Der Akt des Fotografierens als Performance: Vito Acconcis Twelve Pictures (1969)

Ausgabe #5
Oktober 2016
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Das Verhältnis zwischen Performancekunst und Fotografie wird in der Regel anhand einer Gegenüberstellung von fotografischen Dokumenten und fotografierten Ereignissen definiert. Die Frage, wie Performance-Fotos jeweils aufgenommen werden, spielt im Rahmen der theoretischen Reflexion dieses Verhältnisses kaum eine Rolle, wobei es hier einige wenige signifikante Ausnahmen gibt. Der vorliegende Beitrag behandelt künstlerische Positionen – im Fokus steht Vito Acconcis Performance Twelve Pictures aus dem Jahr 1969 –, die den Akt des Fotografierens als (Teil einer) Performance konzipieren und somit dessen Stellung innerhalb des Aufführungsgefüges in einem neuen, drängenden Licht erscheinen lassen.

I.

„We commonly parse the mediums (performance is not photography/photography is not performance) in line with notions of the ,live‘.“ 11Dieses und das folgende Zitat: Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London/New York 2011, S. 142. Auch wenn Rebecca Schneider dieses überkommene Schema zu Recht kritisiert und eine Neubestimmung unternimmt – „I am interested in shifting the conversation off a ,live‘ or ,dead‘ duality“ –, ließe sich fragen, in welche der beiden genannten Kategorien – „performance“/„photography“ – denn eigentlich der Akt des Fotografierens einzuordnen wäre. Ohne Zweifel ist dieser vergänglich; darüber hinaus kann er – so das Thema dieses kleinen Textes – als (Teil einer) Performance figurieren. Gehört er also nicht auf die Seite der Fotografie? Aber wie verhielte es sich dann mit den Zuständigkeiten für ihn? Dürfte oder müsste eine Medientheorie der Fotografie hier einfach passen, unbenommen des Substanzverlustes, der damit offenbar einherginge? Diese Konsequenz scheint kaum akzeptabel zu sein, gerade vor dem Hintergrund, dass, wie Herta Wolf eine zentrale These Philippe Dubois’ referiert, „kein Foto nur als Bild betrachtet und begriffen werden kann, sondern auch und vor allem als Resultat eines Aktes.“ 22Wolf, Herta: „Vorwort“, in: Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Dresden 1998, S. 7–14, hier S. 9. Kurz: Das von Schneider zitierte Schema ist viel zu grobschlächtig und eindimensional, um dem fraglichen Prozess gerecht zu werden.

Laut Richard Shusterman liegt hier außerdem noch ein weiteres grundsätzliches Problem vor: „In reducing photography to the photograph, we diminish its aesthetic scope and power by limiting the elements that can manifest artistic value and provide aesthetic experience.“ 33Dieses und die beiden folgenden Zitate: Shusterman, Richard: „Photography as Performative Process“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 70 (2012), Heft 1, S. 67–77, hier S. 68. Was demnach im Bereich der Theorie fehle, das sei eine breite Anerkennung der Handlungsdimension dieses Mediums, d.h. die Berücksichtigung von „photography as an activity“ bzw. „photography as performative process.“ Shustermans Argumentation fokussiert die Dramatisierungs- und Intensivierungseffekte, die in Situationen auftreten, in denen Menschen wissentlich einer Kamera ausgesetzt sind, liefert jedoch gleichermaßen eine Reihe von Gründen für die Frage, weshalb der Akt des Fotografierens gewöhnlich eben keine Aufmerksamkeit bekommt, darunter z.B. die Schwierigkeit, ihn ob seiner Flüchtigkeit überhaupt zu untersuchen – während seine Produkte, zumindest prinzipiell, jederzeit zu Händen sind. 44Shusterman 2012, S. 72. Somit geht auch in dieser Angelegenheit, wie so oft, die künstlerische Praxis der Theorie voran.

 

II.

