Armand Schulthess hat sein Land, insgesamt 18000 Quadratmeter, in ein gewaltiges Nachschlagewerk verwandelt, in einen Wissenskosmos, in dem alles Wissen der Zeit verzeichnet sein sollte. Das Gelände ist bergig, ein Kastanienwald am Hang, der nicht leicht zu bespielen ist. Eine Gegebenheit, die Schulthess im Sinne einer evolutionistischen Achse nutzte: In den tiefer gelegenen Bereichen sind die Geologie, die Paläontologie und die Anthropologie angesiedelt. Folgte man dann der sich in Serpentinen hoch schlängelnden alten Kantonsstraße und den anderen Pfaden, die das Gelände durchziehen, dann durchwanderte man die Wissensfelder der Mineralogie, der Botanik, der Chemie, dem Thema des Weltraums und der Kybernetik. Im oberen Teil und in der Nähe des Hauses konnte man sich gehend mit Optik, Musik, Bildender Kunst, Theologie, Psychoanalyse, Sexualität und Astrologie beschäftigen (Abb. 1). Bei den unzähligen Täfelchen – es müssen viele Tausend gewesen sein – auf denen Schulthess das Wissen möglichst vollständig zu verzeichnen suchte, handelte es sich zumeist um flachgedrücktes Blech von Konservenbüchsen, das mit gelblicher Farbe grundiert und anschließend mit Stricknadel und farbiger Ölfarbe beschrieben wurde (Abb. 2). Miteinander verbunden und in Bezug gesetzt wurden die Wissenspartikel durch Schnüre, Drähte oder weiß isolierte Zündschnur. „Klassieren“ so beschrieb Schulthess das, was er da tat. Wissensstoff sammeln, ordnen, abschreiben, auflisten. Auf manchen Täfelchen wird Wissen zusammengefasst, andere sind eher im Sinne eines Zettelkastensystems als karteikartenartige Verweise auf Bücher, Texte oder Geräte zu lesen, die sich zum Teil in seinem Haus befinden und die, wie es immer wieder heißt, von Reisenden dort ausgeliehen werden konnten. 11Vgl. die ausführliche Bibliographie und Beschreibung des Gartens in: Hans Ulrich Schlumpf, Armand Schulthess: Rekonstruktion eines Universums, Zürich 2011, S. 27– 146. „Alles was ich ordne“, sagte Schulthess, „schreibe ich erst einmal ab. Nur so kann man ordnen.“ Oder: „Sie lesen anders als ich. Sie lesen nur zur Erregung des Geistes oder des Gefühls. Ich lese um zu ordnen.“ 22Ingeborg Lüscher, Dokumentation über A.S. „Der größte Vogel kann nicht fliegen“, Köln 1972, nicht paginiert. Was dabei entstand, ist ein Gespinst aus Exzerpten, Zitaten, Stichworten, Tabellen, Listen, bibliographischen Angaben und Namen in deutscher, italienischer, französischer und holländischer Sprache verfasst. Von der Geste her war dieser Zeichenkosmos nicht als private Wissens-Obsession angelegt. Davon zeugen nicht nur die für den Besucher gebauten Bänke und Sitzplätze, sondern auch die beträchtliche Anzahl von Täfelchen, die sich direkt an diesen richten (Abb. 3). Unüberhörbar im Stil von Zeitungsannoncen und Werbebroschüren der Zeit verfasst, wird der Schulthess’sche Garten darin zugleich in einen Vergnügungspark verwandelt, zu einem Ort, an dem man Frischluft tanken, ausspannen und beispielsweise mitgebrachtes Büchsenessen erwärmen können sollte (Abb. 4).
