Zur Disposition eines verschwiegenen Wissens im Tanz oder: Die Kunst der Beziehungsstiftung

Ausgabe #3
November 2014
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Der Bühnentanz kann unumwunden als Gattung gelten, deren verkörperte Bewegungskunst „mehr weiß als sie zu sagen weiß“ (Michael Polanyi). Mit dieser gleichsam schillernden Figur eines tacit knowing scheint hinlänglich ein Wissen bestimmbar, das körperzentriert und prozessual am Werk einen „schweigenden“ Bereich zu umschreiben scheint. Vor dem Hintergrund dieser einleuchtenden wie fragwürdigen Perspektivierung von Polanyis Denkfigur und der ästhetischen wie kulturellen Wirkmächtigkeit eines ‚anderen‘ Wissens im Tanz wird die dynamische Struktur ‚implizit (zu) wissen‘ als Modell einer aktivierten Beziehungsstiftung befragt.

I Wissen/Erscheinen lassen

Tatsächlich tritt Wissen im Tanz in Gestalt von körperlichen Bewegungsprozessen auf. Insbesondere Tänzer_innen verstehen Bewegungswissen dergestalt zu verkörpern, dass sie räumliche Sequenzen, Körperformungen, Rhythmen und Qualitäten in Bewegung nicht nur generieren, sondern nahezu jederzeit wiederholen können. In ihren Körpern ist ein Wissen am Werk, dass sich erkennbar artikuliert, zeigt, sich ausdrückt und wahrnehmbar vermittelt. Doch gleichwohl es sich im Aufführungsgeschehen performativ entfaltet und mit präzisen ästhetischen Funktionen und Wirkungen überein kommt, die mitunter virtuose, ausdrucksstarke oder energetisch betörende Bewegungsbilder erzeugen, bleiben die Verfahren ihrer ästhetischen Generierung verdeckt. Die angewandten Prozeduren, Mechanismen und Kniffe scheinen sich regelrecht zu entziehen, dient das Wissen doch einer praxeologischen Bewegungsgenerierung und nicht der theoretischen Explikation. 11Spätestens die internationale Tagung der Bundeskulturstiftung „Wissen in Bewegung“ (2006) hat einer großen Öffentlichkeit kenntlich gemacht, dass Tanz als performativer Körperkunst ein Wissen über Körper-in-Bewegung inhärent ist. Der Tagungsband veranschlagt dieses Wissen vornehmlich als ein verkörpertes Denken und beleuchtet es am Schauplatz des sich bewegenden Körpers aus verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Perspektiven. In ihnen wird das spezifische Wissen methodologisch different gefasst: Für Gabriele Brandstetter eröffnet es wissenschaftstheoretisch Bereiche eines Nicht-Wissen, Gabriele Klein fasst es soziologisch als Akt einer körpergebundenen kollektiven Widerstandsarbeit und kulturhistorisch kommt es nach Inge Baxmann mit performativen Gedächtnisakten spezifischer Erfahrungswerte gleich. Vgl. Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hrsg.): Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld 2007.

