„Jedes der vier Häuser [steht] frei für sich, die Fenster aller Räume öffnen sich nach Süden und Westen und aus jedem Raum hat man einen Ausblick ins Grüne.“ 11Senator für Bau- und Wohnungswesen, Bund Deutscher Architekten BDA (Hg.): Interbau Berlin 1957. Wiederaufbau Hansaviertel Berlin. Ausst.-Kat., Darmstadt 1957, S. 191. Im 1957 erschienenen Ausstellungskatalog zur Interbau werden die Reihen-Wohnhäuser des Architekten Manfred Fuchs am östlichen Rand des Hansaviertels beschrieben. 22Das ‚alte‘ Hansaviertel, das durch großbürgerliche Bauten der Gründerzeit in Blockrand-Bauweise geprägt war, ist im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt worden. Die Entscheidung, den südlich der Stadtbahn gelegenen Teil des Ortsteils Hansaviertel für die Internationale Bauausstellung Interbau 1957 zu nutzen, fasste der Westberliner Senat in Reaktion auf die bis 1953 errichtete Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee) im Ostteil der Stadt. (Vgl. Gabi Dolff-Bonekämper, Franziska Schmidt: Das Hansaviertel. Internationale Nachkriegsmoderne in Berlin, Berlin 1999, v.a. S. 15). Über vier Seiten hinweg werden nach einer kurzen Biografie des Entwerfers samt Porträtfoto die Bauten durch die großformatige Fotografie eines Modells und einen ganzseitigen Grundriss visualisiert (Abb. 1). Ihre städtebauliche Lage innerhalb des neuen Viertels wird ebenfalls durch die Fotografie eines entsprechenden städtebaulichen Modells nachvollziehbar gemacht (Abb. 2). Keine der Abbildungen ist mit einer Bildunterschrift oder anderweitigen Informationen versehen. In der auf das Fuchs’sche Projekt bezogenen, textlichen Beschreibung werden neben technischen Details auch atmosphärische Eindrücke wie eben jener „Ausblick ins Grüne“ oder die erzielte „Verbindung von Innen- und Außenraum“ 33Ebd. durch ineinander übergehende Gebäudebereiche beschrieben und gelobt.
Die Zusammenstellung dieser unterschiedlichen Beschreibungs- und Visualisierungsmedien versucht sich an einer möglichst nachvollziehbaren und bestenfalls in der Vorstellung des Lesers auch erlebbaren Darstellung einer Realität, deren faktische Existenz nicht infrage gestellt wird. Einzig: Durch kurzfristige Änderungen in der Konzeption des ‚neuen‘ Hansaviertels und die damit einhergehende Entscheidung, auf der infrage stehenden Fläche den Neubau der Westberliner Akademie der Künste zu errichten, ist die beschriebene Architektur nach den Plänen Manfred Fuchs’ niemals entstanden. Dem heutigen, mit dem realisierten Hansaviertel vertrauten Leser, fällt dieser Umstand freilich sofort auf: Während sich der Großteil der übrigen Beschreibungen und Visualisierungen aus dem Katalog mit der eigenen Anschauung der gebauten Realitäten im Hansaviertel deckt, tun sich zwischen den Beschreibungen der unrealisierten Bauten und den Fakten vor Ort unmittelbar Brüche auf. Die ‚Taktik‘ der Herausgeber wird im Moment ihres punktuellen Auseinanderdriftens von publiziertem Ideal und gebauter Wirklichkeit offensichtlich: Die im Katalog verwendeten Medien der architektonischen Visualisierung täuschen über den Umstand hinweg, dass die Bauten als eigentlich im Fokus stehende Ausstellungsobjekte noch nicht zur Verfügung standen. Nach Fertigstellung der Gebäude, so die offensichtliche Überlegung, würde sich diese Lücke automatisch schließen. Die durch mediale Stellvertreter suggerierte Wirklichkeit käme mit der faktischen Realität ex post zur Deckung. Die Aussicht aus dem Wohnzimmer von Manfred Fuchs’ Reihenhaus in das Grün des Tiergartens wäre dann – eben genau wie beschrieben – tatsächlich zu erleben.
