Als Dokumente des Abends präsentieren wir hier zum einen das vollständige Vortragsmanuskript von Virginia Thielicke. Franz Anton Cramer hat uns eine Kurzversion seines Vortrages zur Verfügung gestellt, inklusive zweier Modelle des Archivischen im Tanz.
Virginia Thielicke: Provozieren. Materialisieren. Reflektieren. Aufzeichnungen als Antworten auf zeitgenössische Theaterproduktionen.
Liebes Publikum,
in den kommenden 25 Minuten möchte ich Ihnen Auszüge meiner Forschung vorstellen, die ich im Rahmen eines Seminars für Studierende im Lernbereich Theaterpädagogik/Darstellendes Spiel und der Performance Studies an der Universität Hamburg durchgeführt habe.
Die zentrale Frage, die heute beantwortet werden soll, lautet: Wie können Aufzeichnungen als Antworten auf zeitgenössische Theaterproduktionen provoziert, materialisiert und reflektiert werden?
Doch zunächst zur Frage: Was heißt Antworten auf Aufführungen überhaupt?
Mit Antworten auf Aufführungen ist ein erfahrungsorientiertes Rezeptionsverfahren für zeitgenössische Theaterproduktionen gemeint. Also für Inszenierungen, die sich vom Literaturtheater und seinen Bedeutungsvorgaben lösen und sich zum Beispiel anderen Erzählformen und Inszenierungsformaten wie Collagen, Assoziationen und Bildern, anderen Spielweisen wie Handeln statt ‚Als-ob-Spielen‘ sowie neuen Aufführungsorten, wie z.B. verlassenen Gebäuden zuwenden. Bei meiner Arbeit mit Studierenden konnte ich vielfach beobachten, dass sie auf die erstmalige Konfrontation mit diesen zeitgenössischen experimentellen Theaterformen mit großer Verunsicherung und Befremdung reagierten. Gewohnte Wahrnehmungs- und Rezeptionsdispositionen greifen hier häufig nicht mehr. Diese Beobachtungen veranlassten mich zu der Auseinandersetzung mit einem Vermittlungskonzept, das bei den Wahrnehmungen, Erfahrungen und Deutungsansätzen der Rezipient_innen ansetzt und mögliche im Aufführungsbesuch erlebte Irritationen produktiv werden lässt. Das Rezeptionsverfahren Antworten auf Aufführungen fußt auf Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden, welche die sogenannte Responsivität in den Mittelpunkt rückt. Für Waldenfels ist das Fremde weder ein Objekt unserer Wahrnehmung, noch ein Konstrukt unserer kognitiven Tätigkeit. Es ist vielmehr als ein Phänomen eigener Qualität zu verstehen, von dem besondere Wirkungen ausgehen. Das Fremde, so Waldenfels, zeigt sich uns, indem es sich einer uns gegebenen Ordnung entzieht und als Anspruch an uns herantritt, der uns trifft oder widerfährt. Die Wirkung dieser Erfahrung kann uns in Unruhe versetzen und verschiedene Antwortformen hervorrufen.
Beim pädagogisch initiierten und begleiteten Antworten auf Aufführungen antworten die Rezipient_innen schreibend, zeichnend, Klänge erzeugend und inszenierend auf ihre eigenen Wahrnehmungen und Aufmerksamkeiten in der Aufführung. Das heißt auf eben jenes, was in der Aufführung als Anspruch an sie herantritt und möglicherweise irritiert. Das pädagogische Setting des Antwortens auf Aufführungen umfasst eine Reihe von Impulsen in Form unterschiedlicher Aufgaben. Sie werden den Studierenden zur Unterstützung vorgelegt. Dazu gehören:
- der zweimalige Aufführungsbesuch derselben Inszenierung
- das Anfertigen von je zwei Erinnerungsprotokollen pro Aufführung
- das Erfinden und Durchführen einer weiteren Form der medialen Übersetzung der Wahrnehmung oder Erinnerung an die Aufführung
- Selbst- und Fremdreflexionen der Erinnerungsprotokolle und des Antwortprozesses
- das Entwickeln einer performativen Aktion oder angeleiteten Übung ausgehend von der eigenen Antwort
das Führen eines Werktagebuchs, das den gesamten Antwortprozess begleitet und dokumentiert
Neben der theoretischen Begründung des Konzepts aus theaterpädagogischer, theaterwissenschaftlicher und phänomenologischer Perspektive habe ich drei Antworten von Studierenden auf Aufführungen des experimentellen Gegenwartsstückes GAP FEELING des russischen Künstlerkollektivs AKHE untersucht. Das übergeordnete Erkenntnisinteresse der Analyse der Aufzeichnungen bestand dabei in der Frage, wie sich die Rezeptionsprozesse der Studierenden überhaupt gestalten. Eine zentrale Rolle nahm dabei die Frage nach dem Umgang der Studierenden mit Fremderfahrung im Sinne Waldenfels und der Rolle des pädagogischen Vermittlungssettings ein.
Die Aufforderung an die Studierenden, auf das Aufführungserlebnis auf unterschiedliche Art und Weise zu antworten und diesen Prozess in den Werktagebüchern aufzuzeichnen, hat verschiedene Funktionen. Als erstes provoziert es eine intensive Auseinandersetzung mit der Aufführung und verlängert den Erfahrungsmoment über sie hinaus. Zweitens materialisieren sich durch das Aufzeichnen die Assoziationen, Erfahrungen und Wirkungen und helfen im Nachhinein überhaupt erst zu realisieren, was einem widerfahren ist. Drittens führen sie den Rezipient_innen durch Frageimpulse zu einer intensiven Reflexion und führen ihnen mögliche Verschiebungen ihrer Wahrnehmung oder Haltung zum Stück vor Augen. Viertens stellen sie für die empirische Rezeptionsforschung einen den flüchtigen Moment überdauernden Materialkorpus zur Verfügung, der durch den gemeinsamen Bezug zum Stück GAP FEELING und den gestellten Aufgaben eine große Vergleichbarkeit gewährleistet. Zudem lassen die in den Werktagebüchern materialisierten Antworten die Bearbeitung mit einer wissenschaftlich anerkannten Methode zu.
Mit welcher Methode ein empirischer Zugang zu den Fremderfahrungen der Studierenden in ihren Dokumenten gefunden werden konnte, möchte ich nun erläutern. Dafür muss ich zunächst noch einmal zu Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden zurückkehren.
Waldenfels entfaltet seine Fremdheitskonzeption ausgehend von sogenannten Ordnungen, die in bestimmten Grenzen variieren. Sie sorgen dafür, dass uns etwas in einer bestimmten Gestalt, Struktur oder Regelung erscheint. Eine Ordnung ist für Waldenfels deshalb stets selektiv und exklusiv; das heißt, sie nimmt Ein- und Ausgrenzungen vor. Diese Kontingenz begrenzter Ordnungen bildet nach Waldenfels die Vorbedingung dafür, dass es Fremdes überhaupt gibt und zwar in dem Sinne, dass sich etwas dem Zugriff einer gegebenen Ordnung entzieht (vgl. Waldenfