität der Türkei ist für die Jugendlichen die Frage zentral, wie viel Anpassung an Europa in Ordnung ist, ohne dabei die „Kultur“ zu verlieren. Die Türkei ist dabei wie ein externer kostbarer Schatz, der bewahrt werden muss. Der Kemalismus wird an einer anderen Stelle der Diskussion von den vier Schülern und Schülerinnen sehr kritisch gesehen: Zwar wurde für sie die Republik durch Atatürk modernisiert, aber gleichzeitig wurden zentrale Seiten nämlich die osmanische Tradition („wir“), die religiöse Seite und die kulturelle Nähe zum Nahen Osten im Sinne einer „inneren Kolonialisierung“ 1717Bernd Nicolai: „Modernization in Europe’s Shadow. Kemalist Turkey as Seen Through Photography and Architecture“, in: Katja Eydel (Hg.): Model ve Sembol. Die Erfindung der Türkei. Ein Fotoprojekt über die visuelle Repräsentation der Staatsgründung und die Modernisierung der Türkei nach 1923, New York/Berlin 2006, S. 81–87, hier S. 82. gewaltsam unterdrückt. Der Westen der Türkei gilt demgegenüber als zu angepasst. In Bezug auf die Identität der Türkei nehmen sie dabei eine konservative Position im Sinne einer türkisch-islamischen Synthese ein. Auch das musikbezogene Verhalten in der Türkei wird in dem Dualismus Bewahrung einer türkisch-islamischen beziehungsweise osmanischen Tradition gegenüber einer Anpassung an Europa bewertet.

3. Schlussfolgerung für das Themenfeld Musikpädagogik und Migration

Vor dem Hintergrund des hier herausgearbeiteten konjunktiven Wissens in der arabesk-Rezeption der Jugendlichen sind die gegenwärtigen Positionen innerhalb der „Interkulturellen Musikpädagogik“ zum Thema Migration und Musikunterricht problematisch. Zu fragen ist, inwieweit eine Dekonstruktion von ethnischen und nationalen Selbstrepräsentationen der Jugendlichen im Musikunterricht tatsächlich Sinn macht. Das Umkehrungsmotiv der Jugendlichen verdeutlicht vielmehr Folgendes: Eine Anerkennung national oder ethnisch konstruierter Identitätsanteile scheint für sie in Deutschland nicht ausreichend erfahrbar zu sein, insbesondere deswegen nicht, weil sie in das ideologische Raster ‚westliche‘ versus ‚muslimische Welt‘ fallen. Das Problematisieren oder gar Vermeiden von national oder ethnisch orientierten Identitätskonstruktionen wird den Bedürfnissen, die für die Jugendlichen mit ihren migrationspezifischen Musikinteressen einhergehen, somit nur bedingt gerecht.

Einen Ausweg aus der im ersten Teil aufgezeigten Aporie innerhalb der musikdidaktischen Diskussion könnte die Migrationspädagogik des Allgemeinpädagogen Paul Mecheril weisen. Mecheril konstatiert, dass beide Pole – auf der einen Seite die notwendige Anerkennung von „ethno-natio-kulturellen“ Mehrfachzugehörigkeiten, auf der anderen Seite die Dekonstruktion der diesem Engagement zugrundeliegenden Zugehörigkeitsordnung „Migrationsandere“ versus „Nicht-Migrationsandere“ – notwendig seien, zugleich aber in einer unaufhebbaren Spannung zueinander stehen. Er resümiert, dass in Bezug auf Migration und Bildung letztendlich paradoxe Handlungsstrategien verfolgt werden müssen. Danach seien professionelle Handlungen stets danach zu befragen, inwiefern sie einerseits zur Ausschließung der Anderen und bzw. oder zu ihrer Herstellung beitragen. 1818Mecheril, Castro Varela, Dirim (u.a.): Migrationspädagogik (wie Anm. 6), S. 179–191.