Thematisch sind wir damit gewissermaßen einem Wissen auf der Fährte begegnet, das durch einen konstitutiven Entzug durchzogen und von inneren Widersprüchen geprägt ist. Unser Versuch, die angelegten Praktiken in ihrer konstitutiven Verschränkung von Körper und Wissen analytisch aufzublättern, verfängt sich in dem Umstand, dass Wissen im Tanz jenseits seines verkörperten Auftretens nicht zu betrachten und ohne den Körper nicht zu denken ist. Wir bekommen es mit einem performativen wie vergänglichen, transformatorischen wie transitorischen Bereich zu tun, der sich quasi von der Hinterbühne des Theaters vor den Körpern und ihrer Erscheinung aufspannt. Die Alterität des tänzerischen Wissenskonzepts ist, wie sich im Anschluss an Martina Dobbes Beitrag Ander/e/s W/wissen. Die Pose im und als Bild pointieren lässt, damit geradezu radikal gegeben. Gerade im Tanz geht es „um ein anderes Wissen […], d.h. um einen anderen Begriff von Wissen – um ein Wissen, das, anders als das propositionale Wissen der Wissenschaften, nicht notwendig mit (subjektiver) Gewissheit und (objektiver) Wahrheit konnotiert ist, gleichwohl eine Fähigkeit benennt, die spezifische Formen von Erkenntnis ermöglicht wie umgekehrt aus diesen resultiert.“ 22Martina Dobbe: „Ander/e/s W/wissen. Die Pose im und als Bildin“, in: wissenderkuenste.de 2 (2014), <https://wissenderkuenste.de/texte/ausgabe-2/anderes-wwissen-die-pose-im-und-als-bild/> zuletzt aufgerufen am 29.09.2014. Der Modus ‚anders zu wissen‘ trägt im Tanz aufgrund seiner Körperbezogenheit radikalisierte Züge, scheinen seine Wissensvollzüge doch ausschließlich mit operierenden Prozessen einer körperlichen Könnerschaft gleichgesetzt zu sein: Wissen wird im Tanz primär anwendungsorientiert im praktischen Vollzug prozessualisiert. Da diese Vollzüge am Schauplatz des Körpers operieren, sich generieren und zeigen, weist seine Art ‚anders zu wissen‘ für manche Wissenschaftler in utopierende Theoriezonen eines ‚anderen Wissens‘ und markiert einen „Vorstoß in Bereiche […] des Unvorhersehbaren, des Nicht-Wissens, des Unkontrollierbaren als Anspruch einer anderen Erfahrung und eines anderen politischen Engagements“. 33Gabriele Brandstetter: “Tanz als Wissenskultur – Körpergedächtnis und wissenstheoretische Herausforderung”, in: Gehm, Husemann, von Wilcke (Hrsg.): Wissen in Bewegung, S. 37-49, hier S. 48. Praxeologisch markant werden die Wissensmodi im Tanz allerdings vor allem in Momenten der Krise: Krisen, die den Körper als Schauplatz des Wissens angreifen.

II Der Auftritt des Wissens

Im Kern ist TanzWissen 44Der Begriff ‚Tanzwissen‘ wird von der Tanzwissenschaft als kritischer Begriff geführt und zwar in der doppelten Bedeutung: als ein Begriff, der wissenschaftstheoretisch ein kritisches Potential trägt und als Begriff, der selbst kritisch ist. Letzteres beleuchtet Gabriele Klein in ihrer Argumentation für den „Tanz als hybride Wissenkultur“: „Denn wer von Tanzwissen als einem anderen Wissen spricht, setzt ein ‚eigentliches‘ Wissen voraus. […] Tanzwissen kann von daher immer nur die Negation des modernen Wissens sein. […] Dieses körperliche Wissen wird, kulturkritisch gewendet, mitunter als authentisches, zivilisatorisch verschüttetes Wissen markiert und als solches mythologisch erhöht […].“ Damit wendet sich Klein gegen die moderne Mythologisierung von Tanz „als das Andere“ der Gesellschaft und sucht den Wissensbegriff „als unmittelbar körperliches Praxiswissen“ zu verabschieden zugunsten eines auf Widerstreit basierenden Konglomerats verschiedener Wissensformen. Gabriele Klein: „Tanz in der Wissensgesellschaft“, in: Gehm, Husemann, von Wilcke (Hrsg.): Wissen in Bewegung, S. 25-37, hier S. 29., wird es als verkörperter Topoi umrissen, dem Tode geweiht.Kulturell augenfällig wird dies, wenn – wie in den letzten Jahren – prominente Choreographen und Tänzer großer Kompanien wie etwa Pina Bausch (†2009) und Merce Cunningham (†2009) sterben, denn ihr Tod wirft Fragen nach dem Vermächtnis ihres Ouevre und den Möglichkeiten der Weitergabe eines sich dissozierenden Wissens auf. Der reale Entzug des mit dem Choreographen lebendig verkörperten ästhetischen Wissens konfrontiert insbesondere den modernen und zeitgenössischen Bühnentanz mit den prekären Optionen, ästhetisch-kulturelle Gedächtnispraktiken des spezifischen Tanzstils und der Choreographien zu bilden.