Am 28. Mai 1969 fand in einem kleinen New Yorker Theater die Performance Twelve Pictures statt. Zu Beginn, um 21 Uhr, stand Vito Acconci, vom Publikum aus gesehen, ganz links am Rand der schmalen Bühne und blickte durch seinen Fotoapparat – eine Kodak 124 Instamatic mit Blitzwürfel – nach vorne. Der Aufführungsraum war komplett verdunkelt. Acconci machte nun einen Schritt zur Seite und drückte zugleich auf den Auslöser der Kamera, ein simples, im Vorfeld der Performance erdachtes Bewegungsprinzip, das er in der Folge wiederholte, bis insgesamt zwölf Fotos aufgenommen waren (Abb. 1): „At each step, I press down the shutter: the flash-cube flashes, the stage lights up, the house lights up.“ 55 Acconci, Vito: Diary of a Body, 1969–1973, Mailand 2006, S. 39. Auf den Seiten 39–41 ist die Performance ausführlich dokumentiert. Sie gehört, trotz eines gewissen Sonderstatus’, zu einer 23-teiligen Serie von „photographic pieces“, die ansonsten nicht vor Publikum stattfanden, siehe: Ausst. Kat. Vito Acconci. Photographic Works. 1969—1970, Rhona Hoffman Gallery, Chicago (8. Januar–6. Februar 1988)/Brooke Alexander, New York (6. Februar–5. März 1988), New York 1988, o.S. Alles in allem dauerte die Performance ca. drei Minuten. Gegen 23 Uhr betrat der Künstler die Bühne ein weiteres Mal für eine zweite und letzte Aufführung von Twelve Pictures.

Abb. 1 Vito Acconci: Twelve Pictures, 1969, The Theatre, New York City. Bildfolge nach dem Abdruck in Avalanche 6 (1972), S. 44. © Vito Acconci.
Abb. 1
Vito Acconci: Twelve Pictures, 1969, The Theatre, New York City.
Bildfolge nach dem Abdruck in Avalanche 6 (1972), S. 44.
© Vito Acconci.

Die Forschung hat diese Performance bislang eher stiefmütterlich behandelt. Dabei stand meist im Vordergrund, dass Acconci hier – ein in der Tat ganz und gar ungewöhnlicher Vorgang – „nicht sich, sondern das im Saal sitzende Publikum zum Betrachtungsgegenstand“ 66 Bismarck, Beatrice von: „Regisseur, Verführer und Werbefachmann in eigener Sache – Vito Acconci in alter und in neuer Frische“, in: Hellmold, Martin/Kampmann, Sabine/Lindner, Ralph u.a. (Hg.): Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, S. 17–41, hier S. 24. erklärte, so Beatrice von Bismarck. Als mindestens genauso signifikant darf jedoch die Art und Weise gelten, wie ihm dies gelang, nämlich vermöge einer mit einem Blitzwürfel ausgestatteten Kamera, für deren technischen Blick die Dunkelheit des Aufführungsraumes keinerlei Hindernis darstellte – anders als für die Augen der Zuschauer_innen. Freilich entbehrt der Begriff Zuschauer_innen an dieser Stelle nicht einer gewissen Ironie: Das Einzige, was die Personen, die damals gekommen waren, um Acconci auftreten zu sehen, letzten Endes problemlos, nein überdeutlich sehen konnten, war ihr eigenes Geblitzt- respektive Fotografiert- respektive Beobachtet-Werden. Mit anderen Worten: Indem der Künstler die visuelle Dimension beider Aufführungen jeweils auf das zwölfmalige grelle Aufleuchten eines Blitzwürfels beschränkte, zelebrierte Acconci in Twelve Pictures regelrecht den Akt des Fotografierens. Aus dem Aufnehmen von Fotos machte er folglich selbst eine Performance, noch dazu eine seiner ersten. Augenscheinlich mit der eigenen Unerfahrenheit kokettierend notierte er: „Face an audience: I might be afraid of them, I’m in the dark about them (control my fear, control the audience, they’re blinded by the flash).“ 77Acconci 2006, S. 39.

 

III.

