Die Ausgabe #8 von wissenderkuenste.de widmet sich der Frage nach dekolonialen Verschiebungen in künstlerischen Produktionen und Forschungen sowie kuratorischen Ansätzen. Sie ist hervorgegangen aus den Einreichungen auf einen Call for Submissions der AG „Dekoloniale Ästhetiken“, die an das DFG-Graduiertenkolleg „Das Wissen der Künste“ der Universität der Künste Berlin angegliedert ist, aber auch weiteren Interessierten offensteht. Die AG beschäftigt sich mit Fragen der ästhetischen Theoriebildung im Kontext von Anti-Kolonialismus, Postkolonialität und Dekolonialität und untersucht ästhetische Strategien des Dekolonialen anhand von künstlerischen Produktionen aus den Bereichen Fotografie, Film, Theater, Gegenwartsdramatik, Performancekunst, Musik, Sound, Video und Bildender Kunst. Konkret interessiert uns: Wie werden in künstlerischen Arbeiten Wissen und Erfahrungen komplexer kolonialer Verflechtungen produziert, inszeniert und kritisch reflektiert? Wodurch intervenieren künstlerische Praktiken in Formationen epistemischer Gewalt oder unterbrechen sie diese. Inwiefern vollziehen sie ein delinking?11Vgl. Mignolo, Walter D.: „Delinking. The rhetoric of modernity, the logic of coloniality and the grammar of de-coloniality“, in: Cultural Studies, 21/2-3 (2007), S. 449–514. Mignolo, Walter D.: Epistemischer Ungehorsam: Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien/Berlin 2012.
Der Begriff des delinking, der von Aníbal Quijano und Walter D. Mignolo in deren Arbeiten zu Moderne/Kolonialität vorgeschlagen wurde, ist für die Frage nach dekolonialen Verschiebungen in der Kunst von zentraler Bedeutung. In Epistemischer Ungehorsam führt Mignolo aus, dass das Konzept der Kolonialität der Macht nicht nur politisch-ökonomische Aspekte umfasst, sondern gleichermaßen auch Erkenntnis und Sein (Geschlecht, Sexualität, Subjektivität und Wissen) sowie Wahrnehmung, Empfindung und Aisthesis beinhaltet:22Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, S. 49.
Die Kolonialität der Macht verweist als Ganzes auf eine komplexe Matrix der Macht, auf ein Muster der Macht, das auf drei Pfeilern ruht: Erkennen (Epistemologie), Verstehen oder Begreifen (Hermeneutik) und Wahrnehmen (aisthesis). Die Kontrolle von Ökonomie und Autorität (die politische und ökonomische Theorie) wird von der Grundlage her bestimmt, auf der sich Erkenntnis, Verständnis und Wahrnehmung behaupten. Die koloniale Matrix der Macht ist letztlich ein aus Glaubenssätzen gesponnenes Netz, vor dessen Hintergrund gehandelt und Handlung rationalisiert wird, aus dem Vorteile gezogen oder dessen Konsequenzen erlitten werden.33Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, S. 50f.
Dekolonialität ist vor diesem Hintergrund als Beschreibung und Demontage der Kolonialität der Macht zu verstehen. Das konzeptuelle Begriffspaar von Kolonialität und Dekolonialität stellt für Mignolo einen Bruch mit Postmoderne und Postkolonialismus dar, weil es sich auf eine andere, außereuropäische Genealogie der Theoriebildung bezieht.44„(De)Kolonialität ist in erster Linie ein Konzept, dessen Ausgangspunkt in der Dritten Welt liegt. Es entstand in dem Moment, als die Aufteilung in drei Welten zu Fall kam und der Jubel über das Ende der Geschichte und eine neue Weltordnung begann. Seine Auswirkung war jener vergleichbar, die von der Einführung des Konzepts der ‚Biopolitik‘ hervorgerufen wurde, das von Europa seinen Ausgang nahm. […] Die ‚Kolonialität‘ […] bietet ein unentbehrliches Gefühl von Trost vor allem für MigrantInnen und People of Color in Entwicklungsländern […], deren Lebenserfahrungen, lang- und kurzfristigen Erinnerungen, Denkkategorien und Sprachen jenen fremd geworden sind, die das Konzept der ‚Biopolitik‘ entworfen haben, um Kontrollmechanismen und staatliche Regulierungen zu erklären. […] Die Dekolonialität hat ihre historische Grundlage in der Bandung-Konferenz von 1955, bei der VertreterInnen von 29 Ländern aus Afrika und Asien zusammentrafen. Das Hauptanliegen der Konferenz war die Suche nach einer gemeinsamen Grundlage und einer Zukunftsperspektive, die weder im Kapitalismus noch im Kommunismus zu finden war: Dieser Weg bestand in der ‚Dekolonialisierung‘. Dabei handelte es sich […] um eine Abkoppelung [delinking, M.F.] von den beiden wichtigsten westlichen Makro-Erzählungen.“ Mignolo, Walter D.: „Geopolitik des Wahrnehmens und Erkennens (De)Kolonialität, Grenzdenken und epistemischer Ungehorsam“, in: transversal journal 09 (2011), URL: https://eipcp.net/transversal/0112/mignolo/de.html (letzter Zugriff am 11. November 2019). Statt Poststrukturalistischer Theorie rücken hier dekoloniale Denkansätze „der radikalen Politik einer epistemischen Wende von Amílcar Cabral, Aimé Césaire, Frantz Fanon, Rigoberta Menchú, Gloria Anzaldúa und anderen“55Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, S. 54. in den Vordergrund. Während Mignolo Postkoloniale Theorie als akademische Transformationsstudien kritisiert, geht es hier um einen dekolonialen Umsturz, der mit einer epistemologischen Entkopplung, einem Delinking beginnt.66Ebd. Problematisch an dieser Setzung ist, dass dies unterschlägt, dass es den kritisierten postkolonialen Theoretiker_innen auch um Dekolonisierung geht, was sich nicht zuletzt daran ablesen lässt, dass sie sich teils auf die gleichen dekolonialen Denker_innen wie Mignolo beziehen, deren Überlegungen wiederum auch nicht ‚frei’ von europäischer Theorie waren, sondern diese produktiv machten – wie etwa an Fanons Auseinandersetzung mit Marxismus, Phänomenologie und Psychoanalyse zu sehen ist. Vgl. Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt/Main 1985; Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/Main 1966.
Gabi Ngcobo, Kuratorin der Berlin Biennale 10, hat in ihrem Vortrag „Curatorial Collaborations as Ways of Knowledge Production“ im Rahmen der vom DFG-Graduiertenkolleg „Das Wissen der Künste“ veranstalteten Ringvorlesung „Künste dekolonisieren. Ästhetische Praktiken des Lernens und Verlernens“ etwas ähnliches formuliert: Mit Bezug auf Fanon definierte sie den Prozess der Dekolonisierung als „program of disorder“, als „undoing“ und betonte damit die Schwierigkeit diesen umzusetzen bzw. problematisierte mit diesem Hinweis relativierende Einsätze des Begriffs Dekolonisierung – gerade im Feld der Kunst.77Der Vortrag war als gemeinsame Präsentation mit Yvette Mutumba geplant, die leider kurzfristig absagen musste, und fand am 5. Februar 2018 an der Universität der Künste Berlin statt. Zugleich ist die Arbeit an der Dekolonisierung der Wahrnehmung und Erkenntnis nicht neu, sondern ist genealogisch verbunden mit antikolonialen ästhetischen Praktiken seit Beginn der Kolonisierung:
Decolonial aesthetics refers to ongoing artistic projects responding and delinking from the darker side of imperial globalization. Decolonial aesthetics seeks to recognize and open options for liberating the senses. This is the terrain where artists around the world are contesting the legacies of modernity and its re-incarnations in postmodern and altermodern aesthetics.88Lockward, Alanna/Vázquez, Rolando/Díaz Nerio, Teresa María, u.a.: „Decolonial Aesthetics I“, Transnational Decolonial Institute, 22. Mai 2011, URL: https://transnationaldecolonialinstitute.wordpress.com/decolonial-aesthetics/ (letzter Zugriff am 5. November 2019).