Hierzu sind es zum einen Rechtsformen wie Trusts oder Foundations, die die Erbschaftsfragen regeln und kulturelle wie gesellschaftspolitische Ziele für die Weitervermittlung des ästhetischen Wissens formulieren. Der 2011 gegründete Cunningham Trust etwa stellt sich der Aufgabe „to preserve, enhance, and maintain the integrity of that choreographic and other artistic work, and make such works available for the benefit of the public.“ 55<http://www.mercecunningham.org/trust> , zuletzt aufgerufen am 29.09.2014. Demgegenüber verschreibt sich die Pina Bausch Foundation dem Auftrag, „das künstlerische Erbe der großen Tänzerin und Choreografin zu bewahren, lebendig zu halten und in die Zukunft zu tragen.“ 66<http://www.pinabausch.org/de/foundation/mission>, zuletzt aufgerufen am 29.09.2014. Die kultur- und gesellschaftspolitischen Differenzen beider Institutionen gehen zurück auf eine unterschiedliche Politik des Ästhetischen. Denn während das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch das Repertoire von Bauschs Choreographien mit seinen langjährigen Tänzern aufführungsspezifisch pflegen und ‚lebendig‘ halten will, wurde die Merce Cunningham Dance Company 2011 nach dem Willen von Merce Cunningham aufgelöst. Der Tod des Choreographen markiert hier deutlich die Grenze eines sich lebendig fortschreibenden TanzWissens, von dem das Anliegen der kulturellen Weitergabe jedoch unberührt bleibt. Der Cunningham Trust vergibt seither an ausgewählte Kompanien die Aufführungsrechte für einzelne Choreographien.

Interessanterweise führt die nunmehr notwendige Aushandlung, wie das TanzWissen unabhängig von seiner autorisierten Verkörperung vermittelt und ästhetisch und kulturell dennoch weiterhin körperlich tradiert werden kann, zu einer von beiden Organisationen vorangetriebenen Archivierungspraxis. Der Cunningham Trust bereitet ebenso wie die Pina Bausch Foundation die wichtigsten Informationen und Materialien der Produktionen (u.a. Kostüme, Requisiten, Bühnenbilder) auf, um sie mit Entwürfen und Aufzeichnungen (wie etwa Fotografien, Filmen und Notationen) zusammen zu führen, die in medialen Ensembles veröffentlicht werden. 77Hervorzuheben sind die unter Dance Capsules veröffentlichten Materialien des Cunnignham Trusts. Vgl.<http://dancecapsules.mercecunningham.org>, zuletzt aufgerufen am 29.09.2014. TanzWissen wird jenseits des Körpers adressiert und als Praxis der Medialisierung erkennbar. Das Phantasma einer ausschließlichen Körperlichkeit von TanzWissen und dem Körper als seinem Wissensmedium weicht hier buchstäblich der Einsicht in die mediale Disposition seines ästhetischen Lernfeldes und seiner kulturellen Gedächtnispraxis der Verkörperung. Die Frage nach einer adäquaten Vermittlung kehrt die mediale Disposition des TanzWissens hervor, die, in aktivierte Bezugnahmen zu verschiedenen Materialien und Medien, wie Bildern, Imaginationen, sprachlichen oder schriftlichen Anweisungen oder Notationen eingelassen, hervorgeht. Die Krise des Körperentzugs generiert ein Wissen vom Tanz, mit dem die schweigend mitgeführten Praxen seiner Medialisierung als Akte der Vermittlung offensichtlich werden.

