Alter Ego – Narration und Perspektive am Beispiel von A young Doctor’s Notebook

Ausgabe #2
Juni 2014
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Die Mini-Serie A young Doctor’s Notebook erlaubt eine Probe der von Rick Altman formulierten Theorie einer erinnerungsspezifischen wie perspektivabhängigen Narrationstheorie. Als „narrative knowledge“ bezeichnet und in Abhängigkeit von dessen Erfahrbarkeit durch einen Rezipienten gedacht, zeigt die Analyse nicht nur das Anwendungspotenzial dieses auf Wahrnehmung fußenden Wissens, sondern auch dessen Grenzen anhand medienspezifischer Erzählweisen.

I

In seiner Arbeit A Theory of Narrative bereitet Rick Altman eine Handlungs-Theorie vor, die ihren Nachvollzug auf seinem Verständnis von Erinnerung fußen lässt. 11Altman führt Erinnerung in Anlehnung an eine beispielhafte Erzählung Jorge Luis Borges („Das unerbittliche Gedächtnis“, in: Ders.: Fiktionen. Werke, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1992, S. 95–104) als Bildverkettung aus, die zwischen den unterschiedlichen Kadern eines Comics eine Verbindung herstellt, um diese als sich fortschreibende Narration zu kennzeichnen. (Vgl. Rick Altman: A Theory of Narrative, New York 2008, S. 13). Dies rückt auf theoretischer Ebene in große Nähe zu den Kino-Büchern Gilles Deleuze‘. Auf Henri Bergson aufbauend versteht sich die Bewegung des Films als eine Bereicherung der gegenwärtigen Erfahrung durch ihre Vergangenheit und löst sich als rezeptionsbezogenes Phänomen von der Vorstellung des Einzelbildes. Vgl. hierzu vor allem den ersten „Bergson-Kommentar“, in: Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild, Kino 1, Frankfurt a.M. 1997, S. 13–26. Als ein intermediales Phänomen anvisiert, geht es darum, ein Wissen zu beschreiben, das Narration von den je eigenen medialen Dispositiven als „textual vehicle[s]“ 22Altman: A Theory of Narrative (wie Anm. 1), S. 14. abstrahiert und durch das Medium des Rezipienten vereinheitlicht:

In a very real sense this is […] the way in which all knowledge is created: in order for phenomena to be memorized and turned into knowledge, we must renounce nominalism in favor of the abstract categories of realism. Narrative knowledge depends on this level of abstraction –we must abandon the media used to express and communicate the narrative in favor of a constructed, abstract level […]. 33Ebd., S. 13.

Darüber hinaus soll sich dieses Wissen durch die Spezifik der Perspektive bestimmen lassen, durch die sie der Zuhörer, Zuschauer oder Leser erfährt. In diesem Sinne unterscheidet Altman single-, dual- und multiple-focus narratives, die auf je spezifische Weise den Zugang des Rezipienten zur erzählten Welt und ihrer Entwicklungen erfahrbar machen. Dem göttlichen Blick der bifokalen Erzählung auf die Konflikte und Konfrontationen zwischen zwei Parteien steht der Blick auf das Geschehen durch die alleinigen Augen eines Protagonisten gegenüber, durch den sich das Narrativ als ein subjektiver Eindruck vermittelt. Der multifokale Text hängt letztlich zwischen diesen Positionen, wechselt innerhalb eines Werkes die Perspektiven und kann sich mehrere Subjektiven einverleiben, um hierdurch den Rezipienten zwischen die Stühle und damit wieder außerhalb der Diegese, bei weitem aber nicht in einer allmächtigen Position, zu verorten.

Das trifft sich mit Überlegungen, die sich zu einem Wissen anstellen lassen, das sich in Abhängigkeit von Wahrnehmung definieren lassen will und entsprechend auf eine jeweilige Perspektive eingeschränkt werden muss. 44Vgl. hierzu Moritz Schumm: „Wahrnehmung und Wissen“, in: wissenderkuenste.de 1 (2013), <https://wissenderkuenste.de/texte/ausgabe-1/wahrnehmung-und-wissen/> zuletzt aufgerufen am 04.07.2017. Möchte dieser Artikel nun allerdings einen genaueren Blick auf die Mini-Serie A young Doctor’s Notebook 55Alex Hardcastle: A young Doctor’s Notebook, Staffel 1, Big Talk Productions (GB) 2012, DVD: polyband 2013. werfen, so geschieht dies nicht nur, um durch die Analyse schlicht die Fruchtbarkeit der von Altman aufgestellten Thesen zu bekräftigen, die das ambivalente Erscheinen der Serie nachvollziehbar machen. In Anbetracht der durchaus radikalen Setzungen Altmans formuliert die Analyse auch ein anders gelagertes Verständnis von narrativem Wissen. Denn die Erinnerung als eine Abstraktion zu bezeichnen, trennt sie von der ihr zugrunde liegenden Erfahrung und verleiht ihr als Phänomen eine Nachträglichkeit, die durchzuhalten auf Grundlage einer wahrnehmungsspezifischen Theorie nicht möglich erscheint. Altmans Blick scheint vor allem auf eine Narration zu zielen, wie man sie nach der Rezeption rekonstruiert und vermittelt. Stattdessen gilt es die Verbundenheit jeglicher Erinnerung mit einer Gegenwart zu betonen, die sie aufruft, zu ihrem Nachvollzug nutzt und in sich einbettet. 66Lässt sich in Altmans These ein Bezug zu den Kino-Büchern von Gilles Deleuze herstellen, so folgt die hier vorliegende Argumentation auch der darin betonten ‚Dauer‘, die Erinnerung eben nur in ihrer Aktualisierung anerkennt und nicht als abstraktes Faktum, das sich grundlos oder aus einem individuell eigenen Willen einzustellen vermag. Und dies betrifft dann auch wieder die je eigenen Artikulationsmöglichkeiten unterschiedlicher Medien.

In diesem Sinne erstreckt sich die Analyse von A young Doctor’s Notebook über eine Beschreibung der eröffnenden drei Szenen der ersten Folge, um den Spuren einer zunächst einfachen und dann multiperspektivischen Erzählweise zu folgen. Während die ersten beiden Szenen sich für eine single-focus narrative aussprechen, die den Forderungen Altmans und seiner Gleichsetzung von Schrift und Film zugute zu kommen scheint, führt die dritte Szene einen Bruch in diese Struktur ein, die das erzählerische Kalkül der gesamten Serie bestimmt. Plötzlich mit der Inkommensurabilität zweier Perspektiven konfrontiert, macht die Szene die Narration selbst als ein Phänomen erfahrbar, das sich keineswegs von der ihr zugrunde liegenden Wahrnehmung trennen lässt. Abseits von jeglicher Abstraktion erweist sie sich als eine von der aktuellen Rezeption abhängige Größe, die sich darin die Freiheit einer immer neu ansetzenden Bestimmung bewahrt. Und sie tut dies für den Zuschauer in Artikulation des titelgebenden Notebooks selbst, das hier in genuin filmischer Form in Erscheinung tritt: nicht als die Beschreibung und die Gedanken der Protagonisten, sondern als die Wahrnehmbarkeit ihres Verhaltens. 77Vgl. Maurice Merleau-Ponty: „Das Kino und die neue Psychologie“, in: Ders: Das Auge und der Geist – philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 29–46.

II

Ein junger Mann, gespielt von Daniel Radcliffe, kommt im Jahr 1917 mit der Kutsche in einer verschneiten und kargen Landschaft an und wird von dem Kutscher brüsk auf die Straße gesetzt. Aus Moskau angereist, frisch von der dortigen Universität mit der Doktoren-Würde versehen, tritt er nun hier, am inszenierten Ende der Welt, seine Stelle als Klinikums-Leiter an. Den Weg bis zu dem in der ferne liegenden Krankenhaus muss er mit seinem grotesk großen Koffer selbst zu Ende führen. „Farewell to Moscow. Farewell to the red and gold Bolshoi. Farewell to shop windows“, 88Hardcastle: A young Doctor’s Notebook (wie Anm. 5), TC: 00:01:46. sagt die Stimme des jungen Mannes, den wir als Vladimir Bomgard kennenlernen werden, aus dem Off wie aus seinen Gedanken. Sein ernüchterter Blick ist auf das Hospital gerichtet und zu seinen Worten fährt die Kamera bis zu einer Nahen auf ihn zu. Und was der Blick auf seinen Blick in die Landschaft an Einsamkeit zum Ausdruck bringt, übersetzt das Betreten des Krankenhauses und die erste Begegnung mit der Belegschaft in das Gefühl seiner schieren Überforderung. Nahe Einstellungen auf Bomgards verunsichertes Gesicht treffen auf die fragenden und durchbohrenden Blicke des Personals: eines namenlosen Feldschers und der Krankenschwestern Anna und Pelageya. Zusätzlich muss sich der Neuankömmling auch noch in ein Verhältnis zu einem Gemälde seines Vorgängers setzen lassen: des verehrten und zum Ideal erhobenen Leopold Leopoldovich, dessen herrisch-fester Blick, vollbärtiges Kinn und hohe Hängung Bomgard wie einen kleinen Jungen erscheinen lassen.

Abb. 1: Vladimir Bomgard 1917 unter dem Portrait seines Vorgängers Leopold Leopoldovich. Still aus Alex Hardcastle: A young Doctor’s Notebook, © polyband 2013, TC: 00:03:01. Alle Bildrechte mit freundlicher Genehmigung der polyband Medien GmbH.
Abb. 1:
Vladimir Bomgard 1917 unter dem Portrait seines Vorgängers Leopold Leopoldovich. Still aus Alex Hardcastle: A young Doctor’s Notebook,
© polyband 2013, TC: 00:03:01. Alle Bildrechte mit freundlicher Genehmigung der polyband Medien GmbH.

Die gesamte Szene ist in diesem Sinne darauf ausgerichtet, das Erleben der Ankunft durch die Augen Bomgards wiederzugeben – durch einen Erfahrungshorizont, der sich um seine Figur sowie ihre Verhältnisse zur Umwelt und anderen Charakteren etabliert und ausagiert. 99Vgl. Altman: A Theory of Narrative (wie Anm. 1), S. 136. Altman betont die sekundäre Rolle anderer Figuren, die in der Perspektive der Hauptfigur zu Statthaltern der Erfahrung, zu „models and motives“, des Protagonisten werden. Als eine Verhaltensstruktur geprägt, formuliert Altman dies ganz im Sinne Maurice Merleau-Pontys und dessen Arbeit zum Kino: „Wherever we turn in the single-focus world, protagonists are surrounded in their quest by models of behaviour against which we readers regularly measure their conduct.“ Ebd., S. 147. Dieser Eindruck verstärkt sich mit Blick auf die Eröffnung des Films, die einen älteren Vladimir Bomgard, verkörpert durch den Schauspieler Jon Hamm, in seinem Moskauer Büro zeigt. Im Jahr 1934 blickt er in einer Nahen rauchend und schwer ausatmend aus dem Fenster. Wenn er sich in einer Halbtotalen umwendet, erfährt der Zuschauer den Grund hierfür. Denn das Büro, in dem er sitzt, wird von uniformierten Männern auf den Kopf gestellt. Birgt diese Situation den unangenehmen Charakter einer Durchsuchung, deren Grund zu Beginn der Serie offen gehalten wird, so doch auch den Effekt, dass Bomgard auf ein Notizbuch aufmerksam gemacht wird, in dem er sofort zu blättern beginnt: 1010„It’s the first time I’d seen it in years. I’d forgotten I still had it“ sagt der ältere Bomgard am Ende der ersten Episode. Hardcastle: A young Doctor’s Notebook (wie Anm. 5), TC: 00:22:20. „I had not long graduated from the Imperial Moscow University of Medicine and Dentistry top of the class, when I was sent to the remote village of Moryovo to run a hospital.“ 1111Ebd., TC: 00:00:58. Aus dem Off gesprochen organisiert das Lesen der ersten Sätze durch den älteren Arzt den Wechsel zu seinen Erlebnissen als junger Mann. Und die Verlängerung des single-focus rahmt die folgende Narration als eine Retrospektive, mit der Bomgard auf sein eigenes Leben zurückblickt.