    Fußnoten

  • 1Ein Beispiel für einen Ansatz der frühen ‚Interkulturellen Musikpädagogik‘ ist Irmgard Merkts „Schnittstellenansatz“. Dieser verfolgt die Idee eines interkulturellen Vergleichs im Musikunterricht, beispielsweise anhand eines türkischen und eines deutschen Volksliedes. Musikdidaktische Ziele sind dabei, eine Begegnung zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ zu initiieren, jede Kultur in ihrer Einzigartigkeit anzuerkennen und eine eurozentrische Perspektive aufzubrechen. Vgl. Irmgard Merkt: „Interkulturelle Musikerziehung“, in: Musik und Unterricht 22 (1993), S. 4–7. Die Idee eines „prinzipiell interkulturellen“ Musikunterrichts geht auf Hans Jünger zurück, vgl. Hans Jünger: „Prinzipiell interkulturell! Plädoyer für eine kulturübergreifenden Musikunterricht“, in: Diskussion Musikpädagogik 17/2003, S. 15–21.
  • 2Erste Ansätze dieser Ethnisierungskritik liegen beispielsweise mit Hans-Martin Strohs „erweitertem Schnittstellenansatz“ oder Volker Schütz „Transkulturellem Musikunterricht“ vor. Vgl. Wolfgang Martin Stroh: <http://www.interkulturelle-musikerziehung.de/methode.htm> zuletzt aufgerufen am 20.02.2013; Volker Schütz: „Transkulturelle Musikerziehung“, in: Martina Claus-Bachmann (Hg.): Musik transkulturell erfahren. Anregungen für den schulischen Umgang mit Fremdkulturen, Bamberg 1998, S. 1–6.
  • 3Dorothee Barth: Ethnie, Bildung oder Bedeutung? Zum Kulturbegriff in der interkulturell orientierten Musikpädagogik, Augsburg 2008, S. 210f.
  • 4Thomas Ott: „Heterogenität und Dialog. Lernen am und vom Anderen als wechselseitiges Zuerkennen von Eigensinn“, in: Diskussion Musikpädagogik 55 (2012), S. 4–10.
  • 5Vgl. Georg Auernheimer: Einführung in die Interkulturelle Pädagogik, Darmstadt 2007.
  • 6Die Begriffe „Migrationsandere“ und „Nichtmigrationsandere“ gehen auf Paul Mecheril zurück; vgl. Paul Mecheril, Maria do Mar Castro Varela, Inci Dirim et al.: Migrationspädagogik, Weinheim, Basel 2010, S. 14 und 17.
  • 7Beispielsweise weist Franz Hamburger auf den unerwünschten Kreislauf der stereotype-threat-theory hin: Die Jugendlichen werden als Angehörige der Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ als anders und implizit als hilfebedürftig wahrgenommen und behandelt. Eine negative Leistungserwartung einer nichtmigrationsanderen Lehrperson kann bei Schülern Angst befördern, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten schwächen und dazu führen, dass kognitive Energien auf die Bewältigung der Angst konzentriert werden. Negative Leistungserwartungen können somit zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen führen. Franz Hamburger: Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wandel sozialpädagogischer Konzepte, Weinheim, Basel 2012, S. 191–193.
  • 8Zur Auseinandersetzung zwischen Georg Auernheimer und Hans-Olaf-Radtke vgl. ebd., S. 106–108.
  • 9Innerhalb der Sozialpsychologie und der Imagologie werden nach der ‚kognitiven Wende‘ Stereotype wertneutral als „kognitive Prozesse der Unterscheidung und Verallgemeinerung“ verstanden und von Vorurteilen als „affektive Prozesse der Abwertung“ unterschieden. Dass Stereotype einen unhintergehbaren Wahrheitskern haben, ist allgemeiner Konsens, aber bisher von wenig Forschungsinteresse. Vielmehr wird nach den Funktionen gefragt, die sie für Kommunikationsprozesse erfüllen. Vgl. Ruth Florack: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007, S. 33–39.
  • 10Es handelt sich hierbei um Pseudonyme.