Einmal in der Woche verlässt Schulthess sein Wissens-Labor und wandert zum nächsten, fünfzehn Kilometer entfernten Ort, um sich mit dem Wenigen, was er zum Leben brauchte, auszustatten. Es ist anzunehmen, dass er bei diesen Streifzügen in die Zivilisation auch alles Gedruckte, was er fand, einsammelte, um es „zum Bisherigen zu klassieren“ 33Ebd. und das heißt mit anderen Worten, es in das bereits bestehende System einzuschleusen. Man hat es mit einem Kosmos zu tun, der nicht mehr existiert. Kurze Zeit nach seinem Tod im Jahre 1972 haben die Erben sich der als Makel empfundenen Hinterlassenschaft ihres „kranken Verwandten“ dadurch entledigt, dass sie alles verbrennen ließen. Übrig geblieben sind einige Täfelchen, die Harald Szeemann auf der Dokumenta 5 (1972) 44Documenta 5. Befragung der Realität. Bildwelt heute (Ausst.-Katalog Museum Fridericianum und Neue Galerie), Kassel. in der Sektion zur Bildnerei der Geisteskranken ausgestellt hat, daneben die Dokumentationen von Corinna Bille 55Corinna Bille: „Le propiétaire“, in: L´enfant aveugle, Lausanne 1955. und Ingeborg Lüscher 66Lüscher, Dokumentation, wie Anm. 3, nicht paginiert. mit zahlreichen Fotos, ein Film von Hans Ulrich Schlumpf den er 1972/73 drehte, 77Hans-Ulrich Schlumpf: Armand Schulthess – J´ai le téléphone (1974, 16mm-Film, D, E, F, I, E, 53 Min.) schließlich einige der ursprünglich ca. siebzig selbstgefertigten Collagen-Bücher zu unterschiedlichen Themen und Gebieten der Wissenschaft. 88Vgl. hierzu Schlumpf: Schulthess, wie Anm. 2, S. 420.
In den Arbeiten von Schulthess verschränken sich Wissen und Kunst; sind Daten- und Schauraum in eins geführt. Einen Ort des Sprechens darin auszumachen fällt hingegen schwer. Ingeborg Lüscher, die zu den wenigen Menschen gehörte, mit denen Schulthess zu Lebzeiten bisweilen sprach, schrieb in ihrer Dokumentation, dass Schulthess „sich nie als Künstler gefühlt hat und auch nicht weiß, dass auf diesem Gebiet heute Dinge geschehen, die seiner Arbeit verwandt sind.“ 99Lüscher, Dokumentation, wie Anm. 3, nicht paginiert. Das bedeutet: Von der Warte der Kunst aus betrachtet, hat man es mit einem Projekt zu tun, in dem sich für den Außenstehenden mühelos eine gewisse Nähe zu zeitgleichen Entwicklungen in der Objektkunst, der Konzeptkunst, der Verpackungskunst, des Nouveau Réalisme und der Land Art herstellen lässt, ohne dass Schulthess diese Nähe gesucht hätte oder je die Absicht gehabt hätte, ein ‚künstlerisches‘ Projekt zu verwirklichen. Fragt man vom anderen Ende her – nämlich von der Position des Wissens – dann ergibt sich eine ähnliche Schwierigkeit. Schulthess verfügt klarerweise über ein Wissen, aber es ist keines, das sich im Sinne Foucaults als ‚Vorform von Wissenschaft‘ verstehen ließe. Und zwar nicht nur, weil der von Schulthess geschaffene Wissensraum sich so vollständig der für die Wissenschaft so unerlässlichen Idealität verweigert, sondern weil es ihm auch gar nicht darum geht, einen Raum zu schaffen, in dem Schulthess als Subjekt „die Stellung einnehmen kann, um von Gegenständen zu sprechen, mit denen er in seinem Diskurs zu tun hat.“ 1010Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 259. Schulthess verstand sich nicht als die Instanz, die das im Garten ausgebreitete Wissen synthetisiert. Er war nicht das Humanistische im Zentrum des von in ihm angelegten Kosmos. Er hat gestaltet, aber nur gemäß seines Diktums: „Alles was lesbar ist lesen, Gleiches zu Gleichem tun und alles Gelesene verwahren.“ 1111Lüscher, Dokumentation, wie Anm. 3.
Wo setzt man an bei einem Projekt, in dem der, der es geschaffen hat, nicht den Anspruch hegt, sich als ‚Künstler‘ zu Gehör zu bringen und dessen ‚Wissens-Skulptur‘ sich als nicht anschlussfähig an etablierte Wissensformationen erweist? Eine Arbeit also, in der, einem Vexierbild gleich, Kunst und Wissen sich nur wechselweise hervor- und wieder zum Verschwinden bringen. Ein von Zufall, Bastelei und Begehren (Kunst) ‚verunreinigtes‘ Wissen, in dem auf irritierend unkritische Weise alle Matter-of-Fact-Hoheiten (Wissen) außer Kraft gesetzt sind? Fact position und fairy position 1212Bruno Latour: Elend der Kritik, Zürich, Berlin 2007, S. 46. sind hier schlechterdings nicht voneinander zu trennen, sie bilden ein Gespinst, bestehend aus märchenhaften Wissens-Anordnungen, einen „sprechenden Wald, in dem Drahtgirlanden wie Gedankenfäden […] hingen“ 1313Walter Höllerer: „Nachrichten über A.S.“, in: ZEITmagazin, 11.10.1974. (Abb. 5). Von Seiten der Kunstkritik hat man diesem Oeuvre bereits früh einen Ort zugewiesen. Neben anderen Wahnsinnigen, Besessenen und Spinnern wie dem bauwütigen Briefträger Ferdinand Cheval oder dem mit einer selbstgebastelten Kamera das Phänomen der Unschärfe ergründenden Sonderling Mirek Tichy ist das Schulthess’sche Projekt im Kontext von Art Brut und den Individuellen Mythologien fest verankert. 1414Vgl. hierzu Von einer Welt zu’r Andern, (hrsg. von Roman Buxbaum und Pablo Stähli), Ausst.-Katalog Du Mont, Kunsthalle Köln 1990. Denn, so schreibt Harald Szeemann, „nur die Spinner garantieren der Kunst […] die Intensität, die man in den letzten Jahren so sehr vermisste in der offiziellen und überproduzierenden Kunst, der Ersetzung des Ästhetischen durch ein gelebtes L’art pour l’art. […] Ob das dann Kunst [oder Wissen, Anmerkung HL] ist oder nicht ist mir persönlich egal.“ 1515Harald Szeemann: Obsessionen, wie Anm. 1, S. 90.
Rückblickend ist natürlich nicht zu übersehen, dass der anti-psychiatrische und Anti-Kunst-Diskurs der siebziger Jahre ebenfalls seine ganz eigenen Zwangsjacken ausgebildet hat. Dubuffets berühmtes Diktum, dass es sich bei der Art Brut um eine Kunst ohne Wissen handeln muss, eine kulturell nicht überformte, kompromisslose, und nicht-kommerzielle Position, kann auch als strikte Anweisung einer diktatorisch agierenden Leitfigur gelesen werden. 1616Jean-Hubert Martin: „Dubuffet – Begründer einer Kunst »ohne Wissen«, in: Dubuffet & Art Brut. Im Rausch der Kunst (Ausst.-Katalog Museum Kunst Palast 2005), S. 14– 24. Sehr viel wichtiger für die hier verhandelten Fragen von Kunst, Wissen und einem anderen/anders Wissen der Kunst ist jedoch, dass damit von vornherein der Weg verstellt war zu der Frage, wie und an welche historisch überlieferten und zeitgenössischen Formen der Strukturierung von ‚Wissen‘ Schulthess eigentlich anschließt? Genauer gesagt: Ist er ein Nachfahre der Universalgelehrten der frühen Neuzeit, ein Utopist oder doch eher Diskursverwalter in einer hoch technisierten Zeit? Ein Blick auf die Geschichte der enzyklopädischen Projekte und diagrammatischen Aufzeichnungsverfahren erweist sich diesbezüglich als interessant. 1587 hat Christophe de Savigny einen enzyklopädischen Band mit dem Titel Tableaux drucken lassen. 1717Ausführlich zu diesem bis heute unbekannt gebliebenen Humanisten des 16. Jahrhundert vgl.: Steffen Siegel: Tabula. Figuren der Ordnung um 1600, Berlin 2009, S. 12ff. Er besteht aus siebzehn Tafeln, von denen jede für sich eine diagrammatische Wissensordnung entwirft (Abb. 6). Das heißt: Jeweils auf der verso Seite wird ein bestimmtes Wissensfeld visualisiert, zellenartige, diagrammatische Arrangements, die aus miteinander verbundenen Begriffen in ovalen Feldern untergebracht sind, im Rahmen umgeben von den dazu gehörigen Dingen und auf der recto Seite dann die entsprechenden Text-Erläuterungen. Bei der Gegenüberstellung stellt sich eine merkwürdige, zunächst natürlich rein formale Ähnlichkeit her: Mit einem Mal scheint das bei Savigny auf der Fläche und zweidimensional entworfene diagrammatische System mit den Arrangements von Schulthess verwandt, muten die so kunstvoll durch Draht miteinander verknüpften, in Äste oder auf Mauern gehängten Täfelchen wie eine Art dreidimensionales, in Praktiken und Dinge umgesetztes Gegenüber der abstrakten Konfiguration an (Abb. 7/8). Gerade so, als wäre es Armand Schulthess um ein im Realen durchgespieltes Schauspiel des Wissens gegangen. Etwas Ähnliches gilt auch für den Einsatz des Baums. Dass das Wissen in Bäumen hängt, mutet nur auf den allerersten Blick merkwürdig an. Denn natürlich knüpft Schulthess mit seiner Konzeption an eine, wenn nicht gar die zentrale Metapher der Visualisierung von Wissenshierarchien an, um sie auf originelle Weise zum Einsatz zu bringen. 1818Vgl. hierzu: Sigrid Weigel: „Genealogie. Zu Ikonographie und Rhetorik einer eptistemologischen Figur in der Geschichte der Kultur- und Naturwissenschaft“, in: Helmar Schramm u.a. (Hg.): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003, S. 226– 267. Von seinem ersten Auftauchen im 13. Jahrhundert bis heute erscheint der Baum als die ideale Metapher von Ordnungsprinzipien, und zwar eben gerade weil seine organische Abfolge analog zu den Prinzipien der terminologischen Differenzierungen und Hierarchisierungen gelesen werden kann. 1919Roland Barthes: Sade. Fourier, Loyola, London 1977, S. 57. Mit seiner Rück-Überführung des Konzepts des Wissens ins Reale wird bei Schulthess das Geordnete, Regulierte, Vorhersehbare, Unveränderliche und Feststehende dieser geistigen Räume der frühen Neuzeit endgültig verlassen. Anders gesagt: Während sich in dem 1772 entstandenen Arbre avec fruits (Abb. 9), den F. G. Roth für das von ihm bewunderte enzyklopädische Projekt von Diderot und d’ Alembert entworfen hatte, Register und Stammbaum zu einem ‚Systême figuré‘ mischen, können die Wissens-Früchte des Schulthhess´schen Garten des Weltwissens tatsächlich nur gehend, schauend und sitzend und eben am eigenen Leib erfahren werden. Zugleich wird er damit unweigerlich Zeuge und Opfer jenes Wucherns, das nicht allein ein Wuchern des Organischen und der Natur ist, sondern auch ein Wuchern der Texte und der Diskurse. Es mutet so nüchtern wie prophetisch an, wenn Schulthess diese Erfahrung mit den Worten beschreibt:
„Früher hatte ich alles ganz genau eingeteilt. Alles nach Bereichen. Hier die Physik, da Knochen. Die Parapsychologie. Heute dagegen. Das ist ein Durcheinander. Die Bäume, die dehnen sich doch, sie werden größer, nicht? Dann platzt alles ab, der Draht und die Tafeln fallen runter. Zuerst hab ich sie wieder angemacht. Aber dann wars immer mehr.“ 2020Lüscher, Dokumentation, wie Anm. 3.