Mit Twelve Pictures setzte Acconci die Fotografie also buchstäblich in Szene, und zwar als „performative process“. Der Fokus des Publikums galt der so eigentümlichen Art, es zu fotografieren, wie sie der Künstler auf der Bühne praktizierte, bei der vieles schemenhaft oder verborgen blieb; er galt etwa den kurzen Pausen nach jedem vierten Schritt, die nötig waren, um einen neuen Blitzwürfel aufzustecken, oder dem ansonsten mehr oder weniger regelmäßigen Klicken der Kamera. Als performativ im engeren Sinne 88Ich verweise hier lediglich auf Margaret Iversen, die schreibt: „The term performative is often used in critical writing in a less precise way to mean work with an element of performance, but I would like to see it reserved for the work of those artists who are interested in displacing spatial and temporal immediacy by putting into play repetition and delay“: „Following Pieces. On Performative Photography“, in: Elkins, James (Hg.): Photography Theory, New York/London 2007, S. 91–108, hier S. 97. erwies sich dieser Prozess nicht zuletzt deshalb, weil er wirklichkeitskonstituierend war, insofern er maßgeblich mit hervorbrachte, was eben durch ihn bildlich fixiert wurde: das Erscheinungsbild des Publikums. Während der Akt des Fotografierens hier als Performance figurierte, schrieb sich demnach auf den Aufnahmen, zugespitzt formuliert, seine charakteristische Performativität ein.

Acconci hat für solche Bilder den schönen Ausdruck „photos not of an activity but through an activity“ 99Acconci, Vito: „Notes on My Photographs. 1969–1970“, in: Ausst. Kat. Vito Acconci 1988, o.S. geprägt. Aus diesem Grund bezeichnet der Titel Twelve Pictures auch gleichberechtigt eine Performance wie die daraus hervorgegangene Bildserie. Gemäß Dubois bzw. Wolf sind allerdings, streng genommen, alle Fotos „Resultat[e] eines Aktes“, d.h. „photos […] through an activity“. Für letzteren Begriff gilt hier jedoch, worauf Philip Auslander anspielt, wenn er schreibt: „The purpose of most performance art documentation is to make the artist’s work available to a larger audience“ 1010 Auslander, Philip: „The Performativity of Performance Documentation“, in: PAJ: A Journal of Performance and Art 28 (2006), Heft 3, S. 1–10, hier S. 6. Im Original kursiviert. – und wie sollte sich dieses Wirken fotografisch besser vermitteln lassen als durch möglichst gute Aufnahmen „of an activity“?

 

IV.

Über die Fotografie bemerkte Gina Pane einmal pragmatisch: „It creates the work the audience will be seeing afterwards. So the photographer is not an external factor, he is positioned inside the action space with me, just a few centimeters away. There were times when he obstructed the view!“ 1111 Ferrer, Esther/Pane, Gina: „The Geography of the Body“, in: Lapiz 58 (1989), S. 36–41, hier S. 40. Zitiert nach: O’Dell, Kathy: „Displacing the Haptic: Performance Art, the Photographic Document, and the 1970s“, in: Performance Research. A Journal of the Performing Arts 2 (1997), Heft 1, S. 73–81, hier S. 76f. Aus der Gewissheit heraus, dass ungleich mehr Menschen ihre Performances nachträglich rezipieren würden als während der Aufführung, zog Pane die Konsequenz, die Person hinter der Kamera müsse stets dazu in der Lage sein, die jeweils eindrücklichsten Szenen festzuhalten. Und wenn dies mitunter bedeutete, dass „the photographer“ – zehn Jahre lang Françoise Masson – dem Live-Publikum ab und an die Sicht auf Pane versperrte, dann erkannte die Künstlerin hierin nur bedingt ein Problem, sondern primär eine Notwendigkeit. Für gelungene Performance-Fotos bzw. zugunsten eines „belated audience“ 1212Den Begriff verwendet: Widrich, Mechtild: „Ge-Schichtete Präsenz und zeitgenössische Performance. Marina Abramovićs The Artist is Present“, in: Daur, Uta (Hg.): Authentizität und Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes, Bielefeld 2013, S. 147–166, hier S. 155. nahm Pane eine vorübergehende Blickbeeinträchtigung diverser Teilnehmer_innen billigend in Kauf.