  • 11Arabesk bezeichnet einen Musikstil beziehungsweise eine Musikästhetik, die in den 1960er Jahren im Zuge der massenhaften Binnenmigrationsbewegungen in der Türkei aufkam. Kennzeichnend sind insbesondere ihre resignativen oder fatalistischen Texte, eine reichhaltige Ornamentik der Stimme, synthetische Streicherchöre, ein südosttürkischer Dialekt und eine sehr freie Synthese von Volksmusik-, Kunstmusik-, sowie europäischen und arabischen Popmusikelementen. Charakteristische Vertreter dieser Ästhetik sind Orhan Gencebay – dieser gilt als Pionier dieses Stils – Ibrahim Talises, Ceylan, Ferdi Tayfur oder Müslüm Gürses. Sie stammen überwiegend aus südöstlichen Provinzen der Türkei, wie Urfa oder Diyabakır, in denen es einen hohen arabischsprechenden Bevölkerungsanteil gibt. Arabesk gilt seinen Kritikern als Ausdruck einer sich seit der Regierung Turgut Özals entwickelnden islamischen Gegenreaktion (irtica) der ländlichen und religiös orientierten Bevölkerung und somit als genuin nicht ‚türkisch‘. Vgl. Martin Stokes: The Arabesk Debate. Music and Musicians in Modern Turkey, Oxford 1992, S. 89–114.
  • 12Ralf Bohnsack: „Typenbildung, Generalisierung und komparative Analyse. Grundprinzipien der dokumentarischen Methode“, in: Ders., Iris Nentwig-Gesemann, Arnd-Michael Nohl (Hg.): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Forschung, Wiesbaden 2007, S. 225–253, hier S. 227.
  • 13Filiz: Und man hat auch immer dieses Gefühl, wenn man jetzt auf eine neue Schule kommt oder so, neue Lehrer alles neu, dann haben Ausländer oder Türken (kurzes Lachen), Türken immer das Gefühl, die müssten sich zusätzlich rechtfertigen, damit man nicht gleich dieses Vorurteil hat, Ausländer, also Türke, Ausländer heißt, ist nicht so intelligent, wie ein anderer Deutscher vielleicht, ich habe immer das Gefühl, weil ich ja besonders mit Kopftuch bin, dass man gleich denkt, ja wegen dem Migrationshintergrund, die kann bestimmt nicht viel oder so, und man muss sich zusätzlich immer beweisen, und schon das nervt einen eigentlich langsam
  • 14Ein auffälliges Phänomen in dieser Gruppendiskussion ist, dass die vier Jugendlichen die Begriffe türkü und arabesk gleichsetzen, wobei diese Begriffe in der Literatur unterschiedliche Phänomene bezeichnen und in anderen ideologischen Kontexten einander gegenübergestellt werden. Für sie ist türkü der umgangssprachliche Begriff für den Musikstil, den sie hören, während arabesk das Fachwort dafür darstellt. Diesem sehr interessanten Phänomen kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden, in dieser Interviewpassage sind aber türkü und arabesk synonym zu verstehen. Bei der Frage des Interviewers handelt es sich somit um eine immanente Frage.
  • 15Die Zeichen „└“ und „┘“ signalisieren den Beginn und das Ende von Überlappungen in der Gruppendiskussion. Dabei wird der Beginn der Überlappung in Bezug auf die vorangegangene Transkriptzeile durch Einzüge markiert.
  • 16Das Zeichen {…} bedeutet, dass an dieser Stelle ein kurzer Gesprächsausschnitt aus dem Transkript ausgelassen wurde.
  • 17Bernd Nicolai: „Modernization in Europe’s Shadow. Kemalist Turkey as Seen Through Photography and Architecture“, in: Katja Eydel (Hg.): Model ve Sembol. Die Erfindung der Türkei. Ein Fotoprojekt über die visuelle Repräsentation der Staatsgründung und die Modernisierung der Türkei nach 1923, New York/Berlin 2006, S. 81–87, hier S. 82.
  • 18Mecheril, Castro Varela, Dirim (u.a.): Migrationspädagogik (wie Anm. 6), S. 179–191.
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