Abb. 2: Vladimir Bomgard liest 1934 in seinem Tagebuch. Still aus Alex Hardcastle: A young Doctor’s Notebook, © polyband 2013, TC: 00:00:38.
Abb. 2:
Vladimir Bomgard liest 1934 in seinem Tagebuch. Still aus Alex Hardcastle: A young Doctor’s Notebook,
© polyband 2013, TC: 00:00:38.

Auf diese Weise scheint die Serie ihrer literarischen Quelle zu entsprechen sowie schriftliche und filmische Narration zur Deckung bringen zu wollen. Auf den Arztgeschichten 1212Michail Bulgakow: Arztgeschichten, München 1993. Michail Bulgakows basierend, die als autobiografisches Werk des ehemaligen Arztes aus der Retrospektion geschrieben wurden, eröffnet A young Doctor’s Notebook ebenfalls ein Narrativ, das die Erlebnisse eines jungen Mannes durch seine in die Jahre gekommene, ältere Version schildert. Die Serie erweckt, im Ausgang von einer solchen Rahmung, den Eindruck, tatsächlich dieselbe Handlung wie ihre Buchvorlage entwickeln zu wollen, die sich hier nur mit anderen Mitteln realisiert. Und das inszenierte Artefakt des Notizbuches als Festsetzung der Narration verbürgt die Kontinuität dieser Perspektivierung; sowohl über die Distanz von siebzehn Jahren als auch über die Distanz zwischen den zwei Medien Schrift und Film. Oder auch nicht.

III

Die sich an die Ankunft im Krankenhaus und die Konfrontation mit der Belegschaft anschließende Szene lässt dieses Verhältnis noch einmal kippen, indem sie die behauptete Monoperspektive unvermutet in zwei differenzierte und miteinander in Konflikt geratende Sichtweisen aufspaltet. Wenn der junge Bomgard von Schwester Anna durch das Krankenhaus geführt und im OP-Saal für einen Moment von ihr allein gelassen wird, taucht dort plötzlich eine weitere Figur auf, die in gewisser Weise ebenfalls zum Klinikum-Personal gehört. Es ist der Vladimir Bomgard aus dem Jahr 1934, der nun mit viel Rat und wenig Tat in einen Dialog mit sich selbst aus dem Jahr 1917 tritt. Und das produziert eine Inkommensurabilität ihrer Perspektiven, die nicht nur in ihren unterschiedlichen Erscheinungsweisen deutlich wird. 1313Hamm, das wird in der Gegenüberstellung deutlich, ist mit seiner breiten Statur mindestens einen Kopf größer als Radcliffe und macht es nahezu undenkbar, es bei beiden Darstellern mit zwei Varianten ein und derselben Person zu tun zu haben. Sie bringt sich vor allem durch die Inszenierung zeitlicher Unterscheidung zum Ausdruck: siebzehn Jahre Differenz erscheinen als zwei unterschiedliche Erfahrungshorizonte mit je eigener Gegenwart und Dauer, die zu einem je unterschiedlichen Verständnis der Situation führen: „Oh, that’s right. That is all new to you, isn’t it? […] Watch out for the hot tap. It’s lethal… [und auf die OP-Lampe deutend:] Must have hit my head on this a million times. Yeah, I saw a lot of horror and tragedy in here. Happy days.“ 1414Hardcastle: A young Doctor’s Notebook (wie Anm. 5), TC: 00:05:28. Bomgart begegnet sich selbst als einem wortwörtlichen alter ego, das in den Augen des je Anderen im Gewand schicksalhafter Bestimmung erscheint: Bomgard weist auf das zu heiße Wasser oder die zu tief hängende OP-Lampe hin, doch Bomgard muss sich erst selbst die Hände verbrühen 1515Ebd., TC: 00:13:24. und den Kopf stoßen, 1616Ebd., TC: 00:12:41. um diese Lektionen zu lernen. Und auch die beginnende Morphiumsucht, an deren Folgen auch der Ältere akut leidet, ist unausweichlich festgeschrieben, um zu dem katastrophalen Höhepunkt der ersten Staffel zu führen.

