vergessen

Ausgabe #10
Mai 2021
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Zum Wissen gehört das Nicht-mehr-Wissen, das Vergessen. Vergessen setzt voraus, dass etwas gewusst wurde, aber dem Gedächtnis nicht mehr zugänglich ist. Etwas ist uns entfallen – heruntergefallen, weggefallen, manchmal auch befallen. Für die Psychoanalyse gehört das Vergessen mit dem Versprechen und Vergreifen zur Psychopathologie des Alltagslebens. Es liefert einen Hinweis auf Motive und Wünsche, die wir uns nicht eingestehen, ohne dass bereits eine Verbannung des Gedankens erfolgt ist wie beim Verdrängen oder Verleugnen. 

 

Über die Jahre, die ich am Graduiertenkolleg mitgewirkt habe, es waren bislang fünf, ist „Wissen“ in meinen Ohren ein immer schwierigerer Begriff geworden. Das liegt daran, dass in ihm eine Positivität mitschwingt: Als habe man Wissen wie eine Enzyklopädie. Aber lässt sich das halten? Lässt sich über Wissen verfügen? Eher gilt wohl: Wer glaubt, im Besitz des Wissens zu sein, wäre im Wortsinn „ignorant“, wäre also gerade nicht wissend oder, besser gesagt, nicht wissen wollend. Die Einsicht nämlich, dass jedes Wissen beschränkt und brüchig ist und dass es immer viele davon gibt, müsste jedenfalls zu einem Wissen, das verdient so genannt zu werden, dazugehören.

Die Beschränkungen des Wissens kommen von mindestens zwei Seiten:

Die episteme, um es mit Michel Foucault zu sagen, bilden die grundlegende Ordnung einer spezifischen historischen Kultur, ihrer Sprache, der Wahrnehmungen ihrer Subjekte und ihrer Techniken; sie gibt die Bedingungen vor, unter denen überhaupt, etwas sichtbar und sagbar ist, was also gewusst werden kann, was wissbar bzw. intelligibel ist.11Grundsätzlich Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (1966), Frankfurt/M. 1974; dazu, ebenso grundsätzlich, Gilles Deleuze: Foucault (1986), Frankfurt/M. 1992. Was aber jenseits dieser Ordnung liegt, kann gar nicht gewusst werden.

Ein Querverweise: Martina Dobbe fasst in diesem Glossar das Verb wissen intransitiv, also nicht als Wissen von etwas, sondern als Wissen, das sich auf sich selbst bezieht. Etwa: „Ich weiß nicht …“ Und die Beiträge zum Verb situieren verweisen auf die zweite Beschränkung eines positiven Wissensbegriffs: Mit Donna Haraway machen Hanna Magauer und Ildikó Szántó hier und hier darauf aufmerksam, dass es immer mehrere knowledges gleichzeitig gibt. In diesem Verständnis von Wissen, das auch Kenntnisse oder Fertigkeiten umfasst, bezieht sich knowledges sowohl auf einen Gegenstand, von und über den man etwas weiß, aber immer auch auf das Subjekt, das weiß. Situated and embodied knowledge heißt das dann.22Zu Donna Haraways Aufsatz siehe auch Heather Love: Die Versuchungen. Donna Haraway, feministische Objektivität und die Frage der Kritik, in: Kathrin Busch, Christina Dörfling, Ilidikó Szántó, K. Peters (Hg.).: Wessen Wissen? Materialität und Situiertheit in den Künsten, Paderborn 2018, S. 115–138. https://doi.org/10.25624/kuenste-1287

Vor diesem Hintergrund eines historisch kontingenten und immer streitbaren Wissens, das im Deutschen keinen Plural kennt, möchte ich mich nun zum Ende des Graduiertenkollegs versuchsweise der Negation von Wissen zuwenden. Oder besser: dem Ausweichen oder dem unter dem Wissen Durchtauchen. Dem Vergessen.

