In der Pose wird der Körper zum Artefakt. Das kanonische Wissen um die Vollkommenheit des Doryphoros

Ausgabe #1
Oktober 2013
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Akademien – fotografische Aktstudien aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – dienten als Künstlervorlage und Lehrmaterial für den Zeichenunterricht. In der körperlichen Präsentation der Aktkörper im Atelier sind dabei Wissensstrukturen rekapituliert worden, die bereits innerhalb der antiken Bildhauerei als kanonisches Wissen begründet worden sind.

Die Pose, als „ein Zeigen des Körpers und ein Zeigen mit und durch den Körper“, eröffnet in ihrer Erscheinungsform und ihren Spezifika nicht nur ein weites Spektrum an kunst- und kulturwissenschaftlichen Fragen, sondern seit Erfindung der Fotografie auch zunehmend medientheoretische Probleme. 11Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Stefanie Diekmann: „Posing Problems. Eine Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance, Berlin 2012, S. 7. Dabei ist festzustellen, dass die Pose selbst immer als Schnittstelle zwischen Leben und Kunst fungiert hat, oder anders gesprochen: zwischen der körperlichen Tradierung bekannter ikonografischer Bezüge und der Übersetzung in künstlerische Bildkonzepte. Die mediengeschichtliche Entwicklung der Pose ist dabei zunächst eng verknüpft mit dem Zusammenwirken zwischen Bildender und Darstellender Kunst, später rückt dieses Zusammenspiel den Fokus auf die mise en scène in der Fotografie, im Film und Video und innerhalb der Performance-Art. Die Pose hat in der im späten 18. Jahrhundert entstandenen Aufführungspraxis des Bildernachstellens durch lebende Personen eine Blütezeit und pointierte die Frage nach Leben und Kunst, Belebung und Lebendig-sich-Totstellen genau am Schnittpunkt zwischen Augenblick und Bewegung, als kurzweilige Mortifizierung des Momentes. Als kurzweiliges Aufführungsereignis wird – ähnlich wie beim Tanz – auch bei den tableaux vivants die hybride Natur des Posierens evident: für kurze Zeit werden die Körper der Darsteller zum Artefakt und folgen damit der Vorstellung, bei einem Gemälde oder einer Statue handele es sich gewissermaßen um einen angehaltenen Moment, der in Bewegung überführt werden müsse, um wieder lebendig zu sein. Dass ein Körper in der Pose durch das Innehalten für einen Moment lang erstarrt, zur Plastik wird, beschreibt bereits Domenico da Piacenza in seinem Traktat De arte saltandi et choreas ducendi als Medusa-Effekt:

[…] dabei macht man während jedes Taktstrichs einen Augenblick halt, als habe man, wie der Dichter sagt, das Haupt der Medusa gesehen: Das heißt, nachdem man eine Bewegung gemacht hat, ist man in diesem Augenblick wie zu Stein erstarrt und nimmt im nächsten die Bewegung wieder auf wie ein Falke, der einen Flügelschlag macht. 22Domenico da Piacenza: De arte saltandi et choreas ducendi, zit. nach Rudolf zur Lippe: Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance, Reinbek 1988, S. 14.

Neben der Bewegung als zu durchlaufende Schrittfolge lässt das Element der posa die bereits vollzogenen Momente nachvollziehen und auf die folgenden vorbereiten. Diese zögernde Ruhe eines Tänzers zieht den Blick des Betrachters auf sich und lädt zum Verweilen und Bewerten ein. Während die Pose in den Darstellenden Künsten eine Art Umspringzone zwischen Bild und Aufführung in ihrer Unterbrechung der Bewegung veranschaulicht, 33Brandstetter, Brandl-Risi, Diekmann: „Posing Problems“ (wie Anm. 1), S. 7. kann in den Bildenden Künsten, speziell in der Bildhauerei, die Ambivalenz des Posierens zwischen Bild und angedeuteter Lebendigkeit mit der Ponderation, und insbesondere dem Kontrapost verbunden werden.