Abb. 3: Treffen der Bomgards im Operationssaal. Still aus Alex Hardcastle: A young Doctor’s Notebook, © polyband 2013, TC: 00:06:01.
Abb. 3:
Treffen der Bomgards im Operationssaal. Still aus Alex Hardcastle: A young Doctor’s Notebook,
© polyband 2013, TC: 00:06:01.

„Festgeschrieben“ ist hierbei das ebenso treffende wie falsche Wort. Denn wieder handelt es sich um die Inszenierung des titelgebenden Notebooks und seiner Erzählung. Es ist aber nicht mehr das Artefakt des Buches, das für eine abstrakte Narration einsteht, die sich in ihrer schriftlichen wie filmischen Form auf gleiche Weise zu realisieren weiß. Es wird stattdessen zum audiovisuellen Ausdruck der Serie selbst – zum Erleben des Zuschauers, dem es sich als die Begegnung und das Verhalten der beiden Bomgards und als ihre paradoxale Durchdringung der Zeiten eröffnet: Die Gegenwart des panischen jungen Mannes, dessen aktuelle Situation ihn zum Schreiben hinführt ist zugleich die Gegenwart seines lesenden alter ego, die einer völlig anderen, zunächst nostalgischen und später bitteren, Geschichte folgt. Verkörpert in den zwei Bomgards – ihrem Aufeinandertreffen, ihren Annäherungen und Differenzen – bildet sich das Notizbuch als performative Gestalt seiner gleichzeitigen Produktion und Rezeption, das in der Gegenwart des Zuschauers, als drittem im Bunde, zu seinem Ausdruck findet.

Damit vollzieht die Serie eine Wendung, die ihrer quasi-literarischen Eröffnung durch die vorhergehenden Szenen zuwiderläuft. Denn als abstrakt lässt sich die Erzählung nun weder für die Protagonisten noch für den Zuschauer beschreiben. Abseits von jeglicher Nachträglichkeit realisieren sich zwei Narrative durch die Perspektiven der Bomgards und die ihnen eigene Gegenwart und Dauer – zwei Narrative, die ihre Form immer nur in actu finden: Die zur Produktion führende Angst des einen ist die rezipierende Schwärmerei des Anderen, um sich beide im Zuschauer noch einmal zu verdoppeln. Durch den Nachvollzug der Perspektiven in die ambivalente Multiperspektivität dieser unmöglichen Begegnung geworfen, ist auch der Zuschauer per receptionem Produzent, der die Unvereinbarkeit der Bomgards als die offene Lesbarkeit eines zur Audiovision gewordenen Notebooks erlebt. Eines Notebooks, das auf keine Objektivierung mehr zurückzuführen ist und auch das Narrativ des Zuschauers zu einer Perspektive – Gegenwart und Dauer – unter Anderen macht. Einem Notebook schließlich, das in dieser Weise nicht mehr auf einer repräsentativen Ebene zu begreifen ist, der sich dieses Zusammentreffen als das Nacheinander einer Beschreibung anbietet, sondern in der Spezifik filmischer Wahrnehmung selbst. Denn in der audiovisuellen Verkörperung und Gleichzeitigkeit der Perspektiven erlebt der Zuschauer die Multiperspektivität und Offenheit der Erzählung als das Verhalten ihrer Protagonisten – als ihre Sicht- und Hörbarkeit, die ihm erst zu dieser narrativen Entfaltung verhelfen:

Der Film läßt sich nicht denken, er läßt sich wahrnehmen. […] Das Kino zeigt uns nicht, wie es der Roman lange getan hat, die Gedanken des Menschen, es zeigt uns sein Benehmen oder sein Verhalten, es bietet uns unmittelbar diese besondere Weise des Zur-Welt-seins, die Dinge und die Anderen zu behandeln, die für uns in den Gesten, dem Blick, dem Mienenspiel sichtbar ist […]. 1717Merleau-Ponty: „Das Kino und die neue Psychologie“ (wie Anm. 7), S. 44.