III Das Geflecht des schweigenden Wissens

Im Grunde ist man vorschnell geneigt, das tänzerische wie choreographische Wissen in seiner Verkörperung mit einem rein praktischen Wissen zu identifizieren, einem „knowing how“ (Gilbert Ryle, 1946) 88Gilbert Ryle: “Knowing how and knowing that”, in: Proceedings of the Aristotelian Society 46 (1945 – 1946), S. 1-16. Ryle trifft die Unterscheidung zwischen einem in Praxisvollzügen gelebten Wissen, einem prozeduralen Können („knowing how“) und einem in Begründungen theoretisch eingebetteten Wissen („knowing that“)., das mit generierten Körper- und Verkörperungsprozessen übereinkommt und sich ausschließlich in Praxisvollzügen zeigt. Als reines Erfahrungswissen zeigt sich ein gelebtes und prozedurales Können. Beschrieben ist ein Wissenstypus, der solitär, personifiziert und momentan gleichwohl konkret erfahrbar und wahrnehmbar ist und doch keineswegs ein epistemisches Wissen bildet. Kategorial durch Gilbert Ryle von einem „knowing that“ unterschieden, einem theoretisch eingebetteten Wissen, das sich in Erkenntnissen niederschlägt, treten sich zwei verschiedene Wissenspraktiken gegenüber, die Kenntnis-Wissen (knowledge) von Wissenschaft (science) scheiden. 99Gilbert Ryle:The Concept of the Mind. London 1949, S. 1-10. Ihre Optionen, sich methodologisch auszuweisen und gewissermaßen ein Wissen über ihr Wissen veräußern zu können, sind kategorial geschieden: „knowing how“ zeigt sich ausschließlich in der Anwendung, ohne sich explizieren zu können. Identifizieren wir TanzWissen über die Denkfigur des „knowing how“ mit einem gelebten und wirkenden Körperwissen und prozeduralen Können, so steht uns letztlich ein ‚verschwiegener‘ Wissensbereich gegenüber, trägt er doch nicht die Option, sich methodisch darlegen zu können. Unser Bestreben, die angelegten Wissenspraktiken zu analysieren und in ihren Prozeduren zu verstehen, trifft so besehen auf keinen Gesprächspartner und wäre gänzlich verwiesen auf unsere Kunst, momentan und situativ seine performativen Artikulationen wahrzunehmen.

Bedenken wir aber die wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischen Studien des Chemikers und Philosophen Michel Polanyi über „knowledge“ im Sinne eines impliziten Wissens, ausgewiesen als „tacit knowing“, gewinnt unser Vorhaben Kontur. „Tacit knowing“ weist nach Polanyi einen Wissensbereich aus, in dem der Agent (etwa ein Tänzer) mehr weiß, als er selbst zu sagen weiß. 1010„Knowledge is an activity which would be better described as a process of knowing.“ Michael Polanyi: Knowing and Being. Essays by Michael Polanyi, London 1969. Generell fasst Michael Polanyi (1895-1976) Wissen im Sinne eines Bewußtseins- und Denkprozesses als ein knowing-in-action auf. Wissen bezeichnet demnach einen Akt, der im Erkennen, Tun, Denken oder Wahrnehmen wirksam ist.Polanyis erkenntnistheoretische Untersuchungen werden durch die bewusstseinsphänomenologische Überlegung gestützt, „dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen.“ Michael Polanyi: The Tacit Dimension, Garden City, New York 1969, hier zitiert in der deutschen Übersetzung. Ders.: Implizites Wissen, S. 14. Das methodische Dilemma scheint sich zu verschärfen, wohnt diesem Wissensbereich doch eine Dynamik inne, in dem sich ein Anteil als notwendige Grundlage des Wissensprozesses immer entzieht. So weist Polanyi „tacit knowing“ als einen Modus aus, der aus einer eigentümlichen Bewegung hervorgeht. Implizites Wissen beschreibt einen konstitutiven Akt, der phänomenologisch durch eine intentionale Operationsstruktur getragen ist: einer verbindenden Bewegung ‚von … zu‘. Polanyi führt erklärend an: „wir wenden uns von etwas her etwas anderem zu und werden seiner im Lichte dieses anderen gewahr. Wir können dies die phänomenale Struktur des impliziten Wissens nennen.“ 1111Polanyi: Impilzites Wissen, S. 20. Im Wirkungsbereich des impliziten Wissens bleibt ein Anteil notwendigerweise im Dunkeln, um mit seinem Hintergrund, ihm gewissermaßen blind vertrauend, die Wahrnehmung auf etwas anderes richten zu können. 1212Polanyi erkennt im impliziten Wissen einen Akt mit dynamischer Struktur, die zwei Terme, einen proximalen (dem Körper näherliegend) und einen distalen (dem Körper entfernten) aufeinander bezieht und in einer phänomenologischen und funktionalen Beziehungsstruktur verbindet. Vgl. aus sportwissenschaftlicher Perspektive: Georg Hans Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie von Michael Polanyis, Münster, New York, München 1999. Implizites Wissen beschreibt demnach die Kunst, sich auf einen Wissensanteil verlassen zu können, aus dem heraus es handlungs- oder erkenntnisorientiert wirksam wird.