Natürlich war ihr jedoch daran gelegen, nicht selbst bei der Arbeit irritiert zu werden, weshalb sie mit Masson stets den Ablauf einer Performance en détail besprach und im Zuge dessen das Aufnehmen der Bilder sozusagen choreografierte. 1313Maude-Roxby, Alice: „Live Art on Camera: An Introduction“, in: Dies. (Hg.): Live Art on Camera: Performance and Photography, Southampton 2007, S. 83–88, hier S. 85. Die Fotografin manifestierte sich mithin als eine Art Ko-Performerin; sie war „inside the action space“. Nichtsdestotrotz stellte der Akt des Fotografierens, gemäß der zitierten Äußerung, für die Anwesenden ein zweites, uneigentliches Ereignis dar – ein zentraler Unterschied zu Acconcis Performance. Bisweilen verwehrte es dem Live-Publikum schließlich, zu sehen, was diese Personen eigentlich sehen wollten: die Künstlerin – obschon Pane versicherte: „I did nothing to deceive them; the audience understood very clearly that they would have this photographic reading afterwards.“ 1414 Ferrer/Pane 1989, S. 40. Zitiert nach: O’Dell 1997, S. 77. In bestimmter Hinsicht vollzog sich dergestalt ein subtiler Bruch mit einem topischen, inzwischen vielfach relativierten Versprechen der Performancekunst: „Performance is about the ,real-life‘ presence of the artist. […] Nothing stands between spectator and performer“. 1515Elwes, Catherine: „Floating Femininity: A Look at Performance Art by Women“, in: Kent, Sarah/Moreau, Jacqueline (Hg.): Women’s Images of Men, London 1985, S. 165. Zitiert nach: Jones, Amelia: „,Presence‘ in Absentia: Experiencing Performance as Documentation“, in: Art Journal 56 (1997), Heft 4, S. 11–18, hier S. 13. Denn neben das Erleben der „,real-life‘ presence of the artist“ trat hier die Erfahrung der fotografischen Medialisierung einer Aufführung, ja teilweise konfligierte sie sogar damit. Eine klare Grenzziehung zwischen „performance“ und „photography“ – ich erinnere an das Zitat zu Beginn dieses Textes – wird solcherart schon im Moment der Aufführung explizit in Frage gestellt.

 

V.

„There must be some examples of Performance Art“, so David Briers, „which were not recorded photographically, but not to do so has become as unthinkable as not having a photographer at one’s wedding.“ 1616Briers, David: „Photography and Performance Art“ (1986), in: Art Service Association: The Magazine: http://www.asa.de/magazine/iss6/10david_briers.html (letzter Zugriff am 23. Juni 2016). Der Autor kommt mit diesem Satz auf eine ebenso banale wie bedeutsame Tatsache zu sprechen: Fotograf_innen gehören zum Standardpersonal von Performances. Und nicht selten handelt es sich bei ihnen um Profis. Doch während die Ontologie, der Status und das Erkenntnispotenzial fotografischer Aufführungsbilder seit geraumer Zeit lebhaft und produktiv in der Forschung diskutiert werden, 1717Der Bestand an Publikationen zu diesen Themen ist mittlerweile unübersichtlich. Reichhaltige und breit gestreute Beiträge bietet der Sammelband: Heathfield, Adrian/Jones, Amelia (Hg.): Perform, Repeat, Record. Live Art in History, Bristol/Chicago 2012. ist die Literatur über deren Entstehung sowie die Akteur_innen, die sich dafür verantwortlich zeichnen, ausgesprochen dürftig, 1818Hervorzuheben sind insbesondere: Anderson, Joel: Theatre & Photography, Basingstoke 2015; Clausen, Barbara: Performance: Dokumente zwischen Aktion und Betrachtung. Babette Mangolte und die Rezeptionsgeschichte der Performancekunst, Dissertation, eingereicht im September 2010 an der Universität Wien; Maude-Roxby 2007. Anders als seine bildlichen Produkte ist der Akt des Fotografierens, wie bereits angesprochen, gleichermaßen ephemer – d.h. notorisch schwer erforschbar – wie die Aufführungen, zu denen er gehört. was nicht allein an den hiermit verbundenen methodischen Herausforderungen liegen dürfte.

