„It’s a sculpture, is a picture, makes a picture“ – Die bildkonstituierenden Elemente von Jean Tinguelys „Homage to New York“ (1960) und deren Modifikation durch fotografische Bildgebungsverfahren

Ausgabe #5
Oktober 2016
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Mittels fotografischer Aufnahmen wurde Jean Tinguelys 1960 im Skulpturengarten des Museum of Modern Art, New York einmalig vollzogene Zerstörungsaktion Homage to New York dokumentiert, so dass sich das ephemere Ereignis der Vergänglichkeit entzog. Die Bilder von Tinguelys Homage to New York halten jedoch nicht allein die Zerstörungsaktion für die Nachwelt fest, sondern das fotografische Bildgebungsverfahren kehrt überdies die Bildhaftigkeit der Installation hervor. Bereits in der Skulptur sind bildkonstituierende Elemente angelegt, die in den Schwarz-Weiß-Fotografien der Aktion verstärkt hervortreten. Die mit der Überführung vom Dreidimensionalen ins Zweidimensionale einhergehenden Modifikationen werden anhand eines der ersten fotografisch dokumentierten Kunst-Ereignisse untersucht.

 

Am 17. März 1960 realisierte Jean Tinguely (1925–1991) auf Vermittlung von Peter Selz, dem damaligen Kurator für Malerei und Skulptur des Museum of Modern Art (MoMA) New York, eine Zerstörungsaktion im dortigen Skulpturengarten. Im Rahmen dieser Aktion wurde eine Skulptur in Betrieb genommen, die aus unterschiedlichen Materialien zusammengesetzt und mit beweglichen Mechanismen ausgestattet war. Inspiriert wurde Tinguely von der Millionen-Metropole New York, der er die Aktion Homage to New York (HTNY) widmete. Der Ingenieur Billy Klüver (1927–2004), ein damals an den Bell Laboratories in New Jersey angestellter Wissenschaftler, unterstützte den Künstler bei den Vorbereitungen der Zerstörungsaktion. 11Billy Klüver lernte Robert Rauschenberg während der Arbeiten an der Homage to New York kennen. 1966 gründeten beide E.A.T. (Experiments in Art and Technology). Darüber hinaus entwickelten sie zahlreiche technologische Gemeinschaftsarbeiten: Oracle (1962–1965), Soundings (1968), Solstice (1968), Mud Muse (1968–1971). Vgl. Ausst. Kat. Robert Rauschenberg – Jean Tinguely. Collaborations, Museum Tinguely, Basel (3. Oktober 2009–17. Januar 2010), Bielefeld 2009, S. 206.  Zudem hatte Tinguely weitere Künstler gebeten, sich an der Aktion zu beteiligen und der Installation plastische Elemente hinzuzufügen. Letztlich kam allein Robert Rauschenberg (1925–2008) diesem Wunsch nach und fertige den Money Thrower for Tinguely’s H.T.N.Y., eine Münzen spuckende Metallbox, an. 22Vgl. Müller-Alsbach, Anja/Stahlhut, Heinz: „,Dont worry. We’re real artists.‘ Die Zusammenarbeit zwischen Jean Tinguely und Robert Rauschenberg“, in:. Ausst. Kat. Robert Rauschenberg – Jean Tinguely. Collaborations 2009, S. 16, 27.  Das Objekt wurde in Tinguelys Konstruktion integriert, die überdies ein Klavier, 80 Fahrradräder, verschiedenste Motoren, ein Gokart, Uhren, eine Zeichenmaschine aus der Reihe von Tinguelys Méta-Matics 331955 entwickelt Jean Tinguely erstmals seine Zeichenmaschinen, die sogenannten Méta-Matics. Dabei handelt es sich um mechanische Konstruktionen, die eine Halterung für einen Stift sowie ein Klemmbrett aufweisen, in das Papier eingelegt wird. Die Betrachter_innen werden dazu aufgefordert, einen Stift auszuwählen, in die Maschine einzusetzen und die Maschine per Fußpedal, Handschalter oder Kurbel zu aktivieren. Fortan gleitet der Stift über das Papier und hinterlässt dort Spuren, die an eine abstrakte Zeichnung erinnern. Die Rezipierenden entscheiden, wann die Zeichnung fertiggestellt ist, indem sie die Aktivierung der Maschine beenden. Laut dem von Christina Bischofsberger erarbeiteten Werkverzeichnis der Skulpturen Jean Tinguelys baute der Künstler zwischen 1959 und 1960 fünfzehn Méta-Matics. Zusätzlich ist eine derartige Malmaschine im Jahr 1961 entstanden. Vgl. Gasser, Corinne/Pardey, Andres/Suter, Rudolf: „Zu den Skulpturen in der Sammlung des Museum Tinguely“, in: Museum Tinguely Basel. Die Sammlung, Heidelberg/Berlin 2012, S. 28–187, hier S. 52. , Blechdosen, Holz- und Gummiräder sowie zahlreiche weitere Fundstücke umfasste (Abb. 1 + 2). 44Billy Klüver, der Jean Tinguely bei der Konstruktion der Maschine im Museum of Modern Art zur Hand ging, hielt die Zusammenarbeit mit Jean Tinguely und den Verlauf der HTNY in seinem Bericht der Zerstörungsaktion fest: Klüver, Billy: „The Garden Party“, in: Ausst. Kat. Jean Tinguely. A Magic stronger than Death, Palazzo Grassi, Venedig (19. Juli–18. Oktober 1987)/Promotrice delle Belle Arti Parco del Valentino di Torino (19. November 1987–31. Januar 1988), Turin, Mailand 1987, S. 74–77; Klüver, Billy: „The Garden Party“, in: Hultén, Pontus: Jean Tinguely. Méta, Berlin 1972, S. 130, 136–137, 143; The Garden Party by Billy Klüver, o.J., in: Calvin Tomkins Papers, IV.C.20. The Museum of Modern Art Archives, New York.  In die Konstruktion wurden zudem Brennstoffe und Feuerwerkskörper integriert, die der Zerstörung der Skulptur dienten. Der Künstler hatte die Assemblage weiß angestrichen und damit die Diversität der einzelnen objets trouvés nivelliert. 55The Garden Party by Billy Klüver, o.J., S. 5, in: Tomkins, IV.C.20. MoMA Archives, NY.