Mit Ponderation ist in der Bildhauerei die Unterscheidung von tragendem und entlastetem Bein (Spielbein und Standbein) und damit einhergehende Folgen für den Körperaufbau und die Muskulatur angesprochen. Als gestalterisches und konzeptionelles Element von idealen Körperrelationen und vollendeter Schönheit im Aufbau einer Skulptur, wurde die Ponderation maßgeblich durch den aus der ostpeloponnesischen Stadt Argos stammenden Bildhauer Polyklet im 5. Jahrhundert vor Christus zugespitzt. Im Gegensatz zu dem weitestgehend symmetrischen Aufbau und der frontalen Ausrichtung der Körper der archaischen kouroi, wirkt die Pose der um 440 vor Christus entstandenen polykletischen Athletenfigur des Doryphoros, vielleicht Achilleus darstellend, in ihrer angehaltenen „Beweglichkeit“ um einiges stärker ausgeprägt, als sich dies bislang in der ponderierten Darstellungsweise der griechischen Plastik beobachten ließ.
Die Standbilder der stehenden, unbekleideten kouroi folgten einem festen Bildschema. Breitschultrig, mit betont verjüngter Taille, standen die Jünglinge aufrecht, mit meist leicht nach vorne in den Betrachterraum gestelltem linken Bein, während die Arme an beiden Seiten unbeweglich herabhingen, mit den Händen zur Faust geballt. Das Körpergewicht ist auf der vertikalen Schwerkraftlinie des Körpers verteilt. Die deutliche Anschwellung der Oberschenkel machte die lastenden Elemente des Oberkörpers auf die unteren Extremitäten nachvollziehbar. Die Figuren des so genannten „Strengen Stils“ in den Jahrzehnten von etwa 490/480 bis 460/450 vor Christus, darunter vor allen der Omphalos-Apoll oder die Tyrannenmörder Aristogeiton und Harmodios, zeigen bereits deutlichere Auswirkungen der unterschiedlich stark belasteten Beine in der leicht schräg positionierten Beckenhaltung und Taillenform sowie der ungleichen Haltung der Arme.
Polyklet hingegen gestaltete die einzelnen Körpersegmente des Doryphoros nicht mehr vertikal übereinander, sondern ließ die Körperform entlang der linea alba eine stark erkennbare S-Form beschreiben, die einen kompensatorischen Ausgleich zwischen rechter und linker Körperhälfte mit sich brachte. Die sensibel aufeinander abgestimmten, chiastischen Bewegungsrhythmen zwischen linkem Spielbein und rechtem Standbein haben gegenüber den eher statisch wirkenden Skulpturen früherer Epochen das Motiv des Kontraposts eingeleitet und damit Ruhe und Bewegung gleichermaßen stark in der Gestaltung des Körperaufbaus und der Muskulatur akzentuiert. Auch die Polyklet zugeschriebene Athletenfigur des Diadumenos, um 420 vor Christus entstanden, trat dem Betrachter als dynamische, lebendige Gestalt vor Augen und bezeugte zugleich eine Variation der kanonischen Grundidee. Beim „Diademträger“ greift die Ponderation noch stärker labilisierend in die Körperhaltung ein, und der Torso reagiert hier intensiver auf die handlungsbezogene Armhaltung, die eine im Nacken geknüpfte Binde um den Kopf zu schnüren versucht. Während die linke Hand durch das Festbinden des Diadems näher zum Kopf hingezogen scheint, wirkt die rechte Hand eher fern. Parallel dazu verhält sich der Körper in der Beinstellung, das linke Spielbein entfernt sich stärker aus der Ruheposition, das rechte Standbein fängt das Gewicht des Körpers und der ausfahrenden rechten Hand auf. Ähnlich wie beim Speerträger kommt auch beim Diademträger in der Vorderansicht die Pose des Athleten am stärksten zum Ausdruck und gibt in dieser Hauptseite die wesentlichen Bewegungsmomente zur Lektüre frei. Vergleicht man die im Kontrapost aufgestellten Figuren von Polyklet mit den Skulpturen der archaischen Zeit und des „Strengen Stils“ wird neben der stärkeren Verlagerung des Körpergewichts – bei geschmeidiger Schwingung der Becken- und Rumpfmuskulatur sowie seitlich geneigter Kopfhaltung – auch die offensichtliche Zurschaustellung der eigenen Körperkräfte stärker kenntlich gemacht.