Eigentümlicherweise spiegelt die Theorie mit diesem tendenziellen Desinteresse gewissermaßen eine Affinität zur Kaschierung solcher Figuren, wie sie manche Performancekünstler_innen an den Tag legen, z.B. Karen Finley. (Freilich gibt es vieldebattierte Stars des Metiers wie Babette Mangolte oder jüngst Manuel Vason. 1919Johnson, Dominic (Hg.): Encounters. Manuel Vason, Bristol 2007.) Dona Ann McAdams erinnert sich an ein Lob, das die Grundlage ihrer erfolgreichen Arbeitsbeziehung mit der Performancekünstlerin Finley zusammenfasst: „Karen said, ,Wow, you’re really good. You didn’t make noise. You didn’t move around. You’re not a jerk. You’re not in my face.‘“ 2020Zit. nach: Carr, Cynthia: „Our Golden Age in Hell – And What Came After“, in: Harris, Melissa (Hg.): Caught in the Act. A Look at Contemporary Multimedia Performance. Photographs by Dona Ann McAdams, New York 1996, o.S. Karen Finley, eine denkbar störempfindliche Performerin, schätzt demnach McAdams’ zurückhaltende Art, die ihrem „unobserved observer“-Ideal ziemlich nahe kommt. Auch Stuart Brisley lobt die zurückhaltende Art von Leslie Haslam: „He had a remarkable ability to shrink into anonymity when using a camera.“ 2121Brisley, Stuart: „The Photographer and the Performer“, in: Maude-Roxby 2007, S. 83–88, hier S. 85. Zugleich gibt der Künstler allerdings zu Protokoll, dass Haslam ein unabdingbarer Orientierungspunkt im Verlauf seiner Performance Decision/Indecision (1975) gewesen sei:

I was blind, so I needed the photographer to work with me way beyond what the camera required. We made an agreement that he would use the camera from certain positions, but also that he would collaborate with me to let me know where I was in relation to everything else, because I didn’t have a clue. That gave him the opportunity to enter into it. 2222Brisley, Stuart/Kaye, Nick: „Stuart Brisley“ (Interview), in: Kaye, Nick (Hg.): Art into Theatre. Performance Interviews and Documents, Amsterdam 1996, S. 73–88, hier S. 76.

Letztlich ermöglichte hier also zuallererst der Fotograf das Gelingen dieser Performance; mit seiner hörbaren Anwesenheit kompensierte er den beeinträchtigten Sehsinn des Performers.

 

VI.

Auch Acconci wurde während Twelve Pictures fotografiert – genauer: während der zweiten Aufführung, von der allein der Künstler die Fotos publizierte –, allerdings eher beiläufig: Ein Mann in der ersten Reihe des Aufführungsraumes erwiderte das Bühnengeschehen, indem er selbst eine Kamera benutzte, „acting as if in self-defense“ 2323Wagner, Anne: „Performance, Video, and the Rhetoric of Presence“, in: October 91 (2000), S. 59–80, hier S. 71., wie Anne Wagner in Kontrast zu den überwiegend neutralen oder mitunter sogar amüsierten Publikumsmienen schreibt. Leider sind diese anderen Aufnahmen nicht überliefert, und es ist auch nicht bekannt, ob der andere Fotograf bereits in der ersten Aufführung anwesend war, sprich: seine subversive Gegenhandlung planen konnte. Erhalten hat sich hingegen ein erstaunliches schriftliches Dokument, in dem der Künstler präzise festhielt, was er mit den beiden Filmrollen machte, nachdem die Performance mit ihren zwei Aufführungen zu Ende war: „2. After each performance, the film cartridge was placed in my pocket. 3. May 29, about 2 AM: I placed each cartridge in a loft on the fourth floor, 101 West 27th Street, New York City.“ 2424Dieses und die beiden folgenden Zitate: Acconci 2006, S. 40. So geht diese Schilderung noch sechs Absätze weiter, wobei etwa nachzulesen ist, wann und wohin Acconci die Fotos zum Entwickeln brachte – „June 21, about 5 PM: […] ,Coloutt Camera Stores,‘ 87 Christopher Street, New York City“ – und für welches Geschäft er sich, am 1. August gegen 17:30 Uhr, entschied, um Abzüge machen zu lassen: „,6th Ave.–23rd St. Camera Shop,‘ 706 Sixth Avenue, New York City.“ Der Detailreichtum, mit dem der Künstler all das vermerkt hat, macht einen geradezu pedantischen Eindruck.

