Perspektiven für eine Geschichte des Kunstgewerbes

Ausgabe #1
Oktober 2013
Download PDF

Die Geschichte des Kunstgewerbes lässt sich als Spannungsgefüge erzählen. Unauflösbar bleiben Vermischungen zwischen Wissensgebieten, die bei dieser Neugründung eines Fachgebiets zusammengeraten. Das Kunstgewerbe hat jedoch Grenzen etabliert und unterlaufen, die bis heute wirkmächtig sind: Kunst und Nicht-Kunst, gute und böse Dinge, berechenbare Gestaltung…

1. Anderes Wissen

Fragt man nach „dem Wissen der Künste“ unterstellt man ihnen, von etwas zu wissen. Zunächst eine banale Feststellung, aber die Frage führt in ein Dilemma, das bisher zu wenig im Fokus stand. Die Künste positionieren sich zu den Geistes- und insbesondere Naturwissenschaften als ebenbürtige Partnerinnen der Wissensproduktion, deren Bedingungen, Praktiken und Instrumente sich ebenso untersuchen lassen wie etwa die Experimental-Anordnungen in der Forschungsarbeit von Labors. 11So untersucht etwa Barbara Wittmann die Skizze als basale Technik in Naturwissenschaften sowie Künsten. Ganz zu schweigen vom artistic research, welche künstlerische Praxis als Forschung (auch und gerade institutionell) etabliert hat. Ein Fragen danach, wie Erkenntnisse je schon in den Künsten gewonnen werden (auch jenseits ästhetischer Verfahren), ist häufig verknüpft worden mit Begriffen des impliziten, habitualisierten, verkörperlichten, geübten, erprobten Wissens. Angesichts dieser Problemstellung scheint es zumindest nicht von vorneherein klar zu sein, dass die Künste genuin wissen; hier gibt es noch Entdeckungen zu machen und Beschreibungen zu liefern, um sich an „das“ Wissen der Künste heranzuarbeiten. Oder aber dieses, den Künsten zugetraute Wissen, lässt sich differenzieren als anderes Wissen. Dabei scheint es „Schicksal“ der Künste zu sein als das andere Wissen angeschrieben zu werden, um sich selbst vom Standpunkt des anderen her zu definieren und auch zu rechtfertigen, und gerade hierin steckt das Dilemma. Denn einen positiven Begriff vom verschwenderischen, widerständigen Potenzial künstlerischer Arbeit zu gewinnen ist – da ökonomisch nicht sinnvoll scheinend – ein schwieriges Unterfangen. 22Vgl. hierzu Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch, Daniel Tyradellis (Hg.): Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung, Berlin, Zürich 2013. Wie wäre aber eine Haltung der Künste zu denken, die von nichts wissen müssten? Eine des verschwenderischen Überschusses? Der feinen Differenzierungen? Der Unvereinbarkeiten? Eine Haltung, welche für sich zuallererst einen positiven Begriff dieses erkenntnisreichen Nicht-Wissen-müssens stärken könnte? Eine durchaus wissenschafts-politische Fragestellung, die im Folgenden nicht weiter eröffnet, aber sozusagen im Hinterkopf behalten wird.