Abb. 1 Jean Tinguely, Homage to New York, 1960 Museum of Modern Art, New York Photo: David Gahr © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Abb. 1
Jean Tinguely: Homage to New York, 1960.
Museum of Modern Art, New York.
Photo: David Gahr.
© VG Bild-Kunst, Bonn 2016.
Abb. 2 Jean Tinguely, Homage to New York, 1960 Museum of Modern Art, New York Screenshot, Video: Robert Breer © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Abb. 2
Jean Tinguely: Homage to New York, 1960.
Museum of Modern Art, New York.
Screenshot, Video: Robert Breer.
© VG Bild-Kunst, Bonn 2016.

Nach Hereinbrechen der Dunkelheit begann die 30-minütige Zerstörungsaktion. 200 bis 250 Personen verfolgten das Geschehen; neben Robert Rauschenberg und Jasper Johns (*1930) waren weitere Künstler, u.a. Philip Guston (1913–1980), John Cage (1912–1992) und Barnett Newman (1905–1970), zugegen. 66Vgl. Jouffroy, Alain: „Jean Tinguely“, in: L’ŒIL, 144 (1966), S. 34–43, hier S. 37.  Zunächst wurde das Event mit dem Klavierspiel des eingebauten Pianos eingeleitet, an dem sich nach wenigen Minuten kleine Flammen entlang züngelten und die Destruktion der gesamten Maschine einleiteten. 77Vgl. The Garden Party by Billy Klüver, o.J., S. 5, in: Tomkins, IV.C.20. MoMA Archives, NY.  Billy Klüver beschrieb den geplanten Ablauf der Zerstörungsaktion in seinem ausführlichen Bericht folgendermaßen:

An involved gear system would slowly turn the piano on. After a few minutes, a bucket of gasoline would be overturned onto the burning candle, so that the piano would catch fire. Another mechanical arrangement in the first meta-matic turned three beer cans filled with paint onto the paper rolling down toward the audience. On the very top of the first structure was a trough in which gallon-sized bottles would slide down as they were pushed by a lever, and crash to the ground spreading nauseating smells. A child’s go-cart would be pushed back and forth in front of the structure. There must have been about a hundred different operations in the machine. 88Ebd.

Zu diesen Operationen gehörte überdies eine weitere Zeichenmaschine, die eine Papierrolle bemalte. Zahlreiche Räder rotierten, Rauch stieg aus einer Metallwanne auf und hüllte die Konstruktion ein, ein Schriftband wurde aufgerollt, auf dem „Happening“ zu lesen war. Kleine Holzpflöcke waren über Keilriemen mit Rädern verbunden, bewegten sich auf und ab und schlugen nacheinander auf die Tasten des Klaviers. Integrierte Metalldosen bewegten sich, eine Metallstange schlug auf ein Metallfass. Räder ratterten, aufsteigende Flammen zischten. Die Maschinengeräusche mischten sich mit Klaviertönen und dem Hämmern der Metallstangen. Die Klangeffekte mündeten schließlich in einem alles umfassenden Rauschen. Die Maschine schien zu ächzen. Ein Teil der Konstruktion wurde von Tinguely selbst umgestoßen. Mit einem Handlöscher versuchte die Polizei, die Flammen einzudämmen. Zahlreiche Zufallsgeschehnisse griffen in den Prozess ein und kehrten den kontingenten Charakter des plastischen Ereignisses hervor, den auch Jean Tinguely in einem Interview mit Calvin Tomkins betonte:

The event itself, what took place, was absolutely unforeseen. Many of the things that were planned didn’t come off at all; other things happened that weren’t intended, like the roller that kept rolling up. Or the last two notes on the piano that played for nearly fifteen minutes, over and over, the same two sounds — it was very beautiful, very moving, I thought, and absolutely unplanned that one part of the piano should continue to play while the piano was being consumed by fire and one portion of its mechanism was already completely destroyed, and still those two notes in the midst of the fire still playing, calmly, sadly, monotonously […]. 99Tomkins, Calvin: Interview with Jean Tinguely (No. 1), S. 2–3, in: Tomkins, IV.C.20. MoMA Archives, NY.

Jean Tinguelys New Yorker Zerstörungsaktion ist Teil einer verstärkt in den 1960er Jahren auftretenden Tendenz der bildenden Kunst, sich der Musealisierung und Fixierbarkeit zu entziehen. In diesem Sinne erklärte Tinguely 1982 in einem Radiointerview:

That’s where my self-destroying works like Homage to New York come from. I wanted something ephemeral, that would pass like a falling star and, most importantly, be impossible for museums to reabsorb. I didn’t want it to be „museumized“. The work had to pass by, make people dream and talk, and that would be all, next day nothing would be left, everything would go back to the garbage cans. It had a certain complex seduction that made it destroy itself – it was a machine that committed suicide. A very beautiful idea, I must say. That was in New York in 1960. 1010Tinguely, Jean: „Tinguely on Tinguely. Extract from a radio debate“, Radio Télevision Belgien, Brüssel, 13. Dezember 1982, in: Jean Tinguely. A Magic stronger than Death, Mailand 1987, S. 350.

Bereits 1960 erwähnte Tinguely in einem Gespräch mit Calvin Tomkins: „What was important for me was that afterward[s] there would be nothing, except what remained in the minds of a few people, continuing to exist in the form of an idea. This was for me very liberating. The next day they just swept up and every trace was gone.“ 1111Tomkins, Calvin: Interview with Jean Tinguely (No. 1), S. 1, in: Tomkins, IV.C.20. MoMA Archives, NY.
Doch Tinguelys Wunsch, sich institutioneller bzw. ökonomischer Vereinnahmung vollständig zu entziehen, ging nicht in Erfüllung. Neben einzelnen plastischen Elementen der Aktion, die heute in verschiedenen Sammlungen aufbewahrt und präsentiert werden, 1212Sechs einzelne Fragmente der HTNY wurden aufbewahrt und fungieren heute als Zeugen des plastic events im Rahmen von musealen Präsentationen. Unter diesen Fragmenten befindet sich Robert Rauschenbergs Money Thrower. Zudem sind ein von Tinguely konstruiertes Wagenteil mit Hupe, einige Abschnitte der bedruckten Papierrolle sowie ein Stück einer Méta-Matic-Zeichnung erhalten geblieben. Vgl. Müller-Alsbach/Stahlhut 2009, S. 16, 27. Im Rahmen der Ausstellung Tinguely @ Tinguely. Ein neuer Blick auf Jean Tinguelys Werk (7. November 2012–30. September 2013, Museum Tinguely, Basel) wurden die Objekte zusammen mit drei Filmaufnahmen der HTNY ausgestellt. wurde die Zerstörungsaktion überdies in Fotografien und Filmaufnahmen festgehalten. Die Fotos wurden u.a. von David Gahr (1922–2008) aufgenommen. Zudem existieren mehrere Filmaufnahmen von dem US-amerikanischen Dokumentarfilmer Donn Alan Pennebaker (*1925) sowie von dem Filmemacher und bildenden Künstler Robert Breer (1926–2011). 1313Der Beginn der HTNY ist zu sehen in: Actualités, 1960, DVD © Jacques Caumont, Paris; Über die Zerstörungsaktion hinaus gibt der Film Breaking it up at the Museum – Homage to New York (1960) von Donn Alan Pennebaker den Entstehungskontext der Aktion wieder. Jean Tinguely wird in seinem Atelier gezeigt und kommt zu Wort, um seine Arbeit zu kommentieren: Breaking it up at the Museum – Homage to New York (1960), 16mm Film, s/w, 7 Min., © Donn Alan Pennebaker, London, 1960. Robert Breers Film kann zwar unter dokumentarischen Gesichtspunkten betrachtet werden, stellt jedoch letztlich einen Künstlerfilm dar, der eine eigene, dem experimentellen Film der 1960er Jahre zugeneigte Ästhetik aufweist. Breer, ein für experimentelle Animationsfilme bekannter Künstler, schneidet beispielsweise einzelne Elemente von Tinguelys Assemblagen aus und lässt diese über die Bildfläche tänzeln, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt: Homage to Jean Tinguely’s Homage to New York (1960), 16mm Film, s/w, 10 Min., © Robert Breer, 1960, Estate of R.B. Kate Fiax. Die Fotografien wie auch die Filmaufnahmen wurden während der Zerstörungsaktion angefertigt. Es wurden keine nachgestellten Szenen festgehalten, so dass es sich, Philip Auslanders Unterscheidung folgend, um dokumentarische Fotografien und Filmaufnahmen handelt. 1414Philip Auslander unterscheidet zwischen zwei Kategorien von Performance-Dokumentationen: dokumentarische und theatrale. Die erste Kategorie umfasst Bilder, die eine tatsächlich realisierte Performance festhalten, während die theatrale Dokumentation ein Geschehen inszeniert, das sich nicht zugetragen hat. Vgl. Auslander, Philip: „The Performativity of Performance Documentation“, in: Jones, Amelia/Heathfield, Adrian (Hg.): Perform, Repeat, Record. Live Art in History, Bristol/Chicago 2012, S. 47–58, hier S. 47. Ergänzt werden die visuellen Dokumente durch die bereits zitierten, schriftlich fixierten Berichte von Billy Klüver. Die hier vorgenommene Beschreibung und Analyse der HTNY beruht allein auf der Auswertung dieser bildhaften und schriftlichen Dokumentationen und stützt sich folglich auf die Erfahrungen einer sekundären Betrachterin. 1515Die Schwierigkeiten, über Aufführungen der bildenden Kunst zu arbeiten, die während ihres Vollzugs selbst nicht gesehen wurden, beschreibt Amelia Jones: Jones, Amelia: „,Presence‘ in Absentia“, in: Art Journal 56 (1997), Heft 4, S. 11–18, hier: S. 11. Philipp Auslander unterscheidet zwischen primärem und sekundärem Publikum. Das primäre Publikum wohnt der Aufführung bei, wohingegen das sekundäre das Geschehen allein durch Fotografien und Filmaufnahmen wahrnimmt. Die Aufführung besitze folglich eine duale Existenz. Vgl. Auslander 2012, S. 54.