Aber warum verwendete Acconci überhaupt Zeit darauf, diese – scheinbar größtenteils völlig belanglosen – Informationen aufzuschreiben? Eine mögliche Erklärung hierfür wäre, dass er die besondere Kontinuität zwischen seiner Performance bzw. deren beiden Aufführungen und den schließlich von ihm veröffentlichten zwölf Fotos der zweiten Aufführung herausstreichen wollte. 2525Mit Blick auf ein anderes „photographic piece“ des Künstlers schreibt Auslander: „[T]he ontological connection between performance and document seems exceptionally tight in this case“. Diese Aussage lässt sich jedoch unbenommen auch auf die hier beschriebene Performance übertragen. Auslander 2006, S. 4. Acconcis Aufzeichnungen hätten somit den Zweck, die aus diversen Einzelhandlungen zusammengesetzte Spur, die diese beiden Manifestationen von Twelve Pictures – die Aufführungen der Performance und die jeweils dazugehörigen Originalabzüge – physisch miteinander verknüpft, in der Spur der Schrift zu reproduzieren. Dahingehend heißt es in einer weiteren Notiz des Künstlers: „pictures as end of performance“. 2626Acconci 2006, S. 41. Im Original doppelter Asterisk nach „end“. Verwiesen wird damit auf einen entsprechenden Eintrag im „Webster’s Third New International Dictionary“. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies, dass im Grunde der gesamte Handlungszusammenhang, der zur Entstehung der Fotos geführt hat, als die Performance zu betrachten ist.

 

VII.

Punkt neun auf Acconcis Liste lautet: „August 5, about 11 PM: I pasted the photographs, in the order in which they were taken, on a 10½’’ by 14’’ sheet of white paper.“ 2727Acconci 2006, S. 40. Neben dieser „Sheet version“ von Twelve Pictures erdachte Acconci zudem eine „Wall version“, eine „Book version“ und eine „Pile version“. Dass er sich überhaupt mit der Präsentationsweise seiner Aufnahmen beschäftigte, offenbart noch einmal den Sonderstatus dieser Bilder, die alles andere als gewöhnliche Performance-Fotos sind. Es macht eben einen großen Unterschied, ob sie auf einem Stapel liegen und nach und nach aufgedeckt werden und sich frei mit ihnen hantieren lässt, oder ob sie fein säuberlich nebeneinander auf einem Blatt Papier kleben, wodurch intuitiv begreifbar wird, wie sie entstanden sind: Wer auch immer die Bilder solcherart betrachtet, tritt gewissermaßen in die Fußstapfen des Künstlers, der dementsprechend schreibt: „Sheet version: pictures as performance of the performance (performance as picture of the performance)“ 2828Acconci 2006, S. 41. Im Original Asterisk nach der ersten Nennung von „performance“. Verwiesen wird damit auf einen entsprechenden Eintrag im „Webster’s Third New International Dictionary“..

Abb. 2 Vito Acconci: Twelve Pictures, 1969, The Theatre, New York City. Ca. 99 x 660 cm, Fotos aufgezogen auf Schaumkernplatte, Mischtechnik (Präsentation im Rahmen der Ausstellung: „Vito Acconci. Photographic Works. 1969—1970“, Rhona Hoffman Gallery, Chicago (8. Januar–6. Februar 1988)/Brooke Alexander, New York (6. Februar–5. März 1988), entnommen dem Ausst. Kat. Vito Acconci. Photographic Works. 1969—1970, Rhona Hoffman Gallery, Chicago (8. Januar–6. Februar 1988)/Brooke Alexander, New York (6. Februar–5. März 1988), New York 1988, o.S.). © Vito Acconci.
Abb. 2
Vito Acconci: Twelve Pictures, 1969, The Theatre, New York City.
Ca. 99 x 660 cm, Fotos aufgezogen auf Schaumkernplatte, Mischtechnik (Präsentation im Rahmen der Ausstellung: „Vito Acconci. Photographic Works. 1969—1970“, Rhona Hoffman Gallery, Chicago (8. Januar–6. Februar 1988)/Brooke Alexander, New York (6. Februar–5. März 1988), entnommen dem Ausst. Kat. Vito Acconci. Photographic Works. 1969—1970, Rhona Hoffman Gallery, Chicago (8. Januar–6. Februar 1988)/Brooke Alexander, New York (6. Februar–5. März 1988), New York 1988, o.S.).
© Vito Acconci.