Alternativ zur Übersetzung von delinking als Entkopplung hat Sabine Broeck vorgeschlagen, von Entbindung zu sprechen, da diese neben dem Loslösen aus den Wissenspolitiken der kolonialen Moderne den Aspekt des „in die Welt Setzens“ betont.99Broeck, Sabine: „Dekoloniale Entbindung. Walter Mignolos Kritik an der Matrix der Kolonialität“, in: Karentzos, Alexandra/Reuter, Julia (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012, S. 165–175, hier S. 167. Wenn wir den epistemischen Gehalt von Kunst auch in Hinblick auf das Vermögen von Kunst, Welt(en) herzustellen, verstehen, scheint auch Delinking nicht nur als Potential der Ablösung, sondern Neueinsetzung von Welt mit den Mitteln der Kunst auf. In seiner Besprechung der Sharjah Biennale 2013, „RE:EMERGING, DECENTRING AND DELINKING. Shifting the Geographies of Sensing, Believing and Knowing“ betont auch Mignolo das Potential von Delinking als Verschiebung hin zur (Er)Öffnung von spezifischen Wegen in eine andere Zukunft (der Kunst).1010Mignolo, Walter D.: „RE:EMERGING, DECENTRING AND DELINKING. Shifting the Geographies of Sensing, Believing and Knowing“, in: IBRAAZ (März 2013), Platform 005, S. 13, URL: https://www.ibraaz.org/usr/library/documents/essay-documents/re-emerging-decentring-and-delinking.pdf.
Von uns als deferral (im Unterschied zu shifting) übersetzt, erhält Verschiebung neben der räumlichen bzw. geopolitischen Dimension auch eine zeitliche – im Sinne von Verzögerung oder Aufschub – und deutet damit auf rassistische Chronopolitiken, die Kara Keeling, die in dieser Ausgabe im Gespräch mit dem Queer Frequency Modulation Collective zu hören ist, in ihrer Lektüre von Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken herausgearbeitet hat: Wie lässt sich die Schwarze Erfahrung des Aufschubs, die Schwarze Bedingung des Wartens in kolonialer Zeit (colonial time) hin auf eine Zukunft öffnen oder als geöffnet denken?1111Keeling, Kara: The Witch’s Flight. The Cinematic, the Black Femme and the Image of Common Sense, Durham/London 2007, S. 27–44. Auf welche Weise intervenieren künstlerische Arbeiten in das rassistische Zeitregime? In welcher Weise, und das ist die der Ausgabe zugrunde liegende Fragestellung, greifen anti- bzw. dekoloniale Theoriebildung und künstlerische Praktiken ineinander bzw. inwiefern wird Kunst selbst theoretisch?
Eingeladen waren künstlerische und wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit verschiedenen Wissensbeständen und deren ästhetischen Bearbeitungen in Kunstproduktion, die dekoloniale Verschiebungen aufzeigen oder selbst vollziehen: Wie können performative, filmische, fotografische und andere künstlerische Praktiken koloniale Machtverhältnisse irritieren? Worin unterscheiden sich die Formen, Mittel und Strategien in den jeweiligen Künsten und Kunstpositionen voneinander? Besonders interessierten wir uns für Beiträge, die entweder selbst ästhetische Praktiken der Erinnerung darstellen oder diese analysieren. Um vor dem Hintergrund dieser erinnerungspolitischen und historiografischen Arbeit an der Geschichte der Kolonisierung, aber auch des diese durchziehenden anti-/ und dekolonialen Widerstands die Gegenwart zu reflektieren und für die Zukunft zu öffnen, ist die Auseinandersetzung mit dem (anti-)kolonialen Archiv von zentraler Bedeutung.1212Für eine Problematisierung verschiedener Umgangsweisen mit dem kolonialen Archiv vgl. Kuster, Brigitta: „Choix d’un passé. Transnationale Vergegenwärtigungen kolonialer Hinterlassenschaften“, in: Lorey, Isabell/eipcp (Hg.): transversal texts (09/2016), S. 45–49, URL: https://transversal.at/books/choixdunpasse (letzter Zugriff am 11. November 2019). Im Zentrum stehen vor allem Beiträge, die das Archivieren als ästhetische Praxis im Hinblick auf dekoloniale Politiken befragen: Welche Ästhetiken des Archivierens greifen dekolonialisierend in Wissensformationen ein? Was bleibt vom kolonialen Archiv übrig, wenn Ästhetiken des Ephemeren wie etwa Performances oder Musik, Teil von Wissensbeständen werden?1313Zu ephemeren Archiven vgl. u.a. Muñoz, José Esteban: „Ephemera as Evidence: Introductory Notes to Queer Acts“, in Women & Performance: a journal of feminist theory 8/2 (1996), S. 5–16; Cvetcovich, Ann: An Archive of Feelings, Durham 2003, S. 1–14. Wie werden solche Ästhetiken für dekoloniale (Wissens-)Politiken oder Archive produktiv gemacht?