Wenn es um Vergessen in den Künsten geht, liegt es nahe, von kulturellem Gedächtnis und Erinnerungspraktiken zu sprechen. Das kulturelle Gedächtnis ist ja nicht starr, sondern schichtet sich fortwährend um, manches wird dann anders erinnert, und Denkmäler zum Beispiel, die bis vor Kurzem noch gänzlich unauffällig waren, können unter den Bedingungen neuen oder aktualisierten Wissens so nicht mehr stehen bleiben.33Z.B. Gesine Krüger: #Denkmalsturz, auf: Geschichte der Gegenwart, 2020 ; 50 Jahre Denkmalsturz. Der Sturz des Wissmann-Denkmals an der Universität Hamburg 1967/68, Forschungsprojekt Universität Hamburg. Man könnte auch sagen, etwas war vergessen worden, ist im Archiv aber auffindbar, sodass es nun, aufgrund diskursiver Veränderungen, mit der Forderung versehen wird, bedacht zu werden. Zwar sind mit der Gedenkkultur und Gedächtnispolitik Fragen berührt, die unser Graduiertenkolleg umgetrieben haben, aber ich darauf dennoch nicht näher eingehen, weil ich mehr als am Erinnern am Vergessen interessiert bin.44Hingewiesen sei auf Aleida Assmann: Formen des Vergessens, Göttingen 2016, zu Vergessen bzw. Vergessen-Machen in Bezug auf Erinnerungskultur.

Aber das Vergessen ist schwer zu fassen. Wie zeigt es sich als? Im Sprechen oft so, dass mir etwas auf der Zunge liegt, ich kann das Wort aber nicht finden. Als vergessen stellt sich ja etwas überhaupt erst in dem Moment heraus, in dem ich es brauche. Das gilt auch für das Verlegen. Erst wenn ich mein Portemonnaie benötige, merke ich, dass ich es verlegt habe, zuvor war ich ahnungslos. Um das verlegte Ding zu finden, kann ich mein Gedächtnis durchforsten, die Zeit in Gedanken zurückgehen, um den Strom von kleinen Tätigkeiten und Wahrnehmungen des Alltags in eine bewusste Abfolge zu bringen. Irgendwo habe ich das Ding hingelegt. Irgendwo im Gedächtnis ist das fehlende Wort. Es fällt mir nur nicht ein.

In der Psychopathologie des Alltagslebens, Siegmund Freuds Beispielsammlung von 1901, ist das schön beschrieben. Freud präsentiert hier seine Sammlung von Fällen, die er aus der Selbstbeobachtung, aus Begegnungen oder Behandlungen zusammengetragen hat.55Siegmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum, Frankfurt/M. 2000. Das Dossier listet eine ganze Reihe von Vergessenstypen auf: das Vergessen von Namen, von Wörtern, das Versprechen, das Verlesen und Verschreiben, die Namensvertauschung, das Verlegen von etwas. Ich möchte zwei Beispiele nennen, die Freuds Schluss veranschaulichen, der darin besteht, dass Vergessen nicht zufällig ist, sondern es jeweils unbewusste Motive gibt, die das Vergessen oder Verlegen motivieren.

Ein Patient möchte Geld aus einer verschlossenen Schublade nehmen, um seinem Psychoanalytiker das Honorar auszuhändigen, findet aber die Schlüssel nicht mehr. Er ist nach vergeblicher Suche überzeugt, dass die Schlüssel ihm aus der Tasche gefallen sind, gibt die Suche auf, bis sie, die Schlüssel, sich später unter einem Bücherstapel finden, „so geschickt hingelegt,“ beschreibt Freud es, „daß niemand sie dort vermutet hätte“. Die Schlüssel waren also mit „unbewusster Geschicklichkeit“ verlegt worden, aus Unmut, so die Analyse, bei „schlechtem Befinden ein hohes Honorar zahlen zu müssen.“66Ebd., S. 203.