Der vielleicht avancierteste Ausstellungsmodus für Acconcis Fotos basiert auf einer mehrteiligen, schwarzen, stark querformatigen Schaumkernplatte, die an der Wand hängt (Abb. 2). Den zwölf Bildern, die auch hier gemäß dem Zeitpunkt ihrer Aufnahme angeordnet sind, dient sie als Träger. Kate Linker assoziiert dieses Arrangement überzeugend mit einem Filmstreifen. 2929Linker, Kate: „Vito Acconci“, in: Ausst. Kat. 1988, o.S. Am oberen Rand der Platte steht ganz links der handgeschriebene Satz: „ENTER STAGE RIGHT – SNAP PHOTO FLASH –“, der sich in der Folge über jedem Foto leicht abgewandelt wiederholt: „ONE STEP RIGHT – SNAP PHOTO FLASH –“. Darunter wurde jeweils ein grellgelber Farbwirbel gesprayt, der die ikonische Entsprechung zu dem schriftlich bezeichneten Blitzlichtleuchten darstellt. Den rechten Abschluss der Komposition bildet eine demgegenüber zurückhaltender gestaltete, kursorische Beschreibung der Performance. Wer nun also die Gelegenheit hat, diese „Wall version“ von Twelve Pictures in aller Ruhe abzuschreiten, vollzieht damit Acconcis Performance so weit als möglich nach, ja aktualisiert die vergangene Bühnenhandlung – den Akt des Fotografierens – am Ort der Ausstellung. In den Worten des Künstlers: „reader as moving performer (moving reader as performer); pictures as reversal of the performance“ 3030Acconci 2006, S. 41.. Für einen solchen Kurzschluss zwischen Fotografie und Performance bietet das zu Beginn dieses Beitrags zitierte Schema – „performance is not photography/photography is not performance“ – freilich keinerlei Raum.

