Das von Elizabeth Fisher und Rebecca Fortnum herausgegebene Buch On Not Knowing scheint nicht von kulturpolitischen Fragen motiviert zu sein und deshalb werden die lang geführten Debatten um künstlerisches Forschen, künstlerische Promotion sowie um Artist in Residence-Programme nicht explizit behandelt. Vielmehr könnte man sagen, dass es sich um einen Versuch handelt, die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte künstlerische Form zu ziehen, welche sich dem Wissen verweigert.
Sowohl das Graduiertenkolleg „Das Wissen der Künste“ als auch On Not Knowing wollen die künstlerische Produktion an und für sich ernst nehmen und sie nicht an den Maßstäben der Wissenschaft messen. Jedoch nimmt ersteres das Wissen in den Blick und letzteres das Nicht-Wissen. Das Graduiertenkolleg nimmt an, dass die Künste mit einem ganz speziellen Wissen operieren, und On Not Knowing argumentiert, dass die Künste mit Nicht-Wissen operieren. Haben wir es hier mit unvereinbaren Positionen zu tun oder mit sich ergänzenden?
On Not Knowing basiert zum Teil auf den Ergebnissen der gleichnamigen Tagung, die im Sommer 2009 in Kettle’s Yard, Cambridge statt gefunden hat. Es versammelt Künstler_innen und Theoretiker_innen, die in unterschiedlichen Formaten zu Wort kommen: Mehrere Essays, Dialoge, Statements, Interviews und gut ausgewählte Abbildungen entwickeln subtile und gut nachvollziehbare Positionen und Argumente. Auffällig ist, dass ein bestimmter Kunstbegriff mehr oder minder alle Beiträge zu prägen scheint: Kunst produziere kein Wissen, sondern die Möglichkeit, Wissen zu produzieren. Im Dialog mit David Cross bringt der Künstler und Dozent Matthew Cornford dieses Verständnis von Kunst als Projektionsfläche für potentielle Wissensproduktion auf den Punkt:
The idea of meaning being fixed inside an artwork seems reductive; the best art for me provokes new thoughts and meanings, again and again. The problem or weakness of some so-called ‚political art‘ is often in direct relation to its apparent success in communicating a clear and simple message. I find it rewarding when people read new meanings into our work, meanings that we didn’t know about. 11Matthew Cornford, David Cross: „Mobilising Uncertainty“, in: Elizabeth Fisher, Rebecca Fortnum (Hg.): On Not Knowing. How Artists Think, London 2013, S. 32–41, hier S. 40.
Die Frage, inwiefern diese Beziehung von Kunst und Unwissen einem spezifischen Kunstbegriff folgt, wird in On Not Knowing nicht kritisch diskutiert. Cornfords Aussage, es grenze sich von politischer Kunst ab, bleibt nur ein vager Hinweis.
In „On the Value of not Knowing“ identifiziert Rachel Jones verschiedene Philosophen und Philosophinnen, die sich mit Nichtwissen explizit oder implizit beschäftigt haben. 22Vgl. Rachel Jones: „On the Value of Not Knowing. Wonder, Beginning Again and Letting Be“, in: Ebd., S. 16–31. Von Sokrates bis Hannah Arendt diskutiert Jones die Frage, welches Potential das Nichtwissen in der westlichen Denktradition hat und welche Konsequenzen dies für die Kunst darstellt. Die bedeutendste Konsequenz liegt für Jones darin, dass das (altbewährte) Wissen manchmal aufgegeben werden müsse, um bestimmten Situationen adäquat begegnen zu können. Mit anderen Worten, das Festhalten am Wissen könne gegebenenfalls ein Hindernis darstellen.