Die Ausgabe versammelt Beiträge von Künstler_innen und Wissenschaftler_innen in so unterschiedlichen Medien wie Schrift, Sound, Videos, digitaler Zeichnung, Fotografie. Geografisch divers befassen sich die Beiträge mit Situationen im Globalen Süden, Afrika, Asien, Lateinamerika, und deren Verbindungen und diasporischen, migrantischen Verflechtungen mit Europa und Nordamerika. Die Künstlerin und Kuratorin Imayna Caceres adressiert mit ihrer digitalen Zeichnung The Wound as Bridge and the Path of Conocimiento (2018) und dem begleitenden Essay, ihre künstlerische Arbeit als Einschreibung und Fortschreibung einer Genealogie antikolonialer, queer-feministischer, indigener Praktiken, in der die Wunde als Brücke zu dieser fungiert. Der „Pfad der Erkenntnis“ oder auch des Wissens ist ein Konzept, das sich Caceres von Gloria Anzaldúa leiht und eine Form spiritueller Forschung und Aktivismus darstellt, die durch kreative Praktiken erreicht werden kann und auf Heilung der kolonialen Wunde ausgerichtet ist. Es sind nicht nur marginalisierte Narrative, die Caceres’ Erfahrung und künstlerische Praxis prägen, sondern es ist auch der Dialog mit dekolonialer Theoriebildung (insbesondere mit Anzaldúa und Quijano), der dieses Werk durchzieht. Damit interveniert sie in das koloniale/moderne Narrativ der Fortschrittsgeschichte. Auch der künstlerische Beitrag Looking Back Forward_Quip Nayr der Kulturwissenschaftlerin, Künstlerin und Kuratorin Verena Melgarejo Weinandt bezieht sich auf Gloria Anzaldúa, konkret auf das Konzept „Haciendo Caras/Making Faces“, dem sie im begleitenden Essay „Haciendo Caras/Making Faces: Connecting Identity, Resistance, Art, and Spirituality“ nachgeht und das sie auf ihre eigene künstlerische Arbeit bezieht. Auch hier geht es um die Frage, in welcher Weise Kunst dazu beitragen kann, in eurozentrische Epistemologien und deren physisch erfahrenen Konsequenzen, etwa durch rassistische Zuschreibungen, zu intervenieren. Melgarejo Weinandt lädt dazu ein, ihrer theoretischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit Anzaldúas Konzept zu folgen und ihre Arbeit, die in der Verbindung selbst gefärbter Textilien mit Fotografie und Schrift Zwischenräume und Interfaces betont, zu betrachten. Das „Gesichter Machen“ wird hier zur widerständigen wie heilsamen Strategie, diesen gewaltförmigen Anrufungen zu begegnen.
Die Theaterwissenschaftlerin Grit Köppen beobachtet in ihrem Aufsatz „Ästhetik des Aufruhrs: Dekoloniale Verschiebungen im zeitgenössischen Theater“ andere Strategien in den Theatertexten afrikanischer und afro-diasporischer Dramatiker_innen, die sie als Erweiterung des Delinking verstanden wissen möchte: die der Erhebung, des Aufschreis und des Verlachens. Mit Bezug zu Achille Mbembe, und darin Anzaldúa nicht unähnlich, betont sie die Praxis des „Selbstschreibens“ als dekolonisierende Methode.1414Mbembe, Achille: Kritik der Schwarzen Vernunft, Frankfurt/Main 2016, S. 276. In ihrer Analyse des Stücks Im Namen des Vaters, des Sohnes und des J.M. Weston des kongolesischen Bühnenautors Julien Mabiala Bissila arbeitet Köppen verschiedene ästhetische Verschiebungen heraus, die sich sowohl durch formale Unterbrechungen europäischer Dramenkonventionen, die sie als Delinking deutet, auszeichnen wie auch inhaltliche Strategien des Naming oder der Verschränkung von Zeit- und Raumebenen, die dem Erinnern an Widerstandspraktiken dienen, was Köppen als Linking bezeichnet. Bissila verschiebt die Bezeichnung der einzelnen Akte vom Aufzug hin zum Atemzug und betont damit die Bedeutung des Körpers – nicht nur in darstellender Kunst, sondern auch für dekoloniale Artikulationen.