    Fußnoten

  • 1Dieses und das folgende Zitat: Schneider, Rebecca: Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical Reenactment, London/New York 2011, S. 142.
  • 2Wolf, Herta: „Vorwort“, in: Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Dresden 1998, S. 7–14, hier S. 9.
  • 3Dieses und die beiden folgenden Zitate: Shusterman, Richard: „Photography as Performative Process“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 70 (2012), Heft 1, S. 67–77, hier S. 68.
  • 4Shusterman 2012, S. 72.
  • 5 Acconci, Vito: Diary of a Body, 1969–1973, Mailand 2006, S. 39. Auf den Seiten 39–41 ist die Performance ausführlich dokumentiert. Sie gehört, trotz eines gewissen Sonderstatus’, zu einer 23-teiligen Serie von „photographic pieces“, die ansonsten nicht vor Publikum stattfanden, siehe: Ausst. Kat. Vito Acconci. Photographic Works. 1969—1970, Rhona Hoffman Gallery, Chicago (8. Januar–6. Februar 1988)/Brooke Alexander, New York (6. Februar–5. März 1988), New York 1988, o.S.
  • 6 Bismarck, Beatrice von: „Regisseur, Verführer und Werbefachmann in eigener Sache – Vito Acconci in alter und in neuer Frische“, in: Hellmold, Martin/Kampmann, Sabine/Lindner, Ralph u.a. (Hg.): Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, S. 17–41, hier S. 24.
  • 7Acconci 2006, S. 39.
  • 8Ich verweise hier lediglich auf Margaret Iversen, die schreibt: „The term performative is often used in critical writing in a less precise way to mean work with an element of performance, but I would like to see it reserved for the work of those artists who are interested in displacing spatial and temporal immediacy by putting into play repetition and delay“: „Following Pieces. On Performative Photography“, in: Elkins, James (Hg.): Photography Theory, New York/London 2007, S. 91–108, hier S. 97.
  • 9Acconci, Vito: „Notes on My Photographs. 1969–1970“, in: Ausst. Kat. Vito Acconci 1988, o.S.
  • 10 Auslander, Philip: „The Performativity of Performance Documentation“, in: PAJ: A Journal of Performance and Art 28 (2006), Heft 3, S. 1–10, hier S. 6. Im Original kursiviert.
  • 11 Ferrer, Esther/Pane, Gina: „The Geography of the Body“, in: Lapiz 58 (1989), S. 36–41, hier S. 40. Zitiert nach: O’Dell, Kathy: „Displacing the Haptic: Performance Art, the Photographic Document, and the 1970s“, in: Performance Research. A Journal of the Performing Arts 2 (1997), Heft 1, S. 73–81, hier S. 76f.
  • 12Den Begriff verwendet: Widrich, Mechtild: „Ge-Schichtete Präsenz und zeitgenössische Performance. Marina Abramovićs The Artist is Present“, in: Daur, Uta (Hg.): Authentizität und Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes, Bielefeld 2013, S. 147–166, hier S. 155.
  • 13Maude-Roxby, Alice: „Live Art on Camera: An Introduction“, in: Dies. (Hg.): Live Art on Camera: Performance and Photography, Southampton 2007, S. 83–88, hier S. 85.
  • 14 Ferrer/Pane 1989, S. 40. Zitiert nach: O’Dell 1997, S. 77.
  • 15Elwes, Catherine: „Floating Femininity: A Look at Performance Art by Women“, in: Kent, Sarah/Moreau, Jacqueline (Hg.): Women’s Images of Men, London 1985, S. 165. Zitiert nach: Jones, Amelia: „,Presence‘ in Absentia: Experiencing Performance as Documentation“, in: Art Journal 56 (1997), Heft 4, S. 11–18, hier S. 13.
  • 16Briers, David: „Photography and Performance Art“ (1986), in: Art Service Association: The Magazine: http://www.asa.de/magazine/iss6/10david_briers.html (letzter Zugriff am 23. Juni 2016).
  • 17Der Bestand an Publikationen zu diesen Themen ist mittlerweile unübersichtlich. Reichhaltige und breit gestreute Beiträge bietet der Sammelband: Heathfield, Adrian/Jones, Amelia (Hg.): Perform, Repeat, Record. Live Art in History, Bristol/Chicago 2012.
  • 18Hervorzuheben sind insbesondere: Anderson, Joel: Theatre & Photography, Basingstoke 2015; Clausen, Barbara: Performance: Dokumente zwischen Aktion und Betrachtung. Babette Mangolte und die Rezeptionsgeschichte der Performancekunst, Dissertation, eingereicht im September 2010 an der Universität Wien; Maude-Roxby 2007. Anders als seine bildlichen Produkte ist der Akt des Fotografierens, wie bereits angesprochen, gleichermaßen ephemer – d.h. notorisch schwer erforschbar – wie die Aufführungen, zu denen er gehört.
  • 19Johnson, Dominic (Hg.): Encounters. Manuel Vason, Bristol 2007.
  • 20Zit. nach: Carr, Cynthia: „Our Golden Age in Hell – And What Came After“, in: Harris, Melissa (Hg.): Caught in the Act. A Look at Contemporary Multimedia Performance. Photographs by Dona Ann McAdams, New York 1996, o.S.
  • 21Brisley, Stuart: „The Photographer and the Performer“, in: Maude-Roxby 2007, S. 83–88, hier S. 85.
  • 22Brisley, Stuart/Kaye, Nick: „Stuart Brisley“ (Interview), in: Kaye, Nick (Hg.): Art into Theatre. Performance Interviews and Documents, Amsterdam 1996, S. 73–88, hier S. 76.
  • 23Wagner, Anne: „Performance, Video, and the Rhetoric of Presence“, in: October 91 (2000), S. 59–80, hier S. 71.
  • 24Dieses und die beiden folgenden Zitate: Acconci 2006, S. 40.
  • 25Mit Blick auf ein anderes „photographic piece“ des Künstlers schreibt Auslander: „[T]he ontological connection between performance and document seems exceptionally tight in this case“. Diese Aussage lässt sich jedoch unbenommen auch auf die hier beschriebene Performance übertragen. Auslander 2006, S. 4.
  • 26Acconci 2006, S. 41. Im Original doppelter Asterisk nach „end“. Verwiesen wird damit auf einen entsprechenden Eintrag im „Webster’s Third New International Dictionary“.
  • 27Acconci 2006, S. 40.
  • 28Acconci 2006, S. 41. Im Original Asterisk nach der ersten Nennung von „performance“. Verwiesen wird damit auf einen entsprechenden Eintrag im „Webster’s Third New International Dictionary“.
  • 29Linker, Kate: „Vito Acconci“, in: Ausst. Kat. 1988, o.S.
  • 30Acconci 2006, S. 41.
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