Der Kunsthistoriker Henry M. Sayre betonte 1989 in besonderem Maße die Relevanz der fotografischen Zeugnisse von Tinguelys HTNY:

The importance of the photographic document was probably first established by Jean Tinguely’s Homage to New York, the wonderful machine sculpture which destroyed itself in the sculpture garden of the Museum of Modern Art on March 16, 1960 […]. By the early seventies, at any rate, most self-respecting modern collections included some kind of performance piece, which often meant only that it „owned“ a conceptual idea or, more materially, the rights to photographs documenting an event. What has surprised even the museum, however, is the power these documents seem to possess […]. 1616Sayre, Henry M.: The Object of Performance. The American Avant-Garde since 1970, Chicago/London 1989, S. 3–4.

In seiner Aussage unterstreicht Sayre die Rolle der Fotografie im Kontext der Performativen Wende am Beispiel von Jean Tinguelys Aktion: Mittels fotografischer Aufnahmen wurde die spektakelartige Zerstörungsaktion festgehalten, so dass sich das ephemere Ereignis der Vergänglichkeit entzieht. Insbesondere betont Sayre, dass die in Fotografien fixierten Aktionen der sich in den 1960er Jahren etablierenden Performance- und Happening-Kunst ihre Wirkungsmacht nicht einbüßen. Sayres Ansicht steht damit der These des Medienphilosophen Dieter Mersch diametral entgegen, wonach Kunstereignisse durch Film-, Video- oder Tonbandaufnahmen entwertet würden. 1717Vgl. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002, S. 242. Die Fotografien von Jean Tinguelys HTNY halten jedoch nicht allein die Zerstörungsaktion für die Nachwelt fest, sondern das fotografische Bildgebungsverfahren betont überdies die Bildhaftigkeit der Installation selbst. Jean Tinguely hatte bereits 1960 die bildimmanenten Qualitäten der HTNY hervorgehoben: „It’s a sculpture, is a picture, makes a picture.“ 1818Jean Tinguely zitiert nach Breaking it up at the Museum – Homage to New York (1960), 16mm Film, s/w, 7 Min., © Donn Alan Pennebaker, London, 1960. Tinguelys Worte implizieren die Frage nach bildkonstituierenden Elementen, die in dem plastischen Arrangement angelegt sind und die, so lautet die These, in den Schwarz-Weiß-Fotografien der Aktion verstärkt hervortreten. Damit einher geht die Frage, wie die ereignishaften Charakteristika der Aufführung, dessen Spektakelartigkeit, Zeitlichkeit und Lautlichkeit sowie die sich prozessual konstituierende Räumlichkeit und Materialität in den Fotografien modifiziert werden.