In der Ton-Bild-Spur der Podcast Installation Looking After the Future: On Queer and Decolonial Temporalities präsentiert das Queer Frequency Modulation Collective, wie bereits erwähnt, die Montage eines Interviews mit der Film- und Medienwissenschaftlerin Kara Keeling. Zentraler Gegenstand des Gesprächs sind Überlegungen zu Zeitlichkeit und Dekolonisierung. Keeling betont, dass die auffindbaren Spuren Schwarzer Subjektivität im kolonialen Archiv, es nicht notwendiger Weise erlauben, die Leben zu rekonstruieren. Ebenso wenig ist wissbar, wie sich wirkliche Dekolonisierung anfühlt, so dass auch hier nur der Umweg über die afrofuturistische Fiktion bzw. Spekulation bleibt. Die hierbei ins Spiel gebrachten vergangenen und gegenwärtigen Entwürfe einer queeren, dekolonialen Zukunft wurden durch das Kollektiv so mit Sound montiert, dass auch das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit ins Rutschen gerät und spekulativ bleibt.
Die Autorin und Forscherin zu Race, Gender und Fotografie, Stefanie Fock, untersucht in ihrem Aufsatz „Why the Pictures Had to Come from Black. Looking with Myra Greene at Character Recognition“, die gleichnamige Fotoserie der afro-amerikanischen Fotografin Myra Greene, mit der diese in das Archiv der visuellen Anthropologie und des wissenschaftlichen (anti-schwarzen) Rassismus interveniert. Fock argumentiert, dass Greene in ihrer künstlerischen Forschung die visuellen Praktiken und Schauanweisungen aus dem 19. Jahrhundert in Schwingung mit dem Heute bringt und so zu einer Verschiebung beiträgt. Ausgehend davon versteht sie Greenes Vorgehen als dekoloniale künstlerische Methode, wie sie Rolando Vasquez vorgeschlagen hat.1515Mignolo, Walter D./Vázquez, Rolando: “Decolonial AestheSis: Colonial Wounds/Decolonial Healings,” in: Social Text Journal (15. Juli 2013), URL: http://socialtextjournal.org/periscope_article/decolonial-aesthesis-colonial-woundsdecolonial-healings/ (letzter Zugriff am 3. Januar 2019). Indem Fock selbst den Weg wählt, mit Greene zu schauen, ein Impuls der vielleicht vergleichbar ist mit dem von Trinh T. Minh-ha vorgeschlagenen „speaking nearby“1616Trinh T., Minh-ha: „Speaking Nearby. Interview von Nancy N. Chen mit Trinh T. Minh-ha“, in: Bernstorff, Madeleine/Saxenhuber, Hedwig (Hg.): Trinh T. Minh-ha. Texte, Filme und Gespräche, München/Wien/Berlin 1995, S. 59–77., arbeitet sie in ihrem Beitrag heraus, auf welche Weise Greenes Eingriffe in das (visuelle) koloniale Archiv als Heilung und Herstellung dekolonialer Optionen zu verstehen sind. Auch der Filmemacher und Künstler Ali Kazimi schlägt in seiner stereoskopischen 3D-Installation Fair Play eine Umnutzung früher fotografischer Technologien vor und betont so die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart. Gegenstand der Arbeit ist die Geschichte der Komagata Maru, eines japanischen Dampfers, mit dem Migrant_innen aus dem kolonialen Indien 1914 versuchten nach Kanada einzuwandern, aber vor der Küste Vancouvers abgefangen und an der Einreise gehindert wurden. Dieser ‚Fall’ steht exemplarisch für die Verflechtung von Kanadischer Migrationsgeschichte, Rassismus und Kolonialismus. Die Kunsthistorikerin Viktoria Nolte untersucht in ihrem Beitrag die ästhetischen Strategien des Erinnerns in Fair Play. Sie argumentiert, dass die Betonung des Affekts in der formalen Ausrichtung der immersiven Installation eine dekoloniale Ästhetik erzeugt, die die Beziehung zu dieser Vergangenheit in den Betrachter_innen restrukturiert und dabei das Leben und das Wissen der Passagier_innen, die zuvor aus den Erzählungen über die Komagata Maru gelöscht wurden, zur Wahrnehmung bringt. Darin sieht Nolte nicht nur einen Eingriff in nationale (Kolonial-)Geschichte, sondern auch in neoliberale Kunstkritik. Su-Ran Sichling beschäftigt sich in ihrer künstlerischen Forschung und Arbeit als Bildhauerin ebenfalls mit den marginalisierten Geschichten der (Arbeits-)Migration der frühen Bundesrepublik, die sie durch die Untersuchung von Materialien aufspürt. In ihren Gelehrtensteinen verwendet sie Terrazzo und Waschbeton, Werkstoffe, die sich in den 1950er und 1960er Jahren großer Beliebtheit erfreuten. Der begleitende Essay des Architekturhistorikers Nicholas Brandes „Naturalisierte Nation. Zur Materialität der westdeutschen Nachkriegsmoderne in Su-Ran Sichlings Arbeit Gelehrtensteine“ diskutiert Sichlings Arbeit dahingehend, ob ein materieller künstlerischer Ansatz nicht auch eine Intervention in die Privilegierung des Inhalts gegenüber der Form in dekolonialen Debatten darstellt.
Weniger mit materiellen denn mit ephemeren auditiven Spuren der deutschen Kolonialgeschichte in der postkolonialen Hafenmetropole Hamburg beschäftigt sich Katharina Pelosi in dem Soundstück Call to Listen – ein post_kolonialer Resonanzraum. Wie Pelosi im begleitenden Text ausführt, wird Zuhören hier als performative Handlung verstanden, die Erinnerungsräume und damit ein ephemeres Archiv herstellt, in dem sich gegenwärtige Töne mit historischen Ereignissen zu einer Soundlandschaft vermischen. Die Komposition fragt, wie Orte klingen, ob deren Geschichte(n) hörbar gemacht werden können und wie durch Klang die Wahrnehmung und Bedeutung von Orten verändert werden kann. Lassen sich durch das Erstellen ephemerer, performativer Archive dekoloniale Verschiebungen in der Erinnerungskultur erzeugen? Pelosi interessiert sich in diesem Zusammenhang auch für eine Dehierarchisierung der Wahrnehmung, die das Visuelle gegenüber dem Auditiven privilegiert. Ebenso bevorzugen Andrea und Matei Bellu in ihrem Video Paying a Visit to the Queen – Tracing Dispersion, Looking for Disappearance (2016) die auditive Ebene – auf das Zeigen wird vollständig verzichtet. In ihrem 10-minütigen Film begleiten sie den südafrikanischen Kunsthistoriker und Künstler Peju Layiwola und die namibische Historikerin Memory Biwa bei einem Besuch der afrikanischen Abteilung im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem. Zu deren Sammlung gehören auch manche der sogenannten Benin Bronzen – koloniale Raubgüter, die von den Briten 1897 in einem Krieg gegen das Königreich Benin im heutigen Nigeria geplündert und in kürzester Zeit im globalen Norden gehandelt wurden. Fast die Hälfte der Kunstwerke wurde nach Deutschland gebracht. In der Arbeit von Bellu und Bellu intervenieren die Stimmen der afrikanischen Wissenschaftler_innen in das Ethnologische Museum als Ort kolonialer Ordnung, Sammlung, und Wissensproduktion und stellen eine räumliche Neuverteilung zur Disposition – eine Frage, die nach der Veröffentlichung des Berichts von Felwine Sarr und Bénédicte Savoy zu Fragen der Restitution kolonialer Bestände in Archiven und Museen Ende des vergangenen Jahres stark in der Debatte steht und vor dem Hintergrund des Umzugs des Ethnologischen Museums in das demnächst öffnende Humboldt-Forum im Berliner Stadtschloss eine neue Aktualität und Dringlichkeit entfaltet.1717Sarr, Felwine/Savoy, Bénédicte: „The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics“, (11/2018), URL: https://restitutionreport2018.com/sarr_savoy_en.pdf (letzter Zugriff am 7. November 2019). Vgl. dazu auch Kuster, Brigitta/Lange, Britta/Löffler, Petra: „Archive der Zukunft? Ein Gespräch über Sammlungspolitiken, koloniale Archive und die Dekolonisierung des Wissens“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 20 (1/2019), S. 97–111. Umgekehrt dokumentiert der Beitrag von Isabella Schwaderer und Markus Schlaffke„(Re-)connecting embodied archives. Künstlerische Forschung im Zinda Naach-Kollektiv“ die Rekonstruktion des fragmentierten, verstreuten und lückenhaften Archivs der Tournee des indischen Menaka-Balletts im nationalsozialistischen Deutschland 1936–38. Mit der künstlerischen Forschung sollen die „mentalitätsgeschichtlichen Verschränkungen, Verbindungs- und Trennlinien“ zwischen Indien und Deutschland herausgearbeitet werden, die die Menaka-Tournee und ihre Rezeption wie nachträgliche Funktionalisierung kennzeichnen. Einen wichtigen Teil nimmt dabei die „Wiederverknüpfung verkörperter Archive“ ein, mit der das Kollektiv versucht, die deutschen Dokumente und die indischen nationalen wie minoritären Erinnerungen an die Tournee zusammenzubringen. Ziel ist eine partizipative Performance, durch die das ephemere Archiv zu einer geteilten Erinnerungspraxis werden kann.
Um die Verschränkung von Erinnerung und Fiktion, Biografie und Historiografie geht es in der künstlerischen Arbeit von Omar Chowdhury Memoirs of Saturn. Wir dokumentieren einen Essay, der anhand des fiktionalisierten Lebens des Historikers Dr. Shahidul Zaman, einem Verwandten Chowdhurys, zentrale Momente der Geschichte Bangladeschs erzählt. Dieser war Teil der gleichnamigen Ausstellung in Dhaka 2016, die aus Gründen der Zensur geschlossen wurde. Dem vorangestellt ist eine Email, die die politischen Umstände der Schließung adressiert. Das Schreiben wird hier zu einer Strategie, nicht nur das Konzept der Identität, sondern auch der Nation und ihrer Narrative (und die Verwicklung der Kunst in diese) zu problematisieren.
In ihrer Bandbreite gibt die Ausgabe Einblicke in verschiedene künstlerische Strategien und Methoden, die dekoloniale Verschiebungen in der Kolonialität des Wissens und Wahrnehmens forcieren/vollziehen. Als Herausgeber_innen möchten wir die Beiträge als Einladung zum gemeinsamen Nachdenken über die gestellten Fragen verstanden wissen. Gleichwohl sind wir uns bewusst, dass dies – wenn überhaupt – nur ein kleiner Schritt sein kann, mit dem wir hoffen, die Konversation über die Notwendigkeit der Dekolonialisierung weiterzuführen. Damit verbunden ist auch die Hinterfragung der Bedingungen des eigenen Arbeitens, die durch die Situiertheit an deutschen Kunstuniversitäten und die Förderung des Graduiertenkollegs durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft strukturiert sind.
Maja Figge
Mit Beiträgen von: Matei Bellu/Andrea Bellu, Imayna Caceres, Omar Chowdhury, Stefanie Fock, Ali Kazimi, Grit Köppen, Verena Melgarejo Weinandt, Victoria Nolte, Katharina Pelosi, Queer Frequency Modulation Collective mit Kara Keeling, Markus Schlaffke/Isabelle Schwaderer, und Su-Ran Sichling/Nicholas Brandes.
Herausgabe der Ausgabe #8: Juana Awad, Maja Figge, Grit Köppen, Katrin Köppert
- 1Vgl. Mignolo, Walter D.: „Delinking. The rhetoric of modernity, the logic of coloniality and the grammar of de-coloniality“, in: Cultural Studies, 21/2-3 (2007), S. 449–514. Mignolo, Walter D.: Epistemischer Ungehorsam: Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien/Berlin 2012.
- 2Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, S. 49.
- 3Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, S. 50f.
- 4„(De)Kolonialität ist in erster Linie ein Konzept, dessen Ausgangspunkt in der Dritten Welt liegt. Es entstand in dem Moment, als die Aufteilung in drei Welten zu Fall kam und der Jubel über das Ende der Geschichte und eine neue Weltordnung begann. Seine Auswirkung war jener vergleichbar, die von der Einführung des Konzepts der ‚Biopolitik‘ hervorgerufen wurde, das von Europa seinen Ausgang nahm. […] Die ‚Kolonialität‘ […] bietet ein unentbehrliches Gefühl von Trost vor allem für MigrantInnen und People of Color in Entwicklungsländern […], deren Lebenserfahrungen, lang- und kurzfristigen Erinnerungen, Denkkategorien und Sprachen jenen fremd geworden sind, die das Konzept der ‚Biopolitik‘ entworfen haben, um Kontrollmechanismen und staatliche Regulierungen zu erklären. […] Die Dekolonialität hat ihre historische Grundlage in der Bandung-Konferenz von 1955, bei der VertreterInnen von 29 Ländern aus Afrika und Asien zusammentrafen. Das Hauptanliegen der Konferenz war die Suche nach einer gemeinsamen Grundlage und einer Zukunftsperspektive, die weder im Kapitalismus noch im Kommunismus zu finden war: Dieser Weg bestand in der ‚Dekolonialisierung‘. Dabei handelte es sich […] um eine Abkoppelung [delinking, M.F.] von den beiden wichtigsten westlichen Makro-Erzählungen.“ Mignolo, Walter D.: „Geopolitik des Wahrnehmens und Erkennens (De)Kolonialität, Grenzdenken und epistemischer Ungehorsam“, in: transversal journal 09 (2011), URL: https://eipcp.net/transversal/0112/mignolo/de.html (letzter Zugriff am 11. November 2019).