Andrew Warstat versucht eine Erklärung dafür zu finden, warum es Künstler_innen so schwer fällt, das Wissen ihrer Kunst zu explizieren. Er sieht die Künstler_innen in einem Kreis der Produktion gefangen, was sie daran hindere, sich ihr Wissen zu vergegenwärtigen. Künstlerische Produktion sei demnach ein unbewusster Prozess. Es widerspreche dem Selbstverständnis der Künstler_innen aufzuhören, an etwas zu arbeiten, denn wenn sie aufhören, so seien sie keine Künstler_innen mehr. 33Vgl. Andrew Warstat: „Unteachable and Unlearnable. The Ignorance of Artists“, in: Ebd., S. 42–52, hier S. 45. Mit Maurice Blanchot argumentiert er, dass ein abgeschlossenes Werk zwangsweise eine Arbeitslosigkeit der Künstlerin bedeutet. 44Vgl. ebd. Der Künstler, der nicht „arbeitslos“ sein will, könne aus diesem Grund nicht „sich selbst lesen“, da ihm sein eigenes (abgeschlossenes) Werk und das Wissen seiner Kunst sich stets verweigere. 55Ebd., S. 46. Der Künstler habe keinen Zugang zu künstlerischem Wissen, da er entweder noch nicht fertig ist oder aber nicht mehr arbeitet. 66Ebd., S. 50.
Ähnlich argumentiert Jyrki Siukonen, dass der Produktionsprozess und das Kunstwerk dem Denken stets zuvorkommen beziehungsweise zeitliche Priorität haben. Während seiner Arbeit an einem Kunstgegenstand denke Siukonen nicht. 77Vgl. Jyrki Siukonen: „Made in Silence? On Words and Bricolage“, in: Ebd., S. 88–96. Im Gegensatz zu Warstat lässt er die Möglichkeit jedoch zu, dass ein Künstler nach seiner künstlerischen Arbeit eine theoretische Arbeit leisten könne, ohne seine Identität zu verlieren. Wenn Siukonen fertig ist, so fange er langsam an, in Stille zu sprechen, und erst als er diesen Text schrieb, habe er seine künstlerische Arbeit in Worte übersetzt. „I may now be on my way to becoming a theorist, as [Henry] Moore’s prognosis suggests, but it’s likely to be a slow journey.“ 88Ebd., S. 95.
Gary Peters’ Beitrag könnte man als eine Analyse dessen sehen, was genau passiert, wenn eine Künstlerin anfängt über ihr Werk zu sprechen. Ist es schon Wissen oder lediglich eine Beschreibung? Und wo ist die Grenze zu ziehen? In „Ahead of Yes and No. Heidegger on Not Knowing and Art“ möchte Peters zeigen, dass es oft eine Beschreibung und keine Erklärung ist, wenn eine Künstlerin über ihr Werk spricht. Dies sei laut Peters ohnehin wertvoller; „To learn to think, for Heidegger, is to learn to give heed to‚ what there is to think about […].“ 99Gary Peters: „Ahead of Yes and No. Heidegger on Not Knowing and Art“, in: Ebd., S. 110–119, hier S. 116. Man könnte Peters so verstehen, dass er die Betrachtung und die Beschreibung eines Werkes zur Priorität machen möchte, denn in ihr offenbare sich etwas, das im Wissen oder in der Interpretation zu verschwinden drohe.
Ähnlich wie die anderen Autor_innen von On Not Knowing denkt Rebecca Fortnum, dass es schwierig bis unmöglich ist, ein Wissen zu artikulieren, wenn man sich im Prozess der Produktion oder Erfahrung befindet. Laut ihrer Analyse der privaten Gespräche mit Künstler_innen, die sie im Laufe der Jahre geführt hat, sei es gerade das Unwissen, welches die Künstler_innen antreibt: „Artists enjoy the challenge of potential, and the pleasures of surprising themselves and so create spaces for not knowing, both physical and intellectual.” 1010Rebecca Fortnum: „Creative Accounting. Not Knowing in Talking and Making“, in: Ebd., S. 70–87, hier S. 77. Dies werde aber laut Fortnum durch die Institutionen nicht mehr unterstützt:
Within education (at all levels) the prevailing culture requires one to be able to articulate, at the point of experience, what one ‚knows‘ (learning outcomes are a good example of this). This approach also prevails in our methods of accounting for art practices (funding bids, project proposals, etc.) where it appears faith has been lost in the legitimacy of art as a mode of enquiry in itself. 1111Ebd.
Sie zitiert Sonia Boyce, die den Anfang dieser Haltung in der Konzeptkunst sieht, in der ein Programm oder eine Deklaration wichtiger zu sein schien als die Ausführung. 1212Vgl. ebd.