Bei den vorliegenden Fotografien der Aktion handelt es sich durchgängig um Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Es existieren sowohl Fotografien, die die gesamte Installation zeigen, als auch solche, die das plastische Arrangement ausschnitthaft wiedergeben. Letztere scheinen nicht den Blickerfahrungen des Publikums zu entsprechen, da sie sehr nah an das Objekt herangerückt sind, das Publikum jedoch die Aktion mit einigem Abstand zu der brennenden Assemblage verfolgte. Die Nahansichtigkeit der Fotografien legt also die Vermutung nahe, dass der Fotograf einen Zoom benutzt hat. In den Nahaufnahmen nimmt die Assemblage den gesamten Bildraum ein, die Konstruktion weist über die Grenzen des Bildausschnitts hinaus, so dass die Fülle des Materials und die räumliche Ausdehnung der Materialanhäufung erahnbar sind, jedoch nicht in ihrer Gänze erfasst werden können. Es wird der Eindruck einer materiellen Fülle vermittelt, die den Bildrahmen sprengt. Die Fotokamera nimmt also allein einen Bildausschnitt auf, der mal mehr mal weniger weit gefasst ist. Sie verleiht dem Gesehenen einen Rahmen, der als bildkonstituierendes Element fungiert. Mit dem Einsatz der Kamera gehen zahlreiche weitere Modifikationen einher. Zunächst wird das zentrale Charakteristikum von Tinguelys kinetischen Plastiken, die Bewegung, still gestellt. Die unterschiedlichen Bewegungsarten und Geschwindigkeiten wie Verlangsamungen und Beschleunigungen, welche die einzelnen Elemente der Assemblage vollziehen, werden eingefroren. Das Zusammenspiel und die Diversität der sich parallel vollziehenden Bewegungsmomente kann in den Fotografien nicht mehr nachvollzogen werden. Der transitorische und flüchtige Charakter immer wieder neuer visueller Konstellationen geht verloren. Des Weiteren verstärken die Schwarz-Weiß-Aufnahmen den Hell-Dunkel-Kontrast, den Tinguely bereits durch die weiße Bemalung der Assemblage angelegt hatte. Der stilisierte Bildcharakter der HTNY wird zusätzlich intensiviert und dessen konstruktivistischer Charakter tritt verstärkt hervor: Die plastischen Einzelteile der Assemblage verwandeln sich in den Fotografien in ein Netz aus weißen Linien, geometrisch-abstrakten Formen und Flächen, die sich vor einem schwarzen Hintergrund ausbreiten. Der die Plastik umhüllende Rauch wird durch das Kameraauge in einen weißen, transparenten Schleier transformiert, der sich partiell über das Liniengeflecht legt. Sich wolkenartig formierender Rauch nimmt mitunter plastische Qualitäten an. Aufsteigende Flammen wandeln sich in abstrakte Flächen. Die Grundstrukturen der Objekte werden durch den Eingriff der Kamera betont, Aggregatzustände fluider und ephemerer Materialitäten modifiziert und zu Bildelementen innerhalb eines Bildgefüges generiert. Auch werden die räumlichen Qualitäten des plastischen Arrangements in den Fotografien reduziert, wenngleich nicht vollständig beseitigt. Mit dem Bildgebungsverfahren der Fotografie wird die dem Dreidimensionalen verschriebene Materialassemblage in ein zweidimensionales Medium überführt. Die Aufnahmen geben zwar die räumlichen Relationen der in der Assemblage verbauten Einzelteile wieder. Doch je weniger Grauwerte in den Fotografien vorherrschen und je mehr sie von Hell-Dunkel-Kontrasten bestimmt werden, desto flacher wirkt das Arrangement und wird als abstraktes Liniengeflecht wahrgenommen. Die räumlichen Qualitäten gehen mehr und mehr zugunsten einer Verflachung verloren. Auch der Ort der Aufführung, der Skulpturengarten des Museum of Modern Art, ist in den Fotografien kaum erkennbar. Der Hintergrund versinkt in einem tiefen Schwarz, aus dem wenige Lichtpunkte erstrahlen. Doch ohne Kenntnis des Skulpturengartens lassen sich diese Lichter – es handelt sich um beleuchtete Fenster der umliegenden Häuser – nicht zuordnen. Neben den Aufnahmen der Zerstörungsaktion existieren zudem Fotografien, die den Auf- und Abbau der Installation dokumentieren. Diese Aufnahmen wurden bei Tageslicht angefertigt, so dass im Gegensatz zu den Nachtaufnahmen der Ort der Aufführung sichtbar wird. Zwar bezeugen diese Bilder, in welchem kunsthistorischen Kontext sich Tinguely mit seiner Aktion verortet – die HTNY wurde neben Skulpturen u.a. von Auguste Rodin (1840–1917), Aristide Maillol (1861–1944), Pablo Picasso (1881–1973), Jacques Lipchitz (1891–1973) und Henry Moore (1898–1986) aufgeführt. Jedoch vermitteln auch sie keinen Eindruck von den räumlichen Gegebenheiten, von der Enge und Begrenztheit des Skulpturengartens, der weniger einem begrünten, weitläufigen Garten als vielmehr einem gepflasterten, engen Innenhof gleicht. Während die visuellen Qualitäten des Ereignisses in den Fotografien hervorgehoben werden, wird dessen synästhetischer Charakter nivelliert. Die die Aktion begleitende Geräuschkulisse vermittelt sich in den Aufnahmen nicht mehr, sondern kann allein assoziiert werden. Die Kamera erzeugt also eine eigene Bildwirklichkeit, die sich von der Wirklichkeit der ursprünglichen Zerstörungsaktion abgrenzt. Die Fotografien verweisen zum einen auf die Aktion, die sie dokumentieren, und zum anderen auf sich selbst als gemachte Bilder mit ästhetischem Eigenwert. Es offenbart sich die indexikalische Qualität des Bildgebungsverfahrens Fotografie, dessen duale Zeigequalität. 1919Vgl. Auslander 2012, S. 49.