Seine groß angelegte Inszenierung des Wissens führt somit den Übergang eines Systems oder einer Taxonomie in etwas vor, was nur mit dem Begriff des Netzes oder des Rhizoms gefasst werden kann. Während ‚System‘ die Vorstellung von Kontrollierbarkeit und Autorschaft noch impliziert, ist das Netzförmige etwas, was sich dieser Verfügbarkeit durch nicht mehr deduktiv erschließbare oder kausal angelegte Strukturen entzieht. 2121Vgl. hierzu: Sebastian Gießmann: Netze und Netzwerke. Archäologie einer Kulturtechnik 1740– 1840, Bielefeld 2006, S.19. Es wird Schulthess wohl kaum bekannt gewesen sein, dass sein Tun analog verläuft zu den Bestrebungen einer Institution, die in gleicher Weise und zur gleichen Zeit ebenfalls damit beschäftigt war, dem beschleunigten Tempo des wachsenden Schrifttums eine Struktur entgegenzusetzen. Ich spreche von den mit Beginn des letzten Jahrhunderts sich so zahlreich ausbreitenden Zeitungsausschnittsbüros, die, wie Schulthess Projekt, auch den Versuch verfolgten, die Flüchtigkeit und Heterogenität des im Medium Zeitung publizierten Wissens durch das Einführen einer indexikalischen Ordnung – der Schlagworte – in eine andere Haltbarkeit und Beständigkeit zu überführen. Das, was Schulthess in seiner ‚Außenstelle‘ und in mönchischer Vereinzelung im entlegenen Onsernone Tal unternimmt, das tun mit ihm gleichzeitig Tausende von geschäftigen Geistes-Arbeitern in den Großstädten. Sie schneiden aus, sie kleben auf, sie ordnen zu, sie sortieren ein. Hier wie dort geht es um den gleichen, großangelegten Zetteltraum. „Die Hoffnung der Dokumentaristen der Zeitungen“ schreibt Anke te Heesen, „die zahlreichen Probleme bei der Bewältigung der Datenflut zu lösen, konzentrierten sich auf eine ‚Welt-Sammlung‘: eine umfassende Auskunftsstelle, ja, eine Auskunftstelle der Auskunftsstelle“ 2222Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt, Frankfurt am Main 2006, S. 98. (Abb. 11). Hier wie dort, in den Zeitungsausschnittsbüros ebenso wie auch in der Schulthess’schen Wissens-Werkstatt kommt jene Form des Wahnsinns zum Tragen, die, wie Friedrich Kittler konstatiert, unausweichlich und den veränderten technischen Bedingungen des Lesens und Schreibens geschuldet ist. Er schreibt:
„Von 1799 stammt die Warnung, alle Lektüre in der ‚Werkstätte unseres Innern vorzunehmen‘ und über dem Gelesenen nicht uns selber ‚aus dem Gesichte zu verlieren‘. Andernfalls würden wir der Besonnenheit verlustig gehen, und durch Zerstreuung in Wahnsinn verfallen. 1910 ist es ganz gleich ob einer lesen kann oder nicht: Der Wahnsinn hat ihn allemal. Einfach weil es keine Synthesefunktion gibt, die unabgezählten Datenmengen auf Sinn hin selektieren könnte, wachsen die Bücher den Menschen über den Kopf. Rilke zufolge ist Lektüre ja nur statthaft, wenn sie es mit allen Büchern aufnehmen könnte.“ 2323Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800– 1900, München 1995, S. 411.
Der Wahnsinn, den Kittler beschreibt, ist kein individueller Wahnsinn, ist kein schizophrenes Krankheitsbild, er ist das Symptom einer historisch und medial bedingten Wende. Indem Schulthess diesen Übergang jedoch verkörpert und der drohenden Überwältigung und zunehmenden Entmaterialisierung von Wissen eine Form der Re-Materialisierung entgegensetzt, nähert er sich einer Idee von Kunst, die Claude Levi-Strauss als Form des wilden Denkens beschrieben hat.