Der oben benutzte Begriff der ‚Taktik‘ weist bereits auf die besonderen Eigenschaften, eventuelle Schwächen, vor allem aber auf die Potentiale architektonischer Visualisierungsmedien hin. Sowohl das Architekturmodell als auch die Architektur(modell)fotografie wurden und werden wegen ihrer je spezifischen Fähigkeit zur Blicklenkung und Suggestion wiederholt der Lüge oder des Betrugs bezichtigt. 44Vgl. zuletzt Oliver Elser: „Zur Geschichte des Architekturmodells im 20. Jahrhundert“, in: Ders., Peter Cachola Schmal (Hrsg.): Das Architekturmodell. Werkzeug, Fetisch, kleine Utopie. Ausst.-Kat. Frankfurt/Main 2012, S. 11– 22, hier S. 16; Monika Melters: „Die Versuchungen des Realismus. Zur Theorie und Forschungsgeschichte der Architekturfotografie“, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie. Heft 132/2014, S. 5– 14, hier S. 5. Dieser Verdacht erhärtet sich besonders in denjenigen Fällen, in denen – wie im Interbau-Katalog – die Besonderheiten, Beschränkungen und „Überschüsse“ 55Horst Bredekamp: „Modelle der Kunst und der Evolution“, in: Sonja Ginnow (Red.): Modelle des Denkens. Streitgespräch in der Wissenschaftlichen Sitzung der Versammlung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 12. Dezember 2003, Berlin 2005, S. 13– 20, hier S. 14. der jeweiligen Medien nicht explizit gemacht werden. 66Andere Fälle der bewussten und expliziten Ins-Bild-Setzung von Modellen als Modell werden in der vorliegenden Publikation im Text von Sarine Waltenspuel am Beispiel des Films behandelt. Die Skepsis gegenüber der abbildenden Objektivität speziell von Fotografie und Modell hat in der Kunstwissenschaft zwar erst in den vergangenen Jahren zugenommen und das Repräsentationsparadigma infrage gestellt. 77Zuletzt: Reinhard Wendler: Das Architekturmodell zwischen Kunst und Wissenschaft. München 2013. Dennoch hat der Architekt Rolf Janke in seinem Band über architektonische Modelle bereits in den frühen 1960er-Jahren auf besondere – von ihm durchaus positiv bewertete – Spezifika von Modell und Fotografie hingewiesen, deren Relevanz am Beispiel des Interbau-Katalogs gerade dadurch deutlich wird, dass sie dort nur implizit ihre Wirkung entfalten. 88Rolf Janke: Architekturmodelle. Beispielsammlung moderner Architektur. Stuttgart 1962. Janke bezeichnet Modelle, wie sie im Interbau-Katalog zur Verbildlichung eines abgeschlossenen Entwurfsvorgangs, bzw. dessen Ergebnis, genutzt werden, als „Ausführungsmodelle“. 99Ebd., S. 16. Diese seien „im Idealfall das abstrahierte, kleinmaßstäbliche Abbild des später Gebauten.“ 1010Ebd., S. 49. Aufgabe des Modellbauers sei es, „die Aussage eines Entwurfs […] in der abstrakten Wirkung eines Modells zu verdichten.“ 1111Ebd., S. 46.
Mit den ausgewählten Zitaten wird deutlich, worin sowohl die Stärke als auch das Dilemma der modellbasierten Visualisierung liegen: Janke schreibt vom Modell sowohl als „Abbild“ als auch als „Abstraktion“ und „Verdichtung“. Das Modell wird damit eng mit dem Paradigma der (bloßen) Repräsentation verknüpft, gleichzeitig aber auch davon gelöst. Mit seinen speziellen Anforderungen der Erkenntniserzeugung ist das Modell eben nicht das Gebäude im kleinen Maßstab, sondern auch, so Oliver Elser, ein „Objekt mit eigener Geschichte und eigenen Möglichkeiten.“ Ähnlich wie Gottfried Boehm die Besonderheiten der bildlichen Sinnerzeugung formuliert hat, lassen sich somit auch Architekturmodelle bezeichnen als „eine Macht, imstande, unsere Zugänge zur Welt vorzuentwerfen und damit zu entscheiden, wie wir sie sehen.“ 1212Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007, S. 14.
