Nicht Suchen, sondern Finden: die Arbeitsecke als Provisorium

Ausgabe #4
November 2015
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Bei der Arbeitsecke handelt es sich um keine Ecke im architektonischen Sinne. Vielmehr hat diese mit Prozessen des Hervorbringens und Handelns zu tun, mit Blickwinkeln und Wissenskonzepten. Grundlegend ist eine provisorische Struktur wie auch die Aufmerksamkeit auf jene Momente, in denen etwas auf die Spur gekommen wird.

Mit der Arbeitsecke hatte ich es erstmalig während meiner Studienzeit an der Hochschule Neubrandenburg zu tun, konkret im Rahmen ästhetischer Projektarbeit. Diese wurde federführend von Prof. Dr. Ulrike Hanke entwickelt und ist eingebunden in die Lehr- und Lernforschung im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung. Unter der Autorschaft von Hanke/Krokowski sind im Scibri-Verlag zwei Dokumentationsbände erschienen. 11Hanke, Ulrike und Robert Krokowski: Ästhetische Projekte Bd.1. Das eigene Ding. Eine Dokumentation ästhetischer Bildung in der Lehr- und Lernforschung an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung, Milow 2006; Dies.: Ästhetische Projekte Bd.2. Gemeinsame Sache. Eine Dokumentation ästhetischer Bildung in der Lehr- und Lernforschung an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung, Milow 2007. Auf Band eins nehme ich in meinem Text Bezug. Gegenstand des ersten Bandes Das eigene Ding sind die von Robert Krokowski begleiteten Veranstaltungen von Studierenden aus den Jahren 2001-2003. Im zweiten Band Gemeinsame Sache ist das Projekt »Schrift der Engel« dokumentiert, welches 2004/2005 unter Beteiligung ehemaliger Studierender durchgeführt wurde. 22Siehe auch https://www.hs-nb.de/ppages/hanke-ulrike/archiv/ Nachfolgend sei kurz skizziert, was – mit den Worten Hankes gesprochen – in den „Brennpunkten“ 33Hanke, Ulrike: „Ästhetische Projekte: Didaktische Spielräume für ästhetische Bildung“, in: dies. und Robert Krokowski: Ästhetische Projekte Bd.1. Das eigene Ding. Eine Dokumentation ästhetischer Bildung in der Lehr- und Lernforschung an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung, Milow 2006, S. 17–46, hier S. 23. dieser ästhetischen Projektpraxis steht:

Abb. 1: Arbeitsecke zum Projekt Bildbeschreibung (Ästhetisches Projekt 2001, HS Neubrandenburg, Foto: U.Hanke).
Abb. 1: Arbeitsecke zum Projekt Bildbeschreibung (Ästhetisches Projekt 2001, HS Neubrandenburg, Foto: U.Hanke).

In ästhetischen Projekten wird themenzentriert (z.B. Körper und Raum, Leidenschaften) in einer zusammenhängenden Arbeitsphase in künstlerischen Medien (u.a. Bildende, Darstellende und Digitale Kunst)  gearbeitet. Am Ende jeder Werkstatt steht eine öffentliche Präsentation, in der die Studierenden (Akteur/inn/en) Spuren ihres Arbeitsprozesses vorstellen; dieser ist durch folgende Bausteine bzw. Elemente strukturiert: Arbeitsecke, gemeinsame Werkstattarbeit im Wechsel mit Einzelarbeit, Ereignisfeldarbeit im gemeinsamen Plenum, Spurensicherung und Dokumentation, Impulsgespräche mit den Werkstattleiter/innen. Vor dem Hintergrund sich verändernder Ausbildungssituationen und wandelnder Berufsfelder in der Informationsgesellschaft im Allgemeinen und der Gefahr der Aneignung von Partialfunktionen in Ausbildungen Sozialer Berufe im Besonderen, begreift Hanke Projektarbeit als „[…] didaktische Spielräume ästhetischer Bildung, die eine Antwort auf die Frage ermöglichen: Was heißt es, das eigene Ding zu machen und (dennoch) mit anderen gemeinsame Sache“. 44Hanke 2006, S. 22 (Herv. im Orig.).