2. Zwischenwissen

Für die Gründung der Kulturwissenschaft und der Mediengeschichte ist die Figur des „Zwischen“ wesentlich. In den Blick geraten die Peripherien, Zwischenräume und Störungen. So nennt Iris Därmann einen Text des Soziologen Marcel Mauss zu den Körpertechniken aus den 1930er Jahren eine der „Gründungsurkunden“ der Kulturwissenschaften. Sie weist darauf hin, dass sich hier eine Disziplin im Zwischenraum entfaltet. Denn in den Fokus rücken Beobachtungen, welche „weder in den etablierten Geistes- und Humanwissenschaften noch auch in den Naturwissenschaften einen angestammten Ort zu finden vermochte[n].“ 33Vgl. Iris Därmann: Kulturttheorien zur Einführung, Hamburg 2010, S. 28. Gerade in den undeutlich abgegrenzten Bezirken zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften, lassen sich nach Därmann die eigentlichen kulturwissenschaftlichen Entdeckungen machen. Dieses in-der-Schwebe-sein, könnte man ganz vereinfacht sagen, ist ein Topos kulturwissenschaftlichen Schreibens: Roland Barthes beschreibt den Begriff des Neutrums, der sich durch hohe Sprach-Scheuheit auszeichne. 44Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt a.M. 2005. François Julien greift in seiner Eloge an die Fadheit einen verwandten Begriff auf, der sich seinem Wesen nach immer schon der Verschriftlichung entziehen muss. 55François Julien: Über das Fade. Eine Eloge zu Denken und Ästhetik Chinas, Berlin 1999. Siegfried Kracauer nennt es „Vorraum-Denken“ und meint damit ein Modell des Denkens des „à peu près“; eine Denkfigur des Zwischenraums, der jede „abschließende Deutung“ suspekt bleibt und wenn überhaupt allein in Annäherung gelingen kann. 66Siegfried Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen, in: Ders.: Schriften, Bd. 5.2., Frankfurt a.M. 1990 und Dorothee Kimmich: Lebendige Dinge in der Moderne, Konstanz 2011, S. 54. Für das Projekt, eine Geschichte des Kunstgewerbes zu schreiben, wähle ich diese Perspektive eines Dazwischen, gehe aber davon aus, dass dieses durchaus deutlich zu benennen ist und es sich nicht dem Diskurs entzieht, im Gegenteil, dass es geradezu den Strategien des Kunstgewerbes inhärent ist. Dem Kunstgewerbe oder vielleicht auch nur dem zurzeit theoretisch ergründeten Gebiet des Design wird unterstellt, Anderes zu wissen und auch anders zu wissen. Der Fokus richtet sich für das Kunstgewerbe aber vielmehr auf die prekärer Grenzen und auf die Praktiken diese zu verschieben, zu stabilisieren, zu etablieren, zu unterlaufen usf. Mit der Geschichte des Kunstgewerbes gibt es ein Feld, welches interessante Perspektiven auf die Erfindung und Verspannung künstlerischer Wissens-Praktiken bietet. Das Kunstgewerbe nimmt mit den großen internationalen Weltausstellungen und mit der Gründung von Museen, Schulen und Zeitschriften in der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Tätigkeit auf. Um nichts anderes ist es dieser Neugründung zu tun als Wissensgebiete neu zu formieren, Kunst und Gewerbe miteinander zu verschrauben. Diese sich institutionalisierende, internationale Neugründung könnte nicht allein für die Ding- und Designtheorie von Interesse sein, sondern auch in einem weiteren Rahmen als Wissenskultur der Künste. Denn das Kunstgewerbe hat wirkmächtige Differenzierungen getroffen. Kunst wird von angewandter Kunst, Kunstwerk von Gebrauchsgegenstand, gute von bösen Dingen unterschieden. Auch wenn „kunstgewerblich“ heute vor allem noch ein sprachlicher Rest ist, mit dem sich misslungene Gestaltung, schlechter Geschmack, der Abstieg von der Kunst in die Niederungen des Nichtkünstlerischen adressieren lässt: einem Projekt zu den Wissensgeschichten des Kunstgewerbes ist es keineswegs darum zu tun, Aufwertung zu betreiben (Achtung: Wissen!), sondern die Verspannungen in dieser Gründungsgeschichte in den Blick zu nehmen. Und die allseits verbreitete Rede der Kunstgewerbler von der „Krisis im Kunstgewerbe“ ernst zu nehmen. 77Richard Graul: Krisis im Kunstgewerbe, Leipzig 1901. Was hier in die Krise geriet, bringt auch nachträglich keine Geschichte des ganz anderen Wissens hervor oder in Vergessenheit Geratenenes, Unaufgeschriebenenes. 88So etwa bei Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012. So ist auch zunächst aus den dinglichen und textlichen Hinterlassenschaften der Kunstgewerbler wenig über das implizite, verkörperte Wissen des Kunsthandwerks in Erfahrung zu bringen. Mit William Morris und Co. (arts and crafts) sind zwar gerade diejenigen zu Protagonisten der Kunstgewerbebewegung erkoren worden, welchen mit dem handwerklichen Tun eine besondere Sensibilität in der Auseinandersetzung mit Material zugetraut werden kann; eine Art Ding-Wissen, das über die gute Gestaltung von Dingen hinausgeht (es ist immer auch gute Arbeit im Spiel). Damit rückt Wissen um die Anfertigung von Dingen in den Fokus, welches einem tradierten (Weitergabe durch Autoritäten in einer Werkstatt, Übung) und nicht verschriftlichten Wissen zu verdanken ist. Jedoch gibt es noch eine Fülle anderer Ansatzpunkte, um die Geschichte des Kunstgewerbes in den Blick zu nehmen.