Die ‚Andersartigkeit‘ der Modelle gegenüber ihrem Referenzobjekt – dem ausgeführten Bau – kann damit bewusst eingesetzt werden, um Blicke und Wahrnehmung zu lenken und so bestimmte Entwurfsideen zu überhöhen oder zu idealisieren. Entwurfsideen oder -konzepte, die von unterschiedlichsten Notwendigkeiten der Wirklichkeit wie physikalischen Gesetzmäßigkeiten, lokalen Bauordnungen oder der konkreten Umgebung des Gebäudes häufig verunklärt werden, können im Modell zugunsten anderer Prioritäten umgangen werden. Besondere Charakteristika wie beispielsweise die Transparenz eines modernen Glaspavillons hingegen lassen sich im Modell überhöhen, weil Glasfassaden in ausgeführten Bauten reflektieren und je nach Lichtverhältnissen ihre Transparenz einbüßen. „The model […] represents [the architects’ ] idea in its original purity of conception – as the completed building, often a compromise for reasons of structure, client conflict, or cost, may not.“ 1313Karen Moon: Modelling Messages. The Architect and the Model. New York 2005, S. 24. Die Tatsache, dass der Katalog zur Interbau die Gebäude als eigentliche Objekte der Ausstellung nicht zeigt (oder zeigen kann), erweist sich damit paradoxerweise gerade nicht als Mangel oder Schwäche, sondern als gewissermaßen ‚rhetorische‘ Stärke der Publikation und setzt damit sowohl die Modelle als auch den Katalog an sich als Medien eigener Qualität ins Recht. Die Verwendung der Modellfotografien täuscht nicht nur über die Tatsache hinweg, dass die Bauten zum Zeitpunkt der Drucklegung und teilweise sogar bis über die Dauer der Ausstellung hinaus nicht fertiggestellt und sichtbar waren. Der Rückgriff auf genau diese Abbildungen bewirkt auch, dass Charakteristika, Besonderheiten und Visionen von Architektur vermittelt werden können, die selbst der fertiggestellte Bau nicht zeigen kann. Sie transportieren damit ein anderes Wissen als die Architektur, auf die sie verweisen.
Die Tatsache, dass der Katalog die Modelle freilich nur in zweidimensionaler fotografischer Reproduktion zeigen kann, verstärkt die Effekte von Blicklenkung, Unterschlagung und Betonung. „Eine Modellfotografie“, so Rolf Sachsse, „zeigt […] nie allein das Modell, sondern ist schon bildliche Interpretation davon.“ 1414Rolf Sachsse: „Eine kleine Geschichte der Architekturmodellfotografie“, in: Elser, Cachola Schmal 2012 (wie Anm. 4), S. 23-28, hier S. 23. Sie seien „Darstellungen von Darstellungen“ und damit „mediale Verdopplungen.“ 1515Ebd. Wenn Margareth Otti im Editoral zu einem Themenheft über das Verhältnis von Architektur und Fotografie schreibt, dass „die Fotografien […] unsere Wahrnehmung und Erwartungshaltung an das Gebäude [beeinflussen]“, muss dies in besonderem, gewissermaßen doppelten Maße auch für die Fotografien von Architekturmodellen gelten. Hinzu kommt: Der im Normalfall wesentlichste Unterschied zwischen Modell und ausgeführter Miniatur, der Unterschied im Maßstab, wird durch die fotografische Wiedergabe verwischt: Anhand des Bildes ist zunächst nicht feststellbar, wie groß das abgebildete Modell-Objekt in der Wirklichkeit ist oder war. Die Größenrelation zum Referenzobjekt ist nicht bestimmbar, das Modell könnte, zumindest theoretisch, genauso groß – oder gar größer – sein als die ausgeführte Architektur.