    Fußnoten

  • 1Altman führt Erinnerung in Anlehnung an eine beispielhafte Erzählung Jorge Luis Borges („Das unerbittliche Gedächtnis“, in: Ders.: Fiktionen. Werke, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1992, S. 95–104) als Bildverkettung aus, die zwischen den unterschiedlichen Kadern eines Comics eine Verbindung herstellt, um diese als sich fortschreibende Narration zu kennzeichnen. (Vgl. Rick Altman: A Theory of Narrative, New York 2008, S. 13). Dies rückt auf theoretischer Ebene in große Nähe zu den Kino-Büchern Gilles Deleuze‘. Auf Henri Bergson aufbauend versteht sich die Bewegung des Films als eine Bereicherung der gegenwärtigen Erfahrung durch ihre Vergangenheit und löst sich als rezeptionsbezogenes Phänomen von der Vorstellung des Einzelbildes. Vgl. hierzu vor allem den ersten „Bergson-Kommentar“, in: Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild, Kino 1, Frankfurt a.M. 1997, S. 13–26.
  • 2Altman: A Theory of Narrative (wie Anm. 1), S. 14.
  • 3Ebd., S. 13.
  • 4Vgl. hierzu Moritz Schumm: „Wahrnehmung und Wissen“, in: wissenderkuenste.de 1 (2013), <https://wissenderkuenste.de/texte/ausgabe-1/wahrnehmung-und-wissen/> zuletzt aufgerufen am 04.07.2017.
  • 5Alex Hardcastle: A young Doctor’s Notebook, Staffel 1, Big Talk Productions (GB) 2012, DVD: polyband 2013.
  • 6Lässt sich in Altmans These ein Bezug zu den Kino-Büchern von Gilles Deleuze herstellen, so folgt die hier vorliegende Argumentation auch der darin betonten ‚Dauer‘, die Erinnerung eben nur in ihrer Aktualisierung anerkennt und nicht als abstraktes Faktum, das sich grundlos oder aus einem individuell eigenen Willen einzustellen vermag.
  • 7Vgl. Maurice Merleau-Ponty: „Das Kino und die neue Psychologie“, in: Ders: Das Auge und der Geist – philosophische Essays, Hamburg 2003, S. 29–46.
  • 8Hardcastle: A young Doctor’s Notebook (wie Anm. 5), TC: 00:01:46.
  • 9Vgl. Altman: A Theory of Narrative (wie Anm. 1), S. 136. Altman betont die sekundäre Rolle anderer Figuren, die in der Perspektive der Hauptfigur zu Statthaltern der Erfahrung, zu „models and motives“, des Protagonisten werden. Als eine Verhaltensstruktur geprägt, formuliert Altman dies ganz im Sinne Maurice Merleau-Pontys und dessen Arbeit zum Kino: „Wherever we turn in the single-focus world, protagonists are surrounded in their quest by models of behaviour against which we readers regularly measure their conduct.“ Ebd., S. 147.
  • 10„It’s the first time I’d seen it in years. I’d forgotten I still had it“ sagt der ältere Bomgard am Ende der ersten Episode. Hardcastle: A young Doctor’s Notebook (wie Anm. 5), TC: 00:22:20.
  • 11Ebd., TC: 00:00:58.
  • 12Michail Bulgakow: Arztgeschichten, München 1993.
  • 13Hamm, das wird in der Gegenüberstellung deutlich, ist mit seiner breiten Statur mindestens einen Kopf größer als Radcliffe und macht es nahezu undenkbar, es bei beiden Darstellern mit zwei Varianten ein und derselben Person zu tun zu haben.
  • 14Hardcastle: A young Doctor’s Notebook (wie Anm. 5), TC: 00:05:28.
  • 15Ebd., TC: 00:13:24.
  • 16Ebd., TC: 00:12:41.
  • 17Merleau-Ponty: „Das Kino und die neue Psychologie“ (wie Anm. 7), S. 44.
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