Ein konkretes Beispiel wäre Gottfried Sempers „Zusammenarbeit“ von Ingenieurkunst und „Culturwissenschaft“. Sein mathematisches Wissen, das er als Student der Mathematik und als Ingenieur erworben und praktiziert hat, wendet Semper auf die „Culturgeschichte“ der Gebrauchsdinge an. 99Vgl. Ute Poerschke: „Architecture as a Mathematical Function: Reflections on Gottfried Semper“, in: Nexus Network Journal (2012), Vol. 14/Issue 1, S. 119-134. In der zweibändigen umfangreichen Kulturgeschichte Der Stil erzählt Semper die menschheitsgeschichtliche Entwicklung an Dingen entlang. Gefäße spielen dabei eine entscheidende Rolle: „Man zeige die Töpfe, die ein Volk hervorbrachte und es läßt sich im Allgemeinen sagen, welcher Art es war und auf welcher Stufe der Bildung es sich befand!“, schreibt Semper in der Einleitung. 1010Gottfried Semper: Der Stil, Band 2, München 1863, S. 3. Denn Gefäße bringen nicht allein eine entscheidende Differenz in die Welt (bewahren, speichern, transformieren), sondern an ihrem Beispiel kann Semper analysieren, inwiefern kulturelle Unterschiede auch von klimatischen, historischen u.a. Bedingungen abhängen. Am Fluss herrscht ein anderer Gefäßgebrauch als am Brunnen, und entsprechend bezieht Semper die Gestaltung von Gefäßtypen mit ihren Henkeln, Ausgüssen und Eingüssen auf differente Handhabungen und Bedingungen. In Sempers theoretischem Nachlass an der ETH in Zürich findet sich im Material mit seinen Vorarbeiten zu Der Stil eine Zeichnung. Das Blatt trägt auf der einen Seite Umrissformen verschiedener Gefäßtypen: Vasen, Teekannen, Amphoren; auf der Rückseite ist das Papier mit Infinitesimal- und Differenzialgleichungen beschriftet. Dass beide Seiten aufeinander bezogen sind ­– auch wenn nicht klar ist, was genau Semper ausrechnet, da die Gleichungen bruchstückhaft sind – ist eindeutig, weil in die Gefäße jeweils Koordinatensysteme und Winkel eingezeichnet sind. Semper versucht die Gefäße zu berechnen und dem Verhältnis von Gefäßform und Ausguss auf die Spur zu kommen. Dabei bleibt er eine mathematische Begründung der Gefäßformen schuldig. Die Zeichnung zeugt von einer Engführung mathematischen und kulturwissenschaftlichen Wissens. Ein Ergebnis – welches etwa in Veröffentlichungen Platz gefunden hätte – zeitigt sie nicht. Aber das Tun selbst zeigt, mit welcher Bereitschaft zur Verspannung von Wissensgebieten Semper hier vorgeht. Und damit ist er unter den Kunstgewerblern nicht allein. Diesen Verspannungen nachzugehen perspektiviert die Wissensgeschichten des Kunstgewerbes. Nach diesen Verspannungen zu suchen ist Anliegen eines größeren Projektes. Semper schreibt mit den Dingen Kulturgeschichte und erfindet sogar eine Formel für sie, die er aus seinen Dinganalysen ableitete. Mit seiner mathematischen Gleichung lässt sich nicht rechnen, sie lässt sich aber als Äußerung der Verspannungstechnik des Kunstgewerbes in den Blick nehmen.

    Fußnoten

  • 1So untersucht etwa Barbara Wittmann die Skizze als basale Technik in Naturwissenschaften sowie Künsten.
  • 2Vgl. hierzu Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch, Daniel Tyradellis (Hg.): Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung, Berlin, Zürich 2013.
  • 3Vgl. Iris Därmann: Kulturttheorien zur Einführung, Hamburg 2010, S. 28.
  • 4Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, Frankfurt a.M. 2005.
  • 5François Julien: Über das Fade. Eine Eloge zu Denken und Ästhetik Chinas, Berlin 1999.
  • 6Siegfried Kracauer: Geschichte – vor den letzten Dingen, in: Ders.: Schriften, Bd. 5.2., Frankfurt a.M. 1990 und Dorothee Kimmich: Lebendige Dinge in der Moderne, Konstanz 2011, S. 54.
  • 7Richard Graul: Krisis im Kunstgewerbe, Leipzig 1901.
  • 8So etwa bei Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012.
  • 9Vgl. Ute Poerschke: „Architecture as a Mathematical Function: Reflections on Gottfried Semper“, in: Nexus Network Journal (2012), Vol. 14/Issue 1, S. 119-134.
  • 10Gottfried Semper: Der Stil, Band 2, München 1863, S. 3.
/47/
Index von Ausgabe #1