- 5Mignolo, Epistemischer Ungehorsam, S. 54.
- 6Ebd. Problematisch an dieser Setzung ist, dass dies unterschlägt, dass es den kritisierten postkolonialen Theoretiker_innen auch um Dekolonisierung geht, was sich nicht zuletzt daran ablesen lässt, dass sie sich teils auf die gleichen dekolonialen Denker_innen wie Mignolo beziehen, deren Überlegungen wiederum auch nicht ‚frei’ von europäischer Theorie waren, sondern diese produktiv machten – wie etwa an Fanons Auseinandersetzung mit Marxismus, Phänomenologie und Psychoanalyse zu sehen ist. Vgl. Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt/Main 1985; Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/Main 1966.
- 7Der Vortrag war als gemeinsame Präsentation mit Yvette Mutumba geplant, die leider kurzfristig absagen musste, und fand am 5. Februar 2018 an der Universität der Künste Berlin statt.
- 8Lockward, Alanna/Vázquez, Rolando/Díaz Nerio, Teresa María, u.a.: „Decolonial Aesthetics I“, Transnational Decolonial Institute, 22. Mai 2011, URL: https://transnationaldecolonialinstitute.wordpress.com/decolonial-aesthetics/ (letzter Zugriff am 5. November 2019).
- 9Broeck, Sabine: „Dekoloniale Entbindung. Walter Mignolos Kritik an der Matrix der Kolonialität“, in: Karentzos, Alexandra/Reuter, Julia (Hg.): Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012, S. 165–175, hier S. 167.
- 10Mignolo, Walter D.: „RE:EMERGING, DECENTRING AND DELINKING. Shifting the Geographies of Sensing, Believing and Knowing“, in: IBRAAZ (März 2013), Platform 005, S. 13, URL: https://www.ibraaz.org/usr/library/documents/essay-documents/re-emerging-decentring-and-delinking.pdf.
- 11Keeling, Kara: The Witch’s Flight. The Cinematic, the Black Femme and the Image of Common Sense, Durham/London 2007, S. 27–44.
- 12Für eine Problematisierung verschiedener Umgangsweisen mit dem kolonialen Archiv vgl. Kuster, Brigitta: „Choix d’un passé. Transnationale Vergegenwärtigungen kolonialer Hinterlassenschaften“, in: Lorey, Isabell/eipcp (Hg.): transversal texts (09/2016), S. 45–49, URL: https://transversal.at/books/choixdunpasse (letzter Zugriff am 11. November 2019).
- 13Zu ephemeren Archiven vgl. u.a. Muñoz, José Esteban: „Ephemera as Evidence: Introductory Notes to Queer Acts“, in Women & Performance: a journal of feminist theory 8/2 (1996), S. 5–16; Cvetcovich, Ann: An Archive of Feelings, Durham 2003, S. 1–14.
- 14Mbembe, Achille: Kritik der Schwarzen Vernunft, Frankfurt/Main 2016, S. 276.
- 15Mignolo, Walter D./Vázquez, Rolando: “Decolonial AestheSis: Colonial Wounds/Decolonial Healings,” in: Social Text Journal (15. Juli 2013), URL: http://socialtextjournal.org/periscope_article/decolonial-aesthesis-colonial-woundsdecolonial-healings/ (letzter Zugriff am 3. Januar 2019).
- 16Trinh T., Minh-ha: „Speaking Nearby. Interview von Nancy N. Chen mit Trinh T. Minh-ha“, in: Bernstorff, Madeleine/Saxenhuber, Hedwig (Hg.): Trinh T. Minh-ha. Texte, Filme und Gespräche, München/Wien/Berlin 1995, S. 59–77.
- 17Sarr, Felwine/Savoy, Bénédicte: „The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics“, (11/2018), URL: https://restitutionreport2018.com/sarr_savoy_en.pdf (letzter Zugriff am 7. November 2019). Vgl. dazu auch Kuster, Brigitta/Lange, Britta/Löffler, Petra: „Archive der Zukunft? Ein Gespräch über Sammlungspolitiken, koloniale Archive und die Dekolonisierung des Wissens“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 20 (1/2019), S. 97–111.