Zurück zur Arbeitsecke: Während eine Ecke aus architektonischer Perspektive den äußersten Punkt eines Raumes bezeichnet und oft Sonderlösungen erfordert, da beispielsweise Fassadenraster nicht mehr aufgehen, haben Arbeitsecken in ästhetischen Projekten hiermit wenig bis gar nichts zu tun. 55Auch interessant: bauphysikalisch betrachtet handelt es sich bei Ecken um geometrische Wärmebrücken; hiernach lässt sich erklären, warum Schimmel häufig in Ecken zu finden ist. Bei Arbeitsecken handelt es sich nämlich (nur) um ein Stück Wand, auf das ein großes Stück weißes Papier geklebt wird und um ein Stück Boden vor der Wand.

Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass das Wort Arbeitsecke metaphorisch besetzt ist. Und obwohl es sich um keine Ecke im architektonischen Sinne handelt, sind Arbeitsecken gleichermaßen private Orte (vergleichbar mit einer Nische) und öffentliche Plätze in Räumen (z.B. Theaterlabor der Hochschule), d.h. es gibt keine temporären Sichtschirme, Trennwände o.ä.. Im Laufe des Arbeitsprozesses hinterlassen die Akteur/inn/en in ihrer Ecke Spuren – gedanklicher und/oder ‚dinglicher’ Art: An die zu Beginn leere weiße Papierwand werden thematische Skizzen, Rückmeldekarten und diverse Materialien (z.B. Textfragmente, Bilder) angeheftet, ebenso werden Fundstücke und Recherchematerial platziert. Arbeitsecken bringen somit bisherige Arbeitsschritte zur Ansicht. Darüberhinaus dokumentiert jede Ecke einen besonderen „Blickwinkel“ bzw. ist jedem Akteur die Möglichkeit gegeben, „[…] sich selbst in den Blickwinkel zu begeben, der aus all dem Versammelten resultiert, um sich selbst zu verorten und sich selbst auf die Spur zu kommen“ 66Krokowski, Robert: „Ästhetische Projekte als Handlungsräume ästhetischer Bildung“, in: Hanke, Ulrike und ders.: Ästhetische Projekte Bd.1. Das eigene Ding. Eine Dokumentation ästhetischer Bildung in der Lehr- und Lernforschung an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung, Milow 2006, S. 47–215, hier S. 85 (Herv. I.D.).. Anhand des in der Arbeitsecke Versammelten können die Akteur/inn/en rückblickend erinnern, wo sie aufgebrochen und welchen Spuren sie bisher gefolgt sind, aber auch Verbindungen knüpfen zu dem, wo eine Spur hinführen könnte. Wer sein ‚Ding machen‘ will, der muss diesem ‚Ding‘, dem Eigenen, somit erst einmal auf die Spur kommen und dafür bietet die Arbeitsecke gedankliche Spielräume, denn hier kann um die Ecke gedacht und gehandelt werden. Ästhetische Projekte ecken hierin an konventionelle Wissensdidaktik an, geht es eben nicht darum, Fachwissen über ein Thema oder gar das ‚eigene Ding‘ anzuhäufen. Vielmehr gehen ästhetische Prozesse davon aus,

[…] dass die Antwort schon im Raum steht, weil sie durch Bewegungen von Körpern, durch erhandelte Bildbeschreibungen, durch leidenschaftliche Aufspürungen hervorgebracht wurden. Allerdings: Oft wissen die Akteure nicht, was sie sich durch ihr Handeln eigentlich eingehandelt haben. Doch wenn Sie beginnen, das Evidente schlicht zu benennen, es zur Sprache zu bringen, dann beantworten sie damit nicht eine Wissensfrage, sondern finden Fragwürdigkeiten ihres Vorwissens. 77Krokowski 2006, S. 81. Hieran anknüpfend lässt sich die Arbeitsecke als Produzentin von Wissen begreifen. Es findet ein Zusammenspiel verschiedener Wissensformen (u.a. expliziten, impliziten, diskursiven, performativen Wissens) statt.

Abb. 2: Marco Wegner, Präsentation einer Spur (Ästhetisches Projekt 2001, HS Neubrandenburg, Foto: U. Hanke).
Abb. 2: Marco Wegner, Präsentation einer Spur (Ästhetisches Projekt 2001, HS Neubrandenburg, Foto: U. Hanke).