Laut Amelia Jones sind Aufführungen darauf angewiesen, festgehalten zu werden, um einen symbolischen Status im kulturellen Bereich anzunehmen. 2020Vgl. Jones 1997, S. 13. Jones Beobachtung korreliert mit Dieter Merschs These, wonach umso häufiger aufzeichnende Systeme eingesetzt werden, je flüchtiger die Aufführungen sind. 2121Vgl. Mersch 2002, S. 232f. Jean Tinguely war sich der Notwendigkeit, die einmalige Aktion fotografieren und filmen zu lassen, offenbar bewusst. Jedoch schienen ihn weniger die dokumentarischen Zwecke der Medien zu interessieren als vielmehr deren Werbewirksamkeit. Er nutzte die Anwesenheit der Medien, um sich als Künstler in New York zu etablieren und zu positionieren. So berichtet Billy Klüver, dass Tinguely für die Fotografen vor der Assemblage regelrecht posierte: „He stopped in front of the machine and let the photographers take pictures, posing like an actor. As he was standing there, the text ‘ying is yang’ appeared on the horizontal text roll. On the pictures of him with his self-destroying machine in the background this sentence can be read above his head.“ 2222The Garden Party by Billy Klüver, o.J., S. 9, in: Tomkins, IV.C.20. MoMA Archives, NY. Die Aufnahmen wurden am nächsten Tag u.a. in der New York Times abgedruckt und Jean Tinguely wurde schlagartig in New York bekannt. Die Fotografien der HTNY avancierten, mit den Worten Sayres gesprochen, zu Bildern von ikonischer Präsenz.

Die Anziehungskraft der bildhaften Dokumente von Tinguelys HTNY scheint ungebrochen angesichts der Tatsache, dass sich auch heute noch bildende Künstler_innen mit den Fotografien der Zerstörungsaktion auseinandersetzen. Bereits seit 2006 befasst sich der britische Künstler Michael Landy (*1963) mit Tinguelys HTNY. Die Fotografien der Aktion von David Gahr dienen ihm vorrangig als Vorlagen für Zeichnungen, die mitunter monumentale Ausmaße annehmen. Mittels schwarzer Ölkreide, Kohle oder Tusche, Gouache und Leim überführt Landy die Fotografien auf Papier und vollzieht den einstigen, destruktiven Akt erneut, indem er die gezeichnete Darstellung auskratzt oder mit Korrekturflüssigkeit weiter bearbeitet. 2323Pardey, Andres: „Homage to New York // H.2.N.Y.”, in: Ausst. Kat. Michael Landy. Out of Order, Museum Tinguely, Basel (8. Juni–25. September 2016), Heidelberg/Berlin 2016, S. 12–13, hier S. 12. Die Fotografien der Installation werden verfremdet und in stilisierte, abstrakte Zeichnungen verwandelt (Abb. 3). Der visuellen Modifikation der Installation durch die Fotografie folgt in den Papierarbeiten Landys also eine weitere Abstraktionsstufe.