Diese bis dato unbekannte Betrachteransprache, die Polyklet als neue Gestaltungsformel innerhalb der Bildhauerei etabliert hat, wird in der archäologischen Forschung mit einer grundsätzlich neuen Vorstellung von Menschen in Verbindung gebracht. Durch diese Zuschaustellung von aktiven Elementen in Korrespondenz zu den inaktiven nahmen die polykletischen Figurenkörper „eine neue potentielle Beweglichkeit an“, innerhalb der sich die „Kräfte in Abweichung vom System der räumlichen Achsen“ entfalten konnten. 44Vgl. Tonio Hölscher: Klassische Archäologie. Grundwissen, Darmstadt 2002, S. 190f. Die Figuren verweilten in einer angedeuteten Bewegung, waren arretiert und zugleich „belebt“.
Die für die Kunstgeschichte des Abendlandes folgenreiche Methode des präzise aufeinander aufgebauten, kontrapostischen Körperaufbaus richtet sich streng nach dem Wissen um eine symmetrische Annordnung und einer exakten Austarierung der Proportionen innerhalb eines Körpers. Diese Wissensform wird von den beiden Athletenfiguren des Polyklet in stringenter Ausführung ausgestellt. Bereits Plinius der Ältere beschreibt die speertragende Athletenfigur des Doryphoros in seiner nach 77 n. Chr. entstandenen Naturalis Historia als „kanonisch“:

Polyklet […] verfertigte […] eine Statue, welche die Künstler als Kanon bezeichnen; und aus diesem Kanon leiten sie die Grundregeln der Kunst wie aus einer Art Gesetz ab; er allein ist es unter den Menschen, dem zuerkannt wird, die Kunst als solche durch ein Kunstwerk offenbart zu haben. […] Eine Besonderheit von ihm ist die Erfindung, Statuen auf einem Bein stehen zu lassen […]. 55Gaius Plinius Secundus Maior: Naturalis historiae, liber XXXIV, S. 55–56, hg. von Roderich König, München, Zürich 1989. Vgl. Rolf Michael Schneider: „Polyklet. Forschungsbericht und Antikenrezeption“, in: Herbert Beck u.a. (Hg): Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik (Ausst.-Kat. Liebieghaus, Museum alter Plastik, Frankfurt a. M. 1990), Mainz 1990, S. 473−504, hier S. 480f, und Detlev Kreikenbom: Bildwerke nach Polyklet. Kopienkritische Untersuchung zu den männlichen statuarischen Typen nach polykletischen Vorbildern, Berlin 1990.

Die von Plinius hervorgehobene Besonderheit, Statuen einbeinig stehen zu lassen, wird maßgeblich durch die Ponderation bestimmt. Grundsätzliche Bedeutung erhielten die polykletischen Wissensstrukturen zur Gestaltung einer Figur auch durch seine kunsttheoretische Schrift, die Kanon genannt wird. 66Vgl. hierzu Michael Diers: „Wie Antike sehen oder Kanon und Kritik. Perspektiven der Kunst und Kunstgeschichte“, in: Walter Jens, Bernd Seidensticker (Hg.): Ferne und Nähe der Antike, Berlin 2003, S. 221−236, hier S. 224ff; Hanna Philipp: „Zu Polyklets Schrift ›Kanon‹“, in: Beck u.a.: Polyklet, S. 135−155 und Ernst Berger: „Zum Kanon des Polyklet“, ebd., S. 156−184. Das fragmentarisch überlieferte Lehrbuch ist lediglich durch Zitate, Paraphrasen und Glossen bei späteren Autoren nachgewiesen, so in Vitruvs De architectura libri decem (ca. 33-14v. Chr.), indem der Autor an bestimmten Bauaufgaben ideale Maßverhältnisse für die unterschiedlichen Säulenordnungen konstituiert. 77Vgl. Marcus Vitruvius Pollio: De architectura libri decem, 4. Buch, I, Darmstadt 1964, S.166ff. Auch die seit dem quattrocento einsetzende italienische Kunsttraktat-Literatur und die in Graphikwerken französischer Künstler des 17. Jahrhunderts vieldiskutierte decorum-Lehre zeugen von einem starken Interesse, dem theoretischen und praktischen Wissen über die Harmonie von Proportionen nachzuspüren, die Polyklet durch seine Schrift und Statuen angestoßen hatte. Auch weit über das 19. Jahrhundert blieb diese Suche Gegenstand der Forschung. 88Vgl. Frank Zöllner: „Policretior manu – zum Polykletbild der frühen Neuzeit“, in: Polyklet (wie Anm. 5), S. 450–472, hier S. 454f. Zur Rezeption der decorum-Lehre in Frankreich vgl. Gudrun Valerius: Antike Statuen als Modelle für die Darstellung des Menschen, Frankfurt a. M. 1992. Vgl. auch exemplarisch Aloys Hirt: Ueber das Bildnis der Alten / Ueber den Kanon in der bildenden Kunst, Berlin 1818; Gottfried Schadow: Polyclet oder von den Maassen des Menschen nach dem Geschlechte und Alter mit Angabe der wirklichen Naturgröße, Tübingen 1877; Adolf Zeising: Neue Lehre von den Proportionen des Menschlichen Körpers, Leipzig 1854,; sowie Erwin Panofsky: „Die Entwicklung der Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung“, in: Ders.: Erwin Panofsky. Deutschsprachige Aufsätze, Bd. I, hg. von Karen Michels, Martin Warnke, Berlin 1998, S. 31−72. Zu Panofsky vgl. auch Horst Bredekamp: „Ex nihilo. Panofskys Habilitation“, in: Bruno Reudenbach (Hg.): Erwin Panofsky. Beiträge des Symposiums Hamburg 1992 (Schriften des Warburg-Archivs im Kunstgeschichtlichen Seminar Hamburg 3), Berlin 1994, S. 31−47.