Spuren finden, sammeln, auswählen, präsentieren, dokumentieren – im Rahmen ästhetischer Projekte wird etwas geleistet. Das Wort Leistung verweist etymologisch auf Spur, Aufspüren bzw. der Spur folgen. ‚Etwas auf die Spur zu kommen‘ ist somit eine (Arbeits-)Leistung. 88Ebd., S. 56. Das Wort Arbeit verweist etymologisch auf Mühe und Qual. Ein solches Verständnis steht dem (immer noch) gängigen Bild des in helfender Absicht kreativ Tätigen im Kontext der Ausbildung Sozialer Berufe entgegen 99Zum Gedanken vom Modellcharakter künstlerischer Arbeit siehe  Szántó, Ildikó: „Die Fabrik im Museum. Perspektiven auf den Fordismus im Kunstfeld seit 1990“, in: Zeitschrift für Kunst und Kulturwissenschaft 43 (2015) Heft 3, S. 31–40.: Ästhetisches Handeln im Rahmen der Ausbildung bedeutet eben nicht ein Einüben in bzw. späteres Ausüben von (hobbyistischen) Aktivitäten wie z.B. Trommeln, Basteln oder Musik machen, sondern ist orientiert an dem, was es beruflich zu leisten gilt und welche Ressourcen hierfür benötigt werden.

Assoziiert der Architekt mit um die Ecke denken die Außenseite der Ecke und damit eine Situation die man nicht ganz erfassen kann, sind ästhetischen Projekten solche Situationen implizit, denn: Ästhetische Prozesse sind offen und provisorisch angelegt und die Arbeitsecke somit ein Provisorium im Picasso’schen Sinne Nicht suchen, sondern finden.

Danke an Hans-Georg Bauer und Ildikó Szántó für das interdisziplinäre um die Ecke denken.

 

    Fußnoten

  • 1Hanke, Ulrike und Robert Krokowski: Ästhetische Projekte Bd.1. Das eigene Ding. Eine Dokumentation ästhetischer Bildung in der Lehr- und Lernforschung an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung, Milow 2006; Dies.: Ästhetische Projekte Bd.2. Gemeinsame Sache. Eine Dokumentation ästhetischer Bildung in der Lehr- und Lernforschung an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung, Milow 2007. Auf Band eins nehme ich in meinem Text Bezug.
  • 2Siehe auch https://www.hs-nb.de/ppages/hanke-ulrike/archiv/
  • 3Hanke, Ulrike: „Ästhetische Projekte: Didaktische Spielräume für ästhetische Bildung“, in: dies. und Robert Krokowski: Ästhetische Projekte Bd.1. Das eigene Ding. Eine Dokumentation ästhetischer Bildung in der Lehr- und Lernforschung an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung, Milow 2006, S. 17–46, hier S. 23.
  • 4Hanke 2006, S. 22 (Herv. im Orig.).
  • 5Auch interessant: bauphysikalisch betrachtet handelt es sich bei Ecken um geometrische Wärmebrücken; hiernach lässt sich erklären, warum Schimmel häufig in Ecken zu finden ist.
  • 6Krokowski, Robert: „Ästhetische Projekte als Handlungsräume ästhetischer Bildung“, in: Hanke, Ulrike und ders.: Ästhetische Projekte Bd.1. Das eigene Ding. Eine Dokumentation ästhetischer Bildung in der Lehr- und Lernforschung an der Hochschule Neubrandenburg im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung, Milow 2006, S. 47–215, hier S. 85 (Herv. I.D.).
  • 7Krokowski 2006, S. 81. Hieran anknüpfend lässt sich die Arbeitsecke als Produzentin von Wissen begreifen. Es findet ein Zusammenspiel verschiedener Wissensformen (u.a. expliziten, impliziten, diskursiven, performativen Wissens) statt.
  • 8Ebd., S. 56. Das Wort Arbeit verweist etymologisch auf Mühe und Qual.
  • 9Zum Gedanken vom Modellcharakter künstlerischer Arbeit siehe  Szántó, Ildikó: „Die Fabrik im Museum. Perspektiven auf den Fordismus im Kunstfeld seit 1990“, in: Zeitschrift für Kunst und Kulturwissenschaft 43 (2015) Heft 3, S. 31–40.
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