Abb. 3 Michael Landy, H.2.N.Y. Tinguely Machine Erases its own Construction in 27 Minutes, 2007 Ölkreide auf Papier (zweiteilig), 152,5 x 243 cm Courtesy of the artist and Thomas Dane Gallery, London
Abb. 3
Michael Landy: H.2.N.Y. Tinguely Machine Erases its own Construction in 27 Minutes, 2007.
Ölkreide auf Papier (zweiteilig), 152,5 x 243 cm.
Courtesy of the artist and Thomas Dane Gallery, London.

    Fußnoten

  • 1Billy Klüver lernte Robert Rauschenberg während der Arbeiten an der Homage to New York kennen. 1966 gründeten beide E.A.T. (Experiments in Art and Technology). Darüber hinaus entwickelten sie zahlreiche technologische Gemeinschaftsarbeiten: Oracle (1962–1965), Soundings (1968), Solstice (1968), Mud Muse (1968–1971). Vgl. Ausst. Kat. Robert Rauschenberg – Jean Tinguely. Collaborations, Museum Tinguely, Basel (3. Oktober 2009–17. Januar 2010), Bielefeld 2009, S. 206.
  • 2Vgl. Müller-Alsbach, Anja/Stahlhut, Heinz: „,Dont worry. We’re real artists.‘ Die Zusammenarbeit zwischen Jean Tinguely und Robert Rauschenberg“, in:. Ausst. Kat. Robert Rauschenberg – Jean Tinguely. Collaborations 2009, S. 16, 27.
  • 31955 entwickelt Jean Tinguely erstmals seine Zeichenmaschinen, die sogenannten Méta-Matics. Dabei handelt es sich um mechanische Konstruktionen, die eine Halterung für einen Stift sowie ein Klemmbrett aufweisen, in das Papier eingelegt wird. Die Betrachter_innen werden dazu aufgefordert, einen Stift auszuwählen, in die Maschine einzusetzen und die Maschine per Fußpedal, Handschalter oder Kurbel zu aktivieren. Fortan gleitet der Stift über das Papier und hinterlässt dort Spuren, die an eine abstrakte Zeichnung erinnern. Die Rezipierenden entscheiden, wann die Zeichnung fertiggestellt ist, indem sie die Aktivierung der Maschine beenden. Laut dem von Christina Bischofsberger erarbeiteten Werkverzeichnis der Skulpturen Jean Tinguelys baute der Künstler zwischen 1959 und 1960 fünfzehn Méta-Matics. Zusätzlich ist eine derartige Malmaschine im Jahr 1961 entstanden. Vgl. Gasser, Corinne/Pardey, Andres/Suter, Rudolf: „Zu den Skulpturen in der Sammlung des Museum Tinguely“, in: Museum Tinguely Basel. Die Sammlung, Heidelberg/Berlin 2012, S. 28–187, hier S. 52.
  • 4Billy Klüver, der Jean Tinguely bei der Konstruktion der Maschine im Museum of Modern Art zur Hand ging, hielt die Zusammenarbeit mit Jean Tinguely und den Verlauf der HTNY in seinem Bericht der Zerstörungsaktion fest: Klüver, Billy: „The Garden Party“, in: Ausst. Kat. Jean Tinguely. A Magic stronger than Death, Palazzo Grassi, Venedig (19. Juli–18. Oktober 1987)/Promotrice delle Belle Arti Parco del Valentino di Torino (19. November 1987–31. Januar 1988), Turin, Mailand 1987, S. 74–77; Klüver, Billy: „The Garden Party“, in: Hultén, Pontus: Jean Tinguely. Méta, Berlin 1972, S. 130, 136–137, 143; The Garden Party by Billy Klüver, o.J., in: Calvin Tomkins Papers, IV.C.20. The Museum of Modern Art Archives, New York.
  • 5The Garden Party by Billy Klüver, o.J., S. 5, in: Tomkins, IV.C.20. MoMA Archives, NY.
  • 6Vgl. Jouffroy, Alain: „Jean Tinguely“, in: L’ŒIL, 144 (1966), S. 34–43, hier S. 37.
  • 7Vgl. The Garden Party by Billy Klüver, o.J., S. 5, in: Tomkins, IV.C.20. MoMA Archives, NY.
  • 8Ebd.
  • 9Tomkins, Calvin: Interview with Jean Tinguely (No. 1), S. 2–3, in: Tomkins, IV.C.20. MoMA Archives, NY.
  • 10Tinguely, Jean: „Tinguely on Tinguely. Extract from a radio debate“, Radio Télevision Belgien, Brüssel, 13. Dezember 1982, in: Jean Tinguely. A Magic stronger than Death, Mailand 1987, S. 350.
  • 11Tomkins, Calvin: Interview with Jean Tinguely (No. 1), S. 1, in: Tomkins, IV.C.20. MoMA Archives, NY.