Ein zweites Beispiel: Freud lernt einen jungen Mann kennen, der im Gespräch einen Vers Vergils zitieren möchte, aber ihm fehlt ein Wort, das Wort „aliquis“, was nur ein unbestimmtes Pronomen ist (wir befinden uns in den Bildungsrhetoriken des späten 19. Jahrhunderts). Weil der junge Mann der Psychoanalyse zugeneigt ist, forschen sie gemeinsam nach: Es folgt eine Assoziationskette, die von Reliquien über Liquidation bis Flüssigkeit reicht. Sie führt weiter zum Blutwunder in Neapel, wo das Blut einer Ikone einmal im Jahr wieder flüssig wird. Dann fällt dem jungen Mann ein: Er erwartet eine Nachricht seiner Freundin, die unangenehm sein könnte. Freud: „Daß ihr die Periode ausgeblieben ist?“77Ebd., S. 75. Das ist es. Die Erwartung dieser Nachricht hat das Wort „aliquis“ vergessen gemacht oder, in psychoanalytischem Vokabular: verdrängt. Freud resümiert, dass sich das Vergessen in allen Fällen als durch ein Unlustmotiv begründet erwies.88Ebd., S. 197.

Aber auch hier, bei diesen Lapsus, steht das Erinnern oder eben die Auflösung des Vergessenen in der Deutung im Mittelpunkt – weniger das Vergessen selbst. Was an Freuds Darstellung so wichtig ist: Das Vergessene ist da, es ist nicht verloren.

Freud hat das später in der Wunderblock-Metapher gefasst. Das ist, nur zur Erinnerung, eine Art Tafel, auf der geschrieben und das Geschriebene durch einen Mechanismus auch wieder gelöscht werden kann, dabei aber auf einer darunterliegenden Matrize erhalten bleibt. Daran lässt sich anknüpfen, medientheoretisch (und ohne die Frage der Verdrängung). Das Vergessene ist nicht verschwunden. Es schichtet sich auf, überlagert sich, es hinterlässt eine Spur, auch wenn diese nicht mehr leserlich ist. Hartmut Winkler stellt fest, dass ein Wahrnehmungsereignis im Vergessen zwar untergeht, aber eben nicht spurlos, dass nämlich das wahrnehmende Subjekt sich mit jeder Wahrnehmung verändert. Im Vergessen wird die „unendliche Fläche von Einzelwahrnehmungen in Subjekt-Strukturen um[ge]arbeitet“, mit denen das Subjekt „neuerlichen Wahrnehmungen begegnet.“99Hartmut Winkler: Diskurse, Aufschreibesysteme, Techniken, Monumente – Entwurf für eine Theorie kultureller Kontinuierung, in: Hedwig Pompe, Leander Scholz (Hg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 297–315, hier S. 307.

Wir wären so gesehen die Summe des von uns Vergessenen. Und zwar in dem Sinne, dass das Vergessene überschrieben und verdichtet ist. Wir erinnern ja eher selten, was wirklich geschah. Vielleicht ist es sogar weniger bemerkenswert, was wir alles vergessen, als dass wir überhaupt etwas erinnern. Also dass aus den Wahrnehmungen, die uns umfließen, nachträglich manchmal etwas geradezu grell heraussticht: Ein Satz, eine Szene, ein Eindruck.

Vergessen ist notwendig. Es ist, mit Maurice Blanchots Text über das Neutrale, ein Vermögen, um zu leben, zu handeln, zu arbeiten und zu erinnern. Das Vergessen ist ein Vermögen, aber zeigt uns zugleich ein Unvermögen an. Denn ein Wort zu vergessen heißt, der Möglichkeit zu begegnen, so Blanchot, dass jedes Wort vergessen ist. „Das Vergessen ist, während es die Sprache um das vergessene Wort versammelt, Aufruhr der Sprache als Ganzes.“1010Maurice Blanchot: Vergessen, Irrsinn (1961), in: ders.: Das Neutrale. Schriften und Fragmente zur Philosophie, Zürich/Berlin 2010, S. 147–158, hier S. 147.