Für Polyklet spielte neben der symmetria auch der Begriff des kairos eine wichtige Rolle, mit dem im übertragenen Sinne die Herausforderung an einen Künstler umschrieben werden kann, den richtigen, maßvoll-angemessenen Moment zu erkennen und sprichwörtlich am Schopfe zu packen. Eine Stelle in den Moralia (um 96 n. Chr.) des griechischen Schriftstellers Plutarch, die als Zitat oder zumindest Paraphrase aus dem Kanon des Polyklet aufgefasst wird, umschreibt das Ziel, die Grundregeln des Kanons bei jeder neuen Schöpfung angemessen einzusetzen:

Wie bei jedem Werk das Schöne dadurch vollendet wird, dass viele Maße in einen kairos kommen durch eine gewisse Symmetrie und Harmonie, das Hässliche aber entsteht, wenn ein einziges zufälliges Element fehlt oder sofort hinzukommt, ohne da seinen Ort zu haben. 99Plutarch: Moralia, 45 c-d, zit. n. Ulrich Schädler: „Kairos – der unfruchtbare Moment“, in: Peter C. Bol (Hg.): Zum Verhältnis von Raum und Zeit in der griechischen Kunst (Kolloquium Liebieghaus), Möhnesee 2003, S. 171−182, hier: S. 173.

Das „kanonische Dispositiv der Antike“, 1010Götz Pochat: Bild – Zeit. Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit, Wien 1996, S. 108f. das mit ausgewogenen Körperproportionen, Symmetrie und harmonischer Ponderation als rechtes Maß umschrieben werden kann, zeichnet sich aber nicht durch eine einheitlich gestaltete künstlerische Form aus, sondern greift vielmehr die Grundidee der Variation auf, bei der in jedem einzelnen Werk der rechte Moment und das richtige Maß an Grundregeln spielerisch anzuwenden ist. Die beiden Athletenfiguren des Doryphoros und Diadumenos bezeugen den Spielraum, den Polyklets Kanon zugelassen hat. Das „geheime“ Wissen des Kanons liegt, folgt man hier Panofsky, nicht in einer „mechanischen Gleichheit“ sondern vielmehr in den Relationen einer „organischen Differenzierung“, die in den „von der Natur unterschiedenen und gegeneinander abgegrenzten Gliedern und dem Körperganzen“ festzumachen ist. 1111Erwin Panofsky: „Die Entwicklung der Proportionslehre“ (wie Anm. 11), S. 40. Nicht zuletzt bezeugt die Vielzahl erhaltener Kopien des Doryphoros den hohen Rang und die Bedeutung der Statue, in der physische Maßstäbe einer harmonischen Ponderation zu Tage treten.

Bildquelle: Universität der Künste, Universitätsarchiv, M I 1, U.A.,86,0017,65. „Act-Aufnahmen für Bildhauer und Maler", Katalogblatt zu Coll. F., vor 1880, Albuminpapierabzug mit 25 Vignetten, 26,8 x 19 cm.