  • 12Sechs einzelne Fragmente der HTNY wurden aufbewahrt und fungieren heute als Zeugen des plastic events im Rahmen von musealen Präsentationen. Unter diesen Fragmenten befindet sich Robert Rauschenbergs Money Thrower. Zudem sind ein von Tinguely konstruiertes Wagenteil mit Hupe, einige Abschnitte der bedruckten Papierrolle sowie ein Stück einer Méta-Matic-Zeichnung erhalten geblieben. Vgl. Müller-Alsbach/Stahlhut 2009, S. 16, 27. Im Rahmen der Ausstellung Tinguely @ Tinguely. Ein neuer Blick auf Jean Tinguelys Werk (7. November 2012–30. September 2013, Museum Tinguely, Basel) wurden die Objekte zusammen mit drei Filmaufnahmen der HTNY ausgestellt.
  • 13Der Beginn der HTNY ist zu sehen in: Actualités, 1960, DVD © Jacques Caumont, Paris; Über die Zerstörungsaktion hinaus gibt der Film Breaking it up at the Museum – Homage to New York (1960) von Donn Alan Pennebaker den Entstehungskontext der Aktion wieder. Jean Tinguely wird in seinem Atelier gezeigt und kommt zu Wort, um seine Arbeit zu kommentieren: Breaking it up at the Museum – Homage to New York (1960), 16mm Film, s/w, 7 Min., © Donn Alan Pennebaker, London, 1960. Robert Breers Film kann zwar unter dokumentarischen Gesichtspunkten betrachtet werden, stellt jedoch letztlich einen Künstlerfilm dar, der eine eigene, dem experimentellen Film der 1960er Jahre zugeneigte Ästhetik aufweist. Breer, ein für experimentelle Animationsfilme bekannter Künstler, schneidet beispielsweise einzelne Elemente von Tinguelys Assemblagen aus und lässt diese über die Bildfläche tänzeln, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt: Homage to Jean Tinguely’s Homage to New York (1960), 16mm Film, s/w, 10 Min., © Robert Breer, 1960, Estate of R.B. Kate Fiax.
  • 14Philip Auslander unterscheidet zwischen zwei Kategorien von Performance-Dokumentationen: dokumentarische und theatrale. Die erste Kategorie umfasst Bilder, die eine tatsächlich realisierte Performance festhalten, während die theatrale Dokumentation ein Geschehen inszeniert, das sich nicht zugetragen hat. Vgl. Auslander, Philip: „The Performativity of Performance Documentation“, in: Jones, Amelia/Heathfield, Adrian (Hg.): Perform, Repeat, Record. Live Art in History, Bristol/Chicago 2012, S. 47–58, hier S. 47.
  • 15Die Schwierigkeiten, über Aufführungen der bildenden Kunst zu arbeiten, die während ihres Vollzugs selbst nicht gesehen wurden, beschreibt Amelia Jones: Jones, Amelia: „,Presence‘ in Absentia“, in: Art Journal 56 (1997), Heft 4, S. 11–18, hier: S. 11. Philipp Auslander unterscheidet zwischen primärem und sekundärem Publikum. Das primäre Publikum wohnt der Aufführung bei, wohingegen das sekundäre das Geschehen allein durch Fotografien und Filmaufnahmen wahrnimmt. Die Aufführung besitze folglich eine duale Existenz. Vgl. Auslander 2012, S. 54.
  • 16Sayre, Henry M.: The Object of Performance. The American Avant-Garde since 1970, Chicago/London 1989, S. 3–4.
  • 17Vgl. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2002, S. 242.
  • 18Jean Tinguely zitiert nach Breaking it up at the Museum – Homage to New York (1960), 16mm Film, s/w, 7 Min., © Donn Alan Pennebaker, London, 1960.
  • 19Vgl. Auslander 2012, S. 49.
  • 20Vgl. Jones 1997, S. 13.
  • 21Vgl. Mersch 2002, S. 232f.
  • 22The Garden Party by Billy Klüver, o.J., S. 9, in: Tomkins, IV.C.20. MoMA Archives, NY.
  • 23Pardey, Andres: „Homage to New York // H.2.N.Y.”, in: Ausst. Kat. Michael Landy. Out of Order, Museum Tinguely, Basel (8. Juni–25. September 2016), Heidelberg/Berlin 2016, S. 12–13, hier S. 12.
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Index von Ausgabe #5