Hier spricht Fortnum einen Widerspruch an, dem sich Künstler_innen ausgesetzt fühlen. Auf der einen Seite werde von den Institutionen, die Kunst unterstützen, eine Projektskizze gefordert und auf der anderen Seite werde Innovation und Unvorhersehbarkeit der Kunstproduktion erwartet. Fortnum suggeriert, dass die Programme und Projektskizzen zu viel vorwegnehmen würden, und dass dabei der Prozess der künstlerischen Praxis mitsamt dessen Unvorhersehbarkeit verloren geht. Wie können die Künstler_innen diese Sphäre des Unwissens für sich zurück gewinnen? Fortnum hat keine kulturpolitischen Vorschläge, 1313Für kulturpolitische Auseinandersetzungen mit dem Thema siehe die Internetseite des Europäischen Instituts für Progressive Kulturpolitik <http://www.eipcp.net/> zuletzt aufgerufen am 15. 02.2014. sondern impliziert, dass die Lösung in einer bestimmten Form der Kunst liegt. Ihr Beispiel ist der Künstler Vong Phaophanit und sein zusammen mit Claire Oboussier produzierter Film All that is Solid Melts into Air (Karl Marx) (2005/06). Phaophanit schaffe einen Raum im Werk, der nicht von Wissen gefüllt sei, sondern leer bleibe. Das Unwissen stehe buchstäblich im Zentrum des Werkes. Die Betrachter_innen können ihr eigenes Wissen im Werk sehen und demnach sei es immer ein anderes Werk. Je nachdem wer es betrachtet und expliziert, bleibe das Werk und auch das Resultat für den Künstler stets ungewiss. 1414Vgl. Fortnum: „Creative Accounting“ (wie Anm. 10), S. 83–84. Fortnums Verweis auf Phaophanits und Oboussiers All that is Solid Melts into Air (Karl Marx) provoziert natürlich die Frage nach der Bedeutung dieses Zitats von Marx für das Problem des Wissens oder Unwissens der Künste im Kontext der kapitalistischen Gesellschaftsform. Jedoch ist hier nicht genug Platz, um dieser Frage nachzugehen.
On Not Knowing favorisiert das Unwissen der Künste ganz explizit. Die Gründe dafür sind, wie die verschiedenen Beiträge in On Not Knowing zeigen, theoretischer und philosophischer Art. Ein weiterer Grund ist eindeutig die Notwendigkeit der Abgrenzung von der Wissensökonomie, die als eine Einschränkung des Potentials der Kunst erfahren wird. Künstler_innen möchten von der Aufgabe freigestellt sein, ihr Wissen brauchbar oder nützlich zu machen. Wie sich jedoch andeutet, hängt die Bevorzugung von Unwissen mit der Entscheidung zusammen, einen Kompromiss mit der Wissensökonomie einzugehen. Denn sie benötigt nicht nur Wissen, sondern auch Unwissen, welches potentiell zu Wissen umgestaltet werden kann.
Nähme man eine genauere Ausdifferenzierung der Begriffe von Unwissen und Wissen vor, so könnte man wahrscheinlich zum Schluss kommen, dass Wissen und Unwissen keine sich gegenseitig ausschließenden Phänomene sind, sondern sich im Gegenteil ergänzen und erneuern. Das Unwissen der Künste könnte demnach als eine besondere Form des „Wissens der Künste“ gesehen werden, eines, das unabhängig von expliziten Wissensproduktionen operiert, welche sie jedoch erst möglich macht. Der Gegenstand des Graduiertenkollegs „Das Wissen der Künste“ kann als eine solche Wissensproduktion gesehen werden, die zwar von den Künsten ermöglicht, jedoch nicht vorweg genommen wird, da der hier zugrundeliegende Kunstbegriff gerade darauf ausgerichtet ist, Wissen als Möglichkeit zu belassen. Oder mit Elizabeth Fishers Worten: „The apparent opacity of artistic language is both the artist’s means and the viewer’s invitation to untether what is ‚known‘.“ 1515Elizabeth Fisher: „In a Language You Don’t Understand“, in: Ebd., S. 8–15, hier S. 8.