Die Architektur der Berliner Bauausstellung wird durch die Art ihrer Präsentation im zugehörigen Katalog also doppelt medialisiert, ohne dass dies – etwa durch entsprechende Bildunterschriften – expliziert würde. Die Publikation setzt damit einen durchaus folgerichtigen Fokus auf den Charakter des neu erstehenden Wohnviertels als Ausstellung, indem er die zu präsentierenden Bauten im Modell und seiner fotografischen Repräsentation ‚objektisiert‘: Die Architektur des Hansaviertels zeigt sich – offenbar maßstäblich deutlich verkleinert und in abstrahierter Form – in Modell-Objekten, die potentiell auch in den Vitrinen eines Ausstellungsraums präsentiert werden könnten und damit eine andere Form der ‚Bauausstellung‘ generieren würden. Ähnlich wie die Modelle hinter den Scheiben einer Vitrine dem haptischen Zugriff ihrer Beschauer entzogen und damit in gewisser Weise fetischisiert wären, behalten die Entwerfer durch die Präsentation ihrer Architektur als Modell auch im Katalog die ‚Kontrolle‘ über ihre Werke. Fotografische Aufnahmen der großmaßstäblichen Bauten würden den Ausstellungscharakter der Katalogpräsentation durch die Hinterlassenschaften, Spuren und Einschreibungen von Nutzungen und Nutzern stören.
Margareth Otti hat zuletzt auf den „cleanen“ Charakter von Architekturfotografien hingewiesen, der vor allem in der Moderne eingefordert worden sei:
„Das Foto ist perfekt, wenn es die übermenschliche Perfektion der Architektur widerspiegelt, die eigentlich nicht von dieser Welt ist und die außerhalb von Raum, Zeit, Schmutz, Verfall, Maschinen, Leben, Stadt, Witterungsverhältnissen, Graffiti, Werbung, Mistkübeln, Baumängeln etc. existiert.“ 1616Margareth Otti: „Jenseits der Repräsentation. Architekturfotografie der Gegenwart“, in: Fotogeschichte 132/2014 (wie Anm. 4), S. 25– 36, hier S. 26.
Ist der Fotograf bei der Aufnahme von gebauter Architektur davon abhängig, die geeignete Jahres- und Tageszeit für sein „cleanes“ Bild abzuwarten, Abfälle wegzuräumen und andere störende Details gegebenenfalls auch nachträglich aus dem Bild zu retuschieren, umgehen die Fotografen von Architekturmodellen diese Problematik von vornherein. Die Bauten des Hansaviertels erscheinen als Modelle im Katalog nicht nur als abstrahiert und idealisiert, sondern auch als freigestellte Objekte, deren Ästhetik und Formensprache weder von der Umgebung noch durch etwaige Spuren der Nutzung beeinträchtigt werden. Besonders deutlich wird diese Qualität beim Vergleich der Bilder mit den (farbigen) Fotografien in der 1999 erschienenen Monographie über das Hansaviertel (Abb. 3). 1717Dolff-Bonekämper/Schmidt 1999 (wie Anm. 2), z.B. S. 84, 91, 115. Aufgenommen gut 40 Jahre nach ihrer Errichtung zeigen die Bauten hier Spuren der Aneignung durch ihre Bewohner und Besucher, der Vernachlässigung und der (immerhin nur im geringen Maße erfolgten, punktuellen) Umgestaltung. Zudem sind sie allesamt umstellt von dichten Bäumen, Autos, und Straßenmöbeln. Das der Architektur zugrunde liegende ‚eigentliche‘ Konzept lässt sich erst über den geistigen Umweg der Substraktion all dieser Störelemente, gewissermaßen durch sie hindurch, erahnen. Zudem erscheinen die Bilder allesamt eng gebunden an den exakten Zeitpunkt ihrer Aufnahme. Sie zeigen, ob im Moment des Auslösens die Sonne schien, welches Auto wo geparkt hat oder welches Bonbonpapier wo, vor welchem Gebäude gelegen hat und binden damit einen Großteil der Aufmerksamkeit bei der Betrachtung. Ganz anders die Modellfotografien im Katalog von 1957. Sie zeigen Ausstellungsobjekte, die durch die visuelle Isolierung in ihrer Erscheinung an keinen bestimmten Moment gebunden sind. Auch wenn der Großteil der Modelle heute sicherlich nicht mehr erhalten ist, wirken sie in der fotografischen Wiedergabe geradezu überzeitlich.
Die Gedanken um Medialität und Bildlichkeit von Architektur und ihrer Darstellung lassen sich speziell am Beispiel Hansaviertel/Interbau in eine weitere Wendung führen. Stand in der bisherigen Betrachtung vor allem das Verhältnis des Katalogs zur gebauten Wirklichkeit vor Ort im Mittelpunkt, kann darüber hinaus gefragt werden, inwiefern auch das Hansaviertel selbst in seiner gebauten Gestalt Modell oder Medium ist, in diesem Charakter bestärkt durch seine Einbindung in den Ausstellungskontext im Jahr 1957 und mithilfe des besprochenen Katalogs. Die Bauten der Ausstellung sollten freilich nicht für sich stehen. Ihre explizite Funktion war es, Beispiel dafür zu sein, wie nachkriegsmoderne Architektur in Westeuropa, vor allem aber in der jungen Bundesrepublik und in Westberlin aktuell gedacht und konstruiert werden könnte und – politisch gewollt – wohl auch sollte. Um auch städtebaulichen Aspekten dieser neuen Idee von Stadt Ausdruck verleihen zu können, wurde ein Modell der Gesamtanlage in einem der Ausstellungspavillons der Interbau präsentiert. Ihren von oben auf das kleinmaßstäbliche Modell gerichteten Blick konnten die Besucher schließlich auf dem Ausstellungsgelände wiederholen: Sie konnten nicht nur als Fußgänger das baulich ausgeführte oder stellenweise noch in Ausführung begriffene ‚Modell‘ Hansaviertel aus der Straßenperspektive durchwandern, sondern konnten auch den sprichwörtlichen Überblick von oben gewinnen: Zwischen dem nahe gelegenen Bahnhof Zoologischer Garten westlich des Geländes und der Station Bellevue im Osten hatten die Ausstellungsmacher eine Seilbahn gespannt, aus deren Sesseln heraus die Besucher von oben auf das Areal schauen konnten; im Zentrum des neuen Viertels, am Hansaplatz, konnten sie sich zudem an einem Schaukran in zwei Aussichtsgondeln 57 Meter in die Höhe transportieren lassen. 1818Frank Manuel Peter: Das Berliner Hansaviertel und die Interbau 1957. Stuttgart 2007, S. 8, 64f. Damit gilt für den Betrachterblick des Ausstellungsbesuchers von 1957, was Mark Morris in Bezug auf Architekturmodelle als „King-Kong-Effect“ 1919Mark Morris: Models. Architecture and the Miniature. West Sussex 2006, S. 13. bezeichnet hat: Durch den Blick von oben ändert sich die Wahrnehmung. Der Betrachter gewinnt einen sonst nicht verfügbaren Überblick und macht sich das Gesehene auf diese Weise zu eigen. Einziger Unterschied des Hansaviertels zum Modell: Die Architektur bleibt statisch, während der Betrachter sich bewegt, wohingegen der Betrachter eines Modells das Objekt – zumindest potentiell – hochheben, drehen und damit von allen Seiten betrachten kann, ohne sich selbst bewegen zu müssen.
Die Notwendigkeit einer medialen Vermittlung des Hansaviertels, etwa durch den Katalog, besteht wohl in genau diesem, auf den ersten Blick offensichtlichen und damit marginalen, Unterschied zwischen Architektur und ihrem Modell bzw. ihrer fotografischen Reproduktion: Die Bauten des Hansaviertels waren zwar selbst als Ausstellungsobjekte konzipiert. In ihrer Großmaßstäblichkeit und Unbeweglichkeit waren und sind sie allerdings trotz der zeitweisen Hilfestellungen von Schaukränen oder Seilbahnen und den damit verbundenen Perspektivwechseln nicht in der Lage, alles zu zeigen, was an Informationen, Erkenntnissen und Wissen transportiert werden sollte. Die ‚Verdopplung‘ der Architektur in Medien wie dem Modell oder der Fotografie, die entweder direkt vor Ort in den Ausstellungshallen oder im besagten Katalog stattfand, stellte die Kommunizierbarkeit der in Frage stehenden Architekturideale sicher. Der Rückgriff auf Modelle und Fotografien und deren In-eins-Setzung mit der Architektur durch die Nicht-Kommentierung der Abbildungen im Katalog erweist sich damit nicht als Schwäche im Sinne eines Informationsverlusts bei der Übertragung in ein anderes Medium. Ganz im Gegenteil erwächst der Publikation gerade daraus ihre rhetorische Raffinesse im Sinne der Ausstellung.