„Es gibt noch immer Zonen“ heißt es da, „in denen das wilde Denken […] relativ geschützt ist: das ist der Fall in der Kunst, der unsere Zivilisation den Status eines Naturschutzparks zubilligt, mit allen Vorteilen und Nachteilen, die sich mit einem so künstlichen Gebilde verbinden […] Die außergewöhnlichen Eigenschaften dieses Denkens, das wir wild nennen […] hängen besonders mit der Weitläufigkeit der Ziele zusammen, die es sich setzt. Es will zugleich analytisch und synthethisch sein, in beiden Richtungen bis an seine äußerste Grenze gehen und doch fähig bleiben, zwischen den beiden Polen zu vermitteln.“ 2424Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1973, S. 253– 254.
Ein „Infosystem in Handarbeit“ 2525Szeemann: Obsessionen, wie Anm. 1, S.89. ist die Form, die das wilde Denken bei Schulthess angenommen hat.
- 1Vgl. die ausführliche Bibliographie und Beschreibung des Gartens in: Hans Ulrich Schlumpf, Armand Schulthess: Rekonstruktion eines Universums, Zürich 2011, S. 27– 146.
- 2Ingeborg Lüscher, Dokumentation über A.S. „Der größte Vogel kann nicht fliegen“, Köln 1972, nicht paginiert.
- 3Ebd.
- 4Documenta 5. Befragung der Realität. Bildwelt heute (Ausst.-Katalog Museum Fridericianum und Neue Galerie), Kassel.
- 5Corinna Bille: „Le propiétaire“, in: L´enfant aveugle, Lausanne 1955.
- 6Lüscher, Dokumentation, wie Anm. 3, nicht paginiert.
- 7Hans-Ulrich Schlumpf: Armand Schulthess – J´ai le téléphone (1974, 16mm-Film, D, E, F, I, E, 53 Min.)
- 8Vgl. hierzu Schlumpf: Schulthess, wie Anm. 2, S. 420.
- 9Lüscher, Dokumentation, wie Anm. 3, nicht paginiert.
- 10Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 259.
- 11Lüscher, Dokumentation, wie Anm. 3.
- 12Bruno Latour: Elend der Kritik, Zürich, Berlin 2007, S. 46.
- 13Walter Höllerer: „Nachrichten über A.S.“, in: ZEITmagazin, 11.10.1974.
- 14Vgl. hierzu Von einer Welt zu’r Andern, (hrsg. von Roman Buxbaum und Pablo Stähli), Ausst.-Katalog Du Mont, Kunsthalle Köln 1990.
- 15Harald Szeemann: Obsessionen, wie Anm. 1, S. 90.
- 16Jean-Hubert Martin: „Dubuffet – Begründer einer Kunst »ohne Wissen«, in: Dubuffet & Art Brut. Im Rausch der Kunst (Ausst.-Katalog Museum Kunst Palast 2005), S. 14– 24.
- 17Ausführlich zu diesem bis heute unbekannt gebliebenen Humanisten des 16. Jahrhundert vgl.: Steffen Siegel: Tabula. Figuren der Ordnung um 1600, Berlin 2009, S. 12ff.
- 18Vgl. hierzu: Sigrid Weigel: „Genealogie. Zu Ikonographie und Rhetorik einer eptistemologischen Figur in der Geschichte der Kultur- und Naturwissenschaft“, in: Helmar Schramm u.a. (Hg.): Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003, S. 226– 267.
- 19Roland Barthes: Sade. Fourier, Loyola, London 1977, S. 57.
- 20Lüscher, Dokumentation, wie Anm. 3.
- 21Vgl. hierzu: Sebastian Gießmann: Netze und Netzwerke. Archäologie einer Kulturtechnik 1740– 1840, Bielefeld 2006, S.19.
- 22Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt, Frankfurt am Main 2006, S. 98.
- 23Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800– 1900, München 1995, S. 411.
- 24Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1973, S. 253– 254.
- 25Szeemann: Obsessionen, wie Anm. 1, S.89.