Julia und die Sonne

Ausgabe #3
November 2014
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Julia und die Sonne ist ein poetischer Text; geschrieben für ein Installationsprojekt, das unter der Regie von Anke Eckardt am 7. Februar 2013 auf der Tagung [Dys]Funktionalität klanglicher Gestaltung: von der Militärmusik bis zum persönlichen Klingelton an der Humboldt Universität in Berlin aufgeführt wurde. Er bezieht sich auf die Interaktion einer solch poetischen Konstruktion und hält die Spannung zwischen Fiktion und Realität, Funktion und Dysfunktion, zwischen alltäglichen und poetischen Erlebnissen und besitzt daher einen experimentellen Charakter.

Es funktioniert!

Funktionieren, ein Verb des Geschehens an einem repräsentativen, imaginären Ort. Es funktioniert, es verhält sich so, wie ich es erwarte, es verhält sich nach den Regeln, die dem Gegenstand – der Sache – zugrunde gelegt wurden, es erfüllt seinen Zweck. Es hat eine Funktion. Es erfüllt seine Funktion.

Julia ist eine Figur Shakespeares, Julia ist ein Zeichen. Sie funktioniert. Sie repräsentiert ihre Funktion, auch wenn sie nicht wie wir in diesem Moment, in diesem Raum anwesend ist. Julia existiert, da Shakespeare sie geschaffen hat. Wie eine Maschine, die signifikante Dinge kreiert, das Zeichen Julia funktioniert.

Julia hat eine imaginäre Existenz. Das Zeichen Julia steht für eine Fähigkeit zur Liebe, es steht für eine Art der Unbedingtheit, für eine Art der Klugheit und Verrücktheit. Keine reale Verkörperung Julias ist in der Lage, dieses Zeichen ausreichend zu repräsentieren, es auszuschöpfen.

Was passiert, wenn das Funktionieren eines Zeichens derart umgestaltet, derart neu konstruiert, derart neu programmiert wird, dass eine Dysfunktion entsteht? Funktioniert es dann nicht mehr? Hört es auf zu existieren? Welchem Zweck folgt dann die unerschöpfliche Möglichkeit, die dem Gegenstand – der Sache – zugrunde liegt? Frage an Julia: „Kann ein gemäß eigener Reflexionssemantik und Selbstbeschreibung nicht länger funktional operierendes (Sub-) System eben dieses latente Nichtfunktionieren zum Anlass eigenen Operierens machen?“

Julia erwiderte: „Ohne Zweifel“.

Ich fragte weiter: „Aber was bedeutet das für die Reflexionssemantik? Und für die Theorieform funktionaler Differenzierung, die sich ihrer implizit bedient?“ Wir redeten über Enno Aljets Artikel Wissenschaft 2.0 11Vgl. Enno Aljet. „Wissenschaft 2.0“. http://sozialtheoristen.de/2011/01/25/wissenschaft-2-0/ zuletzt aufgerufen am 30.09.2014..

Julia sagte: „Gerade gestern Abend unterhielten wir uns in kleiner Runde von Sozialtheoretikern über die Frage, ob es in Anbetracht von Internet und Überschusssinn zur weiteren Ausdifferenzierung der Wissenschaft kommen wird – mit Hilfe neuer Programmtypen oder ähnlichem – oder ob in Anbetracht von Beschleunigung und zunehmender Dysfunktionalität wissenschaftlicher Kommunikation – wie z. B. Orientierung an Zitationsrankings, Aussicht auf Drittmitteleinwerbung usw., ein eigenständiges Subsystem entstehen könnte, welches damit auf mangelnde Interdependenzunterbrechungen, bspw. zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, reagiert. Wo könnte der Ort einer solchen Wissenschaft 2.0 sein, einer Wissenschaft, bei der eventuell gerade die mehr oder weniger latente Dysfunktionalität die eigentliche Funktion darstellt?“

„Gute Frage…“, sagte ich.

Julia erwiderte: „Universitäten werden es vermutlich nicht sein. Ich denke, dieser Dialog kommt dann doch ein wenig lax und als postmoderner Schlendrian daher. Die Frage bleibt. Und sie drängt, zumindest mich: wie kann der inhaltlichen Diskussion über Wahrheit, wie Enno es sagt, zu ihrem Recht verholfen werden, ohne den professionell deformierten Semantiken der jeweils betroffenen Profession oder bloß moralisierenden Appellen anheim zu fallen? Und es ist ja nicht nur die Wissenschaft, die mit diesem Problem konfrontiert ist.“