Dass ich überhaupt durch die Tage komme, hin und her zwischen Vergessen und Verlegen, erscheint mir manchmal als schierer Glücksfall. Eine Reihe von Dingen stehen zur Verfügung, die helfen sollen, die Möglichkeit alles zu vergessen, zu bannen. Terminkalender, Notizbücher, tragbare Computer mit Datenbanken und Smartphones mit Suchmaschinen. Auch Vortragstexte und Stichwortlisten gehören dazu. Gerade im wissenschaftlichen Arbeiten kommen diese Dinge häufig zum Tragen. Sie liegen auf unseren Arbeitstischen während des Kolloquiums. Aber auch sie lassen sich verlegen. Auf der Veranstaltung sharing/learning (die wir 2019 im Projektraum District veranstaltet haben) hatte ich meinen Kalender liegen gelassen und weil der Workshop-Leiter ihn versehentlich eingepackt hatte, aber daraufhin in Urlaub gefahren war, musste ich zwei Wochen ohne diesen Kalender auskommen. Erstaunlicherweise hatte ich mir, wie sich im Lauf der Wochen herausstellte, alle Termine gemerkt und versäumte keinen einzigen. Nur Abgabefristen verpasste ich und würde das ohne Umschweife, in womöglich zu schneller Selbstanalyse, einem Unlustgefühl zuschreiben. Dass der Workshopleiter ausgerechnet dem Clusterduck Collective angehörte, das sich mit kritischer Internetpraxis beschäftigt, nehme ich als Indiz dafür, dass jede Theorie des digitalen (An-)Archivs die subjektive Vergesslichkeit seiner Akteur*innen und die Materialität der Dinge immer bedenken muss.1111So auch Winfried Gerling/Susanne Holschbach/Petra Löffler: Bilder verteilen. Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld 2018. Der medientheoretische Begriff des Anarchivs beschreibt wuchernde Archive, das höchstens einer idiosynkratischen Ordnung folgt (Ernst, Zielinski).

Es scheint mir vorläufig so, als ob wir das Wissen in Verbindung zum Vergessen denken sollten. Das Vergessen ist, noch einmal Blanchot, Nicht-Anwesenheit und Nicht-Abwesenheit.1212Blanchot, S. 147. Es ist gerade durch sein Fehlen anwesend.

Damit schließe ich dieses kleine Dossier. Es auszuarbeiten wäre die Aufgabe eines nächsten Forschungsprojekts.

 

    Fußnoten

  • 1Grundsätzlich Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (1966), Frankfurt/M. 1974; dazu, ebenso grundsätzlich, Gilles Deleuze: Foucault (1986), Frankfurt/M. 1992.
  • 2Zu Donna Haraways Aufsatz siehe auch Heather Love: Die Versuchungen. Donna Haraway, feministische Objektivität und die Frage der Kritik, in: Kathrin Busch, Christina Dörfling, Ilidikó Szántó, K. Peters (Hg.).: Wessen Wissen? Materialität und Situiertheit in den Künsten, Paderborn 2018, S. 115–138. https://doi.org/10.25624/kuenste-1287
  • 3Z.B. Gesine Krüger: #Denkmalsturz, auf: Geschichte der Gegenwart, 2020 ; 50 Jahre Denkmalsturz. Der Sturz des Wissmann-Denkmals an der Universität Hamburg 1967/68, Forschungsprojekt Universität Hamburg.
  • 4Hingewiesen sei auf Aleida Assmann: Formen des Vergessens, Göttingen 2016, zu Vergessen bzw. Vergessen-Machen in Bezug auf Erinnerungskultur.
  • 5Siegmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum, Frankfurt/M. 2000.
  • 6Ebd., S. 203.
  • 7Ebd., S. 75.
  • 8Ebd., S. 197.
  • 9Hartmut Winkler: Diskurse, Aufschreibesysteme, Techniken, Monumente – Entwurf für eine Theorie kultureller Kontinuierung, in: Hedwig Pompe, Leander Scholz (Hg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung, Köln 2002, S. 297–315, hier S. 307.
  • 10Maurice Blanchot: Vergessen, Irrsinn (1961), in: ders.: Das Neutrale. Schriften und Fragmente zur Philosophie, Zürich/Berlin 2010, S. 147–158, hier S. 147.
  • 11So auch Winfried Gerling/Susanne Holschbach/Petra Löffler: Bilder verteilen. Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur, Bielefeld 2018. Der medientheoretische Begriff des Anarchivs beschreibt wuchernde Archive, das höchstens einer idiosynkratischen Ordnung folgt (Ernst, Zielinski).
  • 12Blanchot, S. 147.
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