On Not Knowing impliziert ein Publikum, welches den künstlerischen Prozess nicht wissen oder verstehen kann (denn selbst die Künstler_innen können das nicht), sondern nur eigenes, ein dem Werk äußerliches Wissen an das Werk heran führen kann. Möchte aber der Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin des Graduiertenkollegs eine der unzähligen Betrachter_innen sein, die ihr eigenes Wissen in ein Werk projizieren? Eine solche ‚demokratische‘ Position des Betrachters widerspricht dem Selbstverständnis des Experten, der für die Exklusivität und Objektivität seines Wissens steht. Denn das Graduiertenkolleg ist nicht primär daran interessiert, die „Lücken des Wissens“ der Künstler zu füllen. Vielmehr fokussiert es ein spezifisch künstlerisches Wissen, das sich nur in der Kunst artikuliert. In diesem Fall gibt es einen Konflikt mit On Not Knowing, denn dort wird argumentiert, dass so ein Wissen gerade kein Wissen ist und ferner, dass ein künstlerisches Wissen weder vorher (dann wäre es eine ‚kunstferne‘ Deklaration oder Botschaft), noch nachher (dann wäre es das Wissen der Wissenschaftler_innen, oder der Betrachter_innen) existiert.
So ein Verständnis impliziert aber nicht nur einen bestimmten Kunstbegriff, wie oben diskutiert, sondern auch einen bestimmten Begriff von Produktion, nämlich einer in sich versunkenen (unbewussten) und vollständig konsumierten (es bleibt nichts ‚Objektives‘ zurück) Arbeit. Es handelt sich dann entweder um die Arbeit eines Genies, das nicht weiß, was es tut, und wo andere nur spekulieren können. Oder aber es handelt sich um automatisiertes Arbeiten, wo das Arbeiten einen Selbstzweck hat und wo das Wissen zwar im Prozess unbewusst erscheint, jedoch im Nachhinein expliziert und optimiert werden kann, was beim Genie nicht geht.
Es bleibt zu prüfen, ob eine Untersuchung von anderen, von On Not Knowing ausgeschlossenen Kunst- und Produktionsbegriffen zu einem anderen Ergebnis kommen würde, was die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des „Wissens der Künste“ betrifft. Das Wissen der Künste ist nämlich nicht auf das Wissen der Künstler_innen zu beschränken.
- 1Matthew Cornford, David Cross: „Mobilising Uncertainty“, in: Elizabeth Fisher, Rebecca Fortnum (Hg.): On Not Knowing. How Artists Think, London 2013, S. 32–41, hier S. 40.
- 2Vgl. Rachel Jones: „On the Value of Not Knowing. Wonder, Beginning Again and Letting Be“, in: Ebd., S. 16–31.
- 3Vgl. Andrew Warstat: „Unteachable and Unlearnable. The Ignorance of Artists“, in: Ebd., S. 42–52, hier S. 45.
- 4Vgl. ebd.
- 5Ebd., S. 46.
- 6Ebd., S. 50.
- 7Vgl. Jyrki Siukonen: „Made in Silence? On Words and Bricolage“, in: Ebd., S. 88–96.
- 8Ebd., S. 95.
- 9Gary Peters: „Ahead of Yes and No. Heidegger on Not Knowing and Art“, in: Ebd., S. 110–119, hier S. 116.
- 10Rebecca Fortnum: „Creative Accounting. Not Knowing in Talking and Making“, in: Ebd., S. 70–87, hier S. 77.
- 11Ebd.
- 12Vgl. ebd.
- 13Für kulturpolitische Auseinandersetzungen mit dem Thema siehe die Internetseite des Europäischen Instituts für Progressive Kulturpolitik <http://www.eipcp.net/> zuletzt aufgerufen am 15. 02.2014.
- 14Vgl. Fortnum: „Creative Accounting“ (wie Anm. 10), S. 83–84. Fortnums Verweis auf Phaophanits und Oboussiers All that is Solid Melts into Air (Karl Marx) provoziert natürlich die Frage nach der Bedeutung dieses Zitats von Marx für das Problem des Wissens oder Unwissens der Künste im Kontext der kapitalistischen Gesellschaftsform. Jedoch ist hier nicht genug Platz, um dieser Frage nachzugehen.
- 15Elizabeth Fisher: „In a Language You Don’t Understand“, in: Ebd., S. 8–15, hier S. 8.