Julia machte eine kleine Pause, nachdenklich. Sie redete weiter: „Zwar ist die poetische Funktion als Zentrierung auf die Sprache um ihrer selbst willen ein allgemeines Kennzeichen von Sprache, doch sie tritt in der Literatur in besonderem Maße zutage. Ausgehend von Forschungsergebnissen der Phonologie hat Roman Jakobson 22Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Frankfurt a.M. 1971, S. 142-178. Hier S. 151., der große Semiologe, der sich später als Semiotiker bezeichnete“, – fügte Julia ihrer Argumentation hinzu – „linguistische Konzepte auch für die Analyse von literarischen Werken verwendet, was vor allem der Literaturtheorie zu neuen Begriffen und Vorstellungen im Hinblick auf die Poetizität oder Poesiehaftigkeit von Literatur verholfen hat: Eine viel zitierte Feststellung ist: ‚Die poetische Funktion überträgt das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination‘. 33Ebenda, S. 153. Es gibt aber Kritiken an dieser strukturalistischen Position. Die am häufigsten geäußerte Kritik besteht in der Annahme der Saussure’schen Phonologie, dass jede Phoneme von jeder Lautsubstanz gereinigt werden muss und daher sind diese als absolute Einheiten mit einem absoluten klanglichen Wert zu verstehen. Damit geht vielleicht das klangliche Besondere, die nicht-logischen Elemente jeder Sprache verloren.“

Als Julia dies sagte, versuchte sie mit ihrer Stimme die entsprechenden Klänge lauter auszusprechen und diese dabei mit Gestik zu betonen, um klar zu machen, dass die Lautsubstanzen wichtige Bestandteile der Sprache sind. Sie machte eine weitere kurze Pause. Aber mit einem bestimmten Glanz in ihren Augen fuhr sie in ihrem Argument fort: „Während Sprecher einer Sprache gewöhnlich zwischen solchen Wörtern wählen müssen, die sich in ihrer Lautung, Bedeutung oder ihrer syntaktischen Funktion ähneln, aber aufgrund der jeweils anderen Kriterien doch unterscheidbar sind, werden diese Wörter in der Literatur – eigentlich: in der gebundenen Rede der Lyrik! – hintereinander verwendet; prominentes Beispiel ist der Reim. Darüber hinaus benutzt Jakobson die Sprachfunktionen zur Unterscheidung literarischer Genera, indem er sagt: ‚Epische Dichtung, die besonders auf die dritte Person bezogen ist, impliziert vor allem die referentielle Sprachfunktion; die sich auf die erste Person richtende Lyrik ist eng verbunden mit der emotiven Funktion; Dichtung von der zweiten Person ist von der konativen Funktion durchdrungen und ist entweder als flehend oder ermahnend charakterisiert.‘ 44Ebenda, S. 152. Neben der Möglichkeit der Erwartungstäuschung von etablierten sprachlichen oder poetischen Konventionen betont Jakobson, dass die Analyse nicht auf der Strukturebene stehenbleiben darf. Hat man einmal strukturelle Verbindungen herausgearbeitet, muss man in einem zweiten Schritt untersuchen, welche Bezüge auf der Bedeutungsebene damit impliziert werden.“

„Es scheint mir viel dynamischer zu sein als rein strukturell, als wäre dies ein Foto des Prozesses…“ – sagte ich leiser. Julia sagte dazu: »Ja, richtig! Ich stimme dir zu. Strukturanalysen von literarischen Werken haben zur ‚Versachlichung‘ intuitiv hermeneutischer Zugangsweisen beigetragen, sind aber – vor allem wegen der Ausblendung kommunikativer Aspekte zwischen Text und Leser – auch scharf kritisiert worden. Beispiel: Die Aussage Julia ist die Sonne ist als neue Einheit konzipiert, die neue Bedeutungen erzeugt. Sie bezieht sich weder auf das Subjekt noch auf das Objekt als solches. Die Aussage Julia ist die Sonne provoziert einen neuen Referenten, der viel plastischer ist als die Achse des Syntagmas oder die Achse des Paradigmas. Und noch einmal: Die poetische Funktion überträgt das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.“ Julia machte eine kleine Pause und bewegte sich, um eine komfortable Position auf dem Sofa, auf dem sie saß, einzunehmen. Nachdenklich blickte sie auf das Zentrum des kleinen Tisches, der vor dem Sofa stand. Sie besaß einen besonderen Gesichtsausdruck, der verriet, dass sie das Thema mit einer anderen theoretischen Grundlage behandeln wollte. Sie machte das immer so, wenn das Thema innerhalb einer Theorie fast gelöst war: sie kommt ihrem Gesprächspartnern mit schlaglichtartigen Theorien entgegen und provoziert somit neue Diskussionen. Mit ihrer Hand leitete sie eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fiel, sanft hinter Ihr rechtes Ohr. Sie blickte mich an, und plötzlich war das Thema, ebenso wie ihr Gesichtsausdruck, lebendiger. Julia sagte: „Du kennst bestimmt die Semiotik von Charles Peirce?“

Ich sagte: „Ich habe schon einiges gelesen. Ich weiß, dass er kein Strukturalist ist.“

Julia erwiderte: „Ja, genau! Aus diesem Grund hatte Jakobson behauptet, er ist kein Semiologe im klassischen Sinne, sondern ein Semiotiker. Jakobson hat begriffen, dass die Phänomene, die er untersucht hat, viel mehr erfordern, als eine statische Fotografie. Er brauchte etwas Bewegliches, durch welches er den signifikanten Prozess beim Entstehen untersuchen konnte. Und er hat’s bei Peirces Semiotik gefunden.“

Julia sagte dann: „Jetzt kommt’s! Es gibt eine dritte Ebene der Signifikation, weißt du, die schon symbolische, also triadische Beziehungen, in ihren Seinsmodus integriert. Diese können allerdings noch nicht als wahre, logisch-symbolische Relationen bezeichnet werden, denn ihre Signifikationsmodi wirken extrem plastisch, schwebend. Metaphern sind ikonische Zeichen, die durch Interaktion funktionieren. Aber die Interaktion funktioniert nicht durch Ähnlichkeiten zwischen Strukturen, sondern durch miteinander interagierende Repräsentationen. 55Vgl. Charles S. Peirce. Semiotische Schriften, Band 2. Christian J. W. Kloesel und Helmut Pape. Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2000. Die interagierenden Elemente können nicht auseinandergenommen werden, ohne dass man die metaphorische Beziehung verliert. Noch einmal: das Beispiel Julia ist die Sonne. Dieser Satz wirkt auf die Leserschaft nur metaphorisch, wenn er als ein signifikantes Ganzes genommen wird. Trennt man die Termini des Satzes, erhält man verschiedene Bedeutungen als mögliche – und zwar synästhetische! – Aussagen und Propositionen: Julia als die Figur Shakespeares; ein Name, der mir bekannt vorkommt; eine Frau, in die man sich verlieben kann; eine junge Dame aus dem 15. Jahrhundert; Julia als eine reale Person; die Dame, die vor dir in diesem Moment steht und zu dir redet, usw. Die Sonne als unser Stern; als ein Gott der Antike; als ein kleiner Stern im Vergleich zu anderen Himmelskörpern; als der Körper, der das Leben auf unserem Planeten ermöglicht, usw. Aber keine Kombination zwischen getrennten Termini, wie ich vorher sagte, kann die Bedeutung der Aussagen Julia ist die Sonne erschöpfen. Sowie keine begriffliche und analytische Trennung die metaphorische Bedeutung begrifflich erklären oder diese reproduzieren kann.“

„Was meinst du genau?“, fragte ich.

„Ich meine, nur wenn die Termini miteinander interagieren, ist die Herstellung einer Metapher möglich“, erwiderte Julia, „und diese Ikon-Metapher verhält sich wie eine Poesie in Miniatur. Unter dem Satz Julia ist die Sonne könnte man das einprägende Bild eines jungen Mädchens verstehen, das so brillant und kräftig auf das Bewusstsein eines Menschen wirkt, dass dieser Mensch komplett von Julias Licht erfüllt ist. Und dabei ist die Liebe, die sie ausstrahlt, so stark, dass sie jeden verblenden kann. Julias Licht erfüllt und erleuchtet, erschüttert und belebt gleichzeitig; sie erscheint mächtig wie die Sonne selbst, und gleichzeitig derartig fragil und passiv, dass man den Impuls hat, sie mit der sanftesten Geste anzufassen.“ Als Julia dies sprach, benutzte sie ihre Hände, als ob sie das Gesicht einer imaginären Person neben sich tatsächlich berührte.

Und sie fügte hinzu: »Wie gesagt, es geht nicht darum, isoliert an die Sonne oder an Julia zu denken oder beide als separate Konzepte, als Referenz zu nehmen, sondern den ganzen Satz gleichzeitig innerhalb eines dynamischen und poetischen Systems zu berücksichtigen und zu interpretieren. Julia und ich sitzen am Tisch. Sie ist kein veraltetes, kurioses, literarisches Phänomen, sie ist keine veraltete ästhetische Theorie. Wir trinken heiße Milch. Ich gieße mehr in ihr Glas, ein Tropfen fällt daneben. Sie wischt ihn sanft mit dem Finger weg, führt den Finger zum Mund, leckt ihn ab. Ich bin geblendet von der Nacht. Julia schläft, ich schlafe. Die Dämmerung kriecht über den Tisch, kriecht in die heiße Milch. Ich weiß, Julia liebt die Sonne. Julia und die Sonne. Sie besitzt wahrlich ein bestimmtes Licht. Sie strahlt dieses Licht aus und damit erschüttert sie, belebt sie. Als ästhetische Kreation, als schöpferisches Modell des Werdens erscheint Julia in immer neuer Gestalt. Ich kann es sagen. Ich kenne sie. Julia ist die Sonne.

    Fußnoten

  • 1Vgl. Enno Aljet. „Wissenschaft 2.0“. http://sozialtheoristen.de/2011/01/25/wissenschaft-2-0/ zuletzt aufgerufen am 30.09.2014.
  • 2Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Frankfurt a.M. 1971, S. 142-178. Hier S. 151.
  • 3Ebenda, S. 153.
  • 4Ebenda, S. 152.
  • 5Vgl. Charles S. Peirce. Semiotische Schriften, Band 2. Christian J. W. Kloesel und Helmut Pape. Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2000.
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