Bildquelle: Universität der Künste, Universitätsarchiv, M I 1, U.A.,86,0017,65. „Act-Aufnahmen für Bildhauer und Maler“, Katalogblatt zu Coll. F., vor 1880, Albuminpapierabzug mit 25 Vignetten, 26,8 x 19 cm.

Nach dieser Einführung in die Ursprünge der Ponderation, des Kanons und den daraus ableitbaren Wissensstrukturen soll abschließend der Blick auf die Mediengeschichte der Pose in der Fotografie gerichtet werden. Dass in den Werken der Bildenden Künste ein hervorgehobener, „kairotischer“ Augenblick veranschaulicht werden soll, der damit das Wesen und die Spezifika des Sujets bestimmt, beschreibt Gilles Deleuze als „Pose“, die sich als „transzendente“ Form selbst aktualisiert. In diesem Kontext erkennt Deleuze vor allem die Sukzessivität des Films an, in der sich Bewegung und Handlung nicht in einzelnen Bildern verdichtet – wie dies für Malerei und Plastik zutrifft. 1212Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt a. M. 1997, S. 16ff. Besonders in der Frühzeit der Fotografie, um mit Michel Foucaults Ausführungen zur „photogenen Malerei“ zu sprechen –, ist es charakteristisch, dass sich Posen als tableau-vivantartige Zitate in die Bildgestaltung von Fotografien „eingeschmuggelt“ 1313Michel Foucault: „Die photogene Malerei“, in: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. II, Frankfurt a. M. 2002, S. 871−882, hier S. 871. haben. „Als [ein] Relais zwischen den Künsten“, funktioniert die Pose besonders in der Fotografie als ein „Medium der Übersetzung“: durch die mise en scène ikonographischer Bezüge und etablierter Bildformen des Körpers finalisiert sich in der fotografischen Wiedergabe einer Pose etwas, was die Pose selbst stetig antizipiert, aber nur in der statischen Darbietung innerhalb einer Fotografie zu Ende führt: den „Effekt einer Arretierung“. 1414Brandstetter, Brandl-Risi, Diekmann: „Posing Problems.“ (wie Anm. 1), S. 15ff. In der Fotografie, als dem Medium mit der Möglichkeit einer finalen Stillstellung von Posen, verwandeln sich die Modelle vor der Kamera „im Voraus zum Bild“. 1515Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie, Frankfurt a. M. 1989, S. 19: „[I]ch nehme eine ‚posierende‘ Haltung ein, schaffe mir auf der Stelle einen anderen Körper, verwandle mich bereits voraus zum Bild.“ ; sowie Craig Owens: „Posieren“, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2, Frankfurt a. M. 2003, S. 92−114, hier S. 107f.: „Dennoch erstarre ich, als würde ich zum Standbild, zu dem ich gerade werde, vorwegnehmen seine Opazität, seine Bewegungslosigkeit nachahmen; die Mortifikation des Fleisches durch die Fotografie in die ganze Körperoberfläche einschreiben.“ Aus dem Blickwinkel der Malerei und Bildhauerei heraus spielen tableaux vivants, wie dies bereits einleitend angesprochen worden ist, mit der „imaginativen Kraft zur Animation eines Bilds“: eine „Verlebendigung und zugleich Stillstellung in der Pose“, die für eine begrenze Dauer bekannte künstlerische Bildformen ‚fleischlich‘ übersetzen. 1616Brandstetter: „Pose – Posa – Posing. Zwischen Bild und Bewegung“, in: Dies, Brandl-Risi Diekmann (Hg.): Hold it!, S. 41−51, hier S. 47f. Mit der fotografischen Praxis ergaben sich immer neue, intermediale Übergangsphänomene bzw. unterschiedliche Medienensembles, in denen das Posieren sich stets am Index des Zitierens und Reproduzierens orientiert hat und sich in der Folge aber rasch zu neuen Bildfindungen emanzipieren konnte. Nach 1860 entstehen die ersten fotografischen Aktstudien, die sich dezidiert als Studienvorlagen für die künstlerische Arbeit ausweisen lassen. Das für den Vertrieb um 1880 entstandene Katalogblatt aus der ehemaligen Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums in Berlin (Abb. 1) – heute im Universitätsarchiv der Universität der Künste – veranschaulicht ausgehend von der ponderierten Gestaltungsformel des Doryphoros eine mögliche Bandbreite und Experimentierfreudigkeit, mit denen dieser Typus durch ein lebendes Modell rekapituliert und durch die fotografische Aufnahme arretiert worden ist. 1717Die auf dem Katalogblatt gezeigten Aktstudien werden dem österreichischen Fotografen Hermann Heid (1834−1891) zugeschrieben. Vgl. Monique Le Pelley Fonteny: Adolphe & Georges Giraudon. Une bibliothèque photographique, Paris 2005, S. 116−118; Timm Starl: Lexikon der Fotografie in Österreich 1839-1945, Wien 2005, S. 183f sowie die unpublizierte Diplomarbeit von Daniela Kohlhuber: Dr. Hermann Heid (1834 – 1891). Von der Atelierfotografie zur Freilichtaufnahme, Diplomarbeit Leopold-Franzens-Universität Innsbruck 2005. Die zweite Vignette in der fünften Bildreihe zeichnet sich noch durch eine stringentere Zitation des antiken Vorbildes in der Ponderation und Torsion der Gliedmaßen aus, wobei die Krümmung der linea alba bereits etwas stärker als beim Vorbild zur Seite kippt und der Kopf in Richtung des Stabs geführt wird, nicht von ihm weg, wie dies bei Polyklet der Fall war. In der fünften Vignette der ersten Bildreihe zeigt sich bereits eine Variation des antiken Grundtypus: der den Stab haltende linke Arm ist erhoben und das linke Spielbein nach vorne gestellt, wodurch sich die Torsion des Brust- und Bauchbereichs im Vergleich zur oben genannten Vignette verändert hat. Zudem ist der Aktkörper eher in der Dreiviertelansicht gezeigt, mit dem der Grad an Varianz zusätzlich gesteigert worden ist. Die Vignetten der zweiten bis zur vierten Bildreihe präsentieren einen Fundus an möglichen Arrangements der klassischen Pose und bergen auf diese Weise den spielerischen Umgang mit dem bekannten Bildtypus, mit dem nicht zuletzt neues Wissen über die körperliche Beschaffenheit des Menschen erlernbar und verwendbar gemacht werden sollte. Problemen der Ponderation und den Konsequenzen einer Veränderung der antiken Pose wird an der Natur nachgegangen. Bedenkt man, dass bis dato Stichwerke, Abgüsse, Druckgraphiken und die Übungen im Aktzeichensaal als Richtschnur für das Studium des menschlichen Körpers und der damit eng verknüpften kanonischen Typen gedient haben, sehen wir in diesen Arbeiten eine neue Form der körperlichen Überlieferung und Rekonstruktion der klassischen Ikonographie, die – ähnlich wie die antike Plastik – haptisch präzise Schönheiten des menschlichen Körpers zur Anschauung brachte.

    Fußnoten

  • 1Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Stefanie Diekmann: „Posing Problems. Eine Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Hold it! Zur Pose zwischen Bild und Performance, Berlin 2012, S. 7.
  • 2Domenico da Piacenza: De arte saltandi et choreas ducendi, zit. nach Rudolf zur Lippe: Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance, Reinbek 1988, S. 14.
  • 3Brandstetter, Brandl-Risi, Diekmann: „Posing Problems“ (wie Anm. 1), S. 7.
  • 4Vgl. Tonio Hölscher: Klassische Archäologie. Grundwissen, Darmstadt 2002, S. 190f.
  • 5Gaius Plinius Secundus Maior: Naturalis historiae, liber XXXIV, S. 55–56, hg. von Roderich König, München, Zürich 1989. Vgl. Rolf Michael Schneider: „Polyklet. Forschungsbericht und Antikenrezeption“, in: Herbert Beck u.a. (Hg): Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik (Ausst.-Kat. Liebieghaus, Museum alter Plastik, Frankfurt a. M. 1990), Mainz 1990, S. 473−504, hier S. 480f, und Detlev Kreikenbom: Bildwerke nach Polyklet. Kopienkritische Untersuchung zu den männlichen statuarischen Typen nach polykletischen Vorbildern, Berlin 1990.
  • 6Vgl. hierzu Michael Diers: „Wie Antike sehen oder Kanon und Kritik. Perspektiven der Kunst und Kunstgeschichte“, in: Walter Jens, Bernd Seidensticker (Hg.): Ferne und Nähe der Antike, Berlin 2003, S. 221−236, hier S. 224ff; Hanna Philipp: „Zu Polyklets Schrift ›Kanon‹“, in: Beck u.a.: Polyklet, S. 135−155 und Ernst Berger: „Zum Kanon des Polyklet“, ebd., S. 156−184.