Ein Versuch, die Wissenspraktiken im Tanz als angewandtes Körperwissen zu analysieren, ist damit nicht einer gänzlich entzogenen Zone des Verschwiegenen konfrontiert, sondern begegnet einem dynamisch operierenden Bereich, der aus einer Pendelbewegung zwischen einem Anteil und einem anderen in einer gerichteten Bewegung ‚von … zu‘ hervorgeht. Implizitem Wissen liegt nach Polanyi eine phänomenale Aufmerksamkeitsstruktur zu Grunde, die sich im Tanz in ausdifferenzierten Bewegungs- und Wahrnehmungsakten artikuliert. Trainiert werden komplexe Aufmerksamkeitsstrukturen, die unter spezifischen Regeln Formen der Mobilisierung, Koordination, Ausrichtung und Orientierung prägen. Diese Wahrnehmungs- und Operationsakte spannen sich vom eigenen Körper auf etwas anderes hin aus, um als implizites Wissen wirksam zu werden und sich zu zeigen.

IV Tanz/Wissen auflesen

TanzWissen lässt sich paradoxer Weise nur beobachten und untersuchen, wenn man den Blick vom Körper – an dem es sich funktionsgebunden als Könnerschaft zeigt – rückwendet auf jene Regeln, Materialien, Anweisungen und Bilder, in deren phänomenale und funktionale Beziehungsstruktur die körperliche Könnerschaft des Tänzers als Artikulationsweise seines TanzWissens eingebettet ist. Im Tanz ist der Körper Raum, Praxis ist Diskurs und Erscheinung, diese sind Reflexionsfläche und Material, Medium und Instrument des Bewegungswissens. Und doch findet TanzWissen im Körperlichen weder seinen Ursprung, noch bildet der Körper eine lokalisierte Stätte dieses Wissens. Die vorschnelle und einseitige Begriffsbestimmung, Wissen im Tanz im Sinne von Gilbert Ryle als ein reines Erfahrungswissen – einem “knowing how“ – zu identifizieren, ein gelebtes und prozedurales Können, täuscht über die tatsächlich körperlich vollzogene Auseinandersetzung mit ‚etwas anderem‘ hinweg. Materialisiert und medialisiert vollzieht sich eine Vermittlungsarbeit zwischen Körpern und Wörtern, Körpern und Körpern, Körpern und Schriften, Körpern und Bildern und Imaginationen, die ein intermediales Geflecht ästhetischer Operationen ausbilden.

    Fußnoten

  • 1Spätestens die internationale Tagung der Bundeskulturstiftung „Wissen in Bewegung“ (2006) hat einer großen Öffentlichkeit kenntlich gemacht, dass Tanz als performativer Körperkunst ein Wissen über Körper-in-Bewegung inhärent ist. Der Tagungsband veranschlagt dieses Wissen vornehmlich als ein verkörpertes Denken und beleuchtet es am Schauplatz des sich bewegenden Körpers aus verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Perspektiven. In ihnen wird das spezifische Wissen methodologisch different gefasst: Für Gabriele Brandstetter eröffnet es wissenschaftstheoretisch Bereiche eines Nicht-Wissen, Gabriele Klein fasst es soziologisch als Akt einer körpergebundenen kollektiven Widerstandsarbeit und kulturhistorisch kommt es nach Inge Baxmann mit performativen Gedächtnisakten spezifischer Erfahrungswerte gleich. Vgl. Sabine Gehm, Pirkko Husemann, Katharina von Wilcke (Hrsg.): Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz, Bielefeld 2007.
  • 2Martina Dobbe: „Ander/e/s W/wissen. Die Pose im und als Bildin“, in: wissenderkuenste.de 2 (2014), <https://wissenderkuenste.de/texte/ausgabe-2/anderes-wwissen-die-pose-im-und-als-bild/> zuletzt aufgerufen am 29.09.2014.
  • 3Gabriele Brandstetter: “Tanz als Wissenskultur – Körpergedächtnis und wissenstheoretische Herausforderung”, in: Gehm, Husemann, von Wilcke (Hrsg.): Wissen in Bewegung, S. 37-49, hier S. 48.
  • 4Der Begriff ‚Tanzwissen‘ wird von der Tanzwissenschaft als kritischer Begriff geführt und zwar in der doppelten Bedeutung: als ein Begriff, der wissenschaftstheoretisch ein kritisches Potential trägt und als Begriff, der selbst kritisch ist. Letzteres beleuchtet Gabriele Klein in ihrer Argumentation für den „Tanz als hybride Wissenkultur“: „Denn wer von Tanzwissen als einem anderen Wissen spricht, setzt ein ‚eigentliches‘ Wissen voraus. […] Tanzwissen kann von daher immer nur die Negation des modernen Wissens sein. […] Dieses körperliche Wissen wird, kulturkritisch gewendet, mitunter als authentisches, zivilisatorisch verschüttetes Wissen markiert und als solches mythologisch erhöht […].“ Damit wendet sich Klein gegen die moderne Mythologisierung von Tanz „als das Andere“ der Gesellschaft und sucht den Wissensbegriff „als unmittelbar körperliches Praxiswissen“ zu verabschieden zugunsten eines auf Widerstreit basierenden Konglomerats verschiedener Wissensformen. Gabriele Klein: „Tanz in der Wissensgesellschaft“, in: Gehm, Husemann, von Wilcke (Hrsg.): Wissen in Bewegung, S. 25-37, hier S. 29.
  • 5<http://www.mercecunningham.org/trust> , zuletzt aufgerufen am 29.09.2014.
  • 6<http://www.pinabausch.org/de/foundation/mission>, zuletzt aufgerufen am 29.09.2014.
  • 7Hervorzuheben sind die unter Dance Capsules veröffentlichten Materialien des Cunnignham Trusts. Vgl.<http://dancecapsules.mercecunningham.org>, zuletzt aufgerufen am 29.09.2014.
  • 8Gilbert Ryle: “Knowing how and knowing that”, in: Proceedings of the Aristotelian Society 46 (1945 – 1946), S. 1-16. Ryle trifft die Unterscheidung zwischen einem in Praxisvollzügen gelebten Wissen, einem prozeduralen Können („knowing how“) und einem in Begründungen theoretisch eingebetteten Wissen („knowing that“).
  • 9Gilbert Ryle:The Concept of the Mind. London 1949, S. 1-10.
  • 10„Knowledge is an activity which would be better described as a process of knowing.“ Michael Polanyi: Knowing and Being. Essays by Michael Polanyi, London 1969. Generell fasst Michael Polanyi (1895-1976) Wissen im Sinne eines Bewußtseins- und Denkprozesses als ein knowing-in-action auf. Wissen bezeichnet demnach einen Akt, der im Erkennen, Tun, Denken oder Wahrnehmen wirksam ist.Polanyis erkenntnistheoretische Untersuchungen werden durch die bewusstseinsphänomenologische Überlegung gestützt, „dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen.“ Michael Polanyi: The Tacit Dimension, Garden City, New York 1969, hier zitiert in der deutschen Übersetzung. Ders.: Implizites Wissen, S. 14.
  • 11Polanyi: Impilzites Wissen, S. 20.
  • 12Polanyi erkennt im impliziten Wissen einen Akt mit dynamischer Struktur, die zwei Terme, einen proximalen (dem Körper näherliegend) und einen distalen (dem Körper entfernten) aufeinander bezieht und in einer phänomenologischen und funktionalen Beziehungsstruktur verbindet. Vgl. aus sportwissenschaftlicher Perspektive: Georg Hans Neuweg: Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie von Michael Polanyis, Münster, New York, München 1999.
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