Vielleicht ist der Katalog mit seinen Erläuterungen und Modellabbildungen deshalb von vornherein besser dazu in der Lage, die architektonische Konzeption auch der unrealisierten Fuchs’schen Reihenhäuser wiederzugeben, als es der beschriebene Blick aus dem Wohnzimmer in den Tiergarten wohl je vermocht hätte.
- 1Senator für Bau- und Wohnungswesen, Bund Deutscher Architekten BDA (Hg.): Interbau Berlin 1957. Wiederaufbau Hansaviertel Berlin. Ausst.-Kat., Darmstadt 1957, S. 191.
- 2Das ‚alte‘ Hansaviertel, das durch großbürgerliche Bauten der Gründerzeit in Blockrand-Bauweise geprägt war, ist im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt worden. Die Entscheidung, den südlich der Stadtbahn gelegenen Teil des Ortsteils Hansaviertel für die Internationale Bauausstellung Interbau 1957 zu nutzen, fasste der Westberliner Senat in Reaktion auf die bis 1953 errichtete Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee) im Ostteil der Stadt. (Vgl. Gabi Dolff-Bonekämper, Franziska Schmidt: Das Hansaviertel. Internationale Nachkriegsmoderne in Berlin, Berlin 1999, v.a. S. 15).
- 3Ebd.
- 4Vgl. zuletzt Oliver Elser: „Zur Geschichte des Architekturmodells im 20. Jahrhundert“, in: Ders., Peter Cachola Schmal (Hrsg.): Das Architekturmodell. Werkzeug, Fetisch, kleine Utopie. Ausst.-Kat. Frankfurt/Main 2012, S. 11– 22, hier S. 16; Monika Melters: „Die Versuchungen des Realismus. Zur Theorie und Forschungsgeschichte der Architekturfotografie“, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie. Heft 132/2014, S. 5– 14, hier S. 5.
- 5Horst Bredekamp: „Modelle der Kunst und der Evolution“, in: Sonja Ginnow (Red.): Modelle des Denkens. Streitgespräch in der Wissenschaftlichen Sitzung der Versammlung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 12. Dezember 2003, Berlin 2005, S. 13– 20, hier S. 14.
- 6Andere Fälle der bewussten und expliziten Ins-Bild-Setzung von Modellen als Modell werden in der vorliegenden Publikation im Text von Sarine Waltenspuel am Beispiel des Films behandelt.
- 7Zuletzt: Reinhard Wendler: Das Architekturmodell zwischen Kunst und Wissenschaft. München 2013.
- 8Rolf Janke: Architekturmodelle. Beispielsammlung moderner Architektur. Stuttgart 1962.
- 9Ebd., S. 16.
- 10Ebd., S. 49.
- 11Ebd., S. 46.
- 12Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007, S. 14.
- 13Karen Moon: Modelling Messages. The Architect and the Model. New York 2005, S. 24.
- 14Rolf Sachsse: „Eine kleine Geschichte der Architekturmodellfotografie“, in: Elser, Cachola Schmal 2012 (wie Anm. 4), S. 23-28, hier S. 23.
- 15Ebd.
- 16Margareth Otti: „Jenseits der Repräsentation. Architekturfotografie der Gegenwart“, in: Fotogeschichte 132/2014 (wie Anm. 4), S. 25– 36, hier S. 26.
- 17Dolff-Bonekämper/Schmidt 1999 (wie Anm. 2), z.B. S. 84, 91, 115.
- 18Frank Manuel Peter: Das Berliner Hansaviertel und die Interbau 1957. Stuttgart 2007, S. 8, 64f.
- 19Mark Morris: Models. Architecture and the Miniature. West Sussex 2006, S. 13.