  • 7Vgl. Marcus Vitruvius Pollio: De architectura libri decem, 4. Buch, I, Darmstadt 1964, S.166ff.
  • 8Vgl. Frank Zöllner: „Policretior manu – zum Polykletbild der frühen Neuzeit“, in: Polyklet (wie Anm. 5), S. 450–472, hier S. 454f. Zur Rezeption der decorum-Lehre in Frankreich vgl. Gudrun Valerius: Antike Statuen als Modelle für die Darstellung des Menschen, Frankfurt a. M. 1992. Vgl. auch exemplarisch Aloys Hirt: Ueber das Bildnis der Alten / Ueber den Kanon in der bildenden Kunst, Berlin 1818; Gottfried Schadow: Polyclet oder von den Maassen des Menschen nach dem Geschlechte und Alter mit Angabe der wirklichen Naturgröße, Tübingen 1877; Adolf Zeising: Neue Lehre von den Proportionen des Menschlichen Körpers, Leipzig 1854,; sowie Erwin Panofsky: „Die Entwicklung der Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung“, in: Ders.: Erwin Panofsky. Deutschsprachige Aufsätze, Bd. I, hg. von Karen Michels, Martin Warnke, Berlin 1998, S. 31−72. Zu Panofsky vgl. auch Horst Bredekamp: „Ex nihilo. Panofskys Habilitation“, in: Bruno Reudenbach (Hg.): Erwin Panofsky. Beiträge des Symposiums Hamburg 1992 (Schriften des Warburg-Archivs im Kunstgeschichtlichen Seminar Hamburg 3), Berlin 1994, S. 31−47.
  • 9Plutarch: Moralia, 45 c-d, zit. n. Ulrich Schädler: „Kairos – der unfruchtbare Moment“, in: Peter C. Bol (Hg.): Zum Verhältnis von Raum und Zeit in der griechischen Kunst (Kolloquium Liebieghaus), Möhnesee 2003, S. 171−182, hier: S. 173.
  • 10Götz Pochat: Bild – Zeit. Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit, Wien 1996, S. 108f.
  • 11Erwin Panofsky: „Die Entwicklung der Proportionslehre“ (wie Anm. 11), S. 40.
  • 12Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt a. M. 1997, S. 16ff.
  • 13Michel Foucault: „Die photogene Malerei“, in: Ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. II, Frankfurt a. M. 2002, S. 871−882, hier S. 871.
  • 14Brandstetter, Brandl-Risi, Diekmann: „Posing Problems.“ (wie Anm. 1), S. 15ff.
  • 15Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie, Frankfurt a. M. 1989, S. 19: „[I]ch nehme eine ‚posierende‘ Haltung ein, schaffe mir auf der Stelle einen anderen Körper, verwandle mich bereits voraus zum Bild.“ ; sowie Craig Owens: „Posieren“, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2, Frankfurt a. M. 2003, S. 92−114, hier S. 107f.: „Dennoch erstarre ich, als würde ich zum Standbild, zu dem ich gerade werde, vorwegnehmen seine Opazität, seine Bewegungslosigkeit nachahmen; die Mortifikation des Fleisches durch die Fotografie in die ganze Körperoberfläche einschreiben.“
  • 16Brandstetter: „Pose – Posa – Posing. Zwischen Bild und Bewegung“, in: Dies, Brandl-Risi Diekmann (Hg.): Hold it!, S. 41−51, hier S. 47f.
  • 17Die auf dem Katalogblatt gezeigten Aktstudien werden dem österreichischen Fotografen Hermann Heid (1834−1891) zugeschrieben. Vgl. Monique Le Pelley Fonteny: Adolphe & Georges Giraudon. Une bibliothèque photographique, Paris 2005, S. 116−118; Timm Starl: Lexikon der Fotografie in Österreich 1839-1945, Wien 2005, S. 183f sowie die unpublizierte Diplomarbeit von Daniela Kohlhuber: Dr. Hermann Heid (1834 – 1891). Von der Atelierfotografie zur Freilichtaufnahme, Diplomarbeit Leopold-Franzens-Universität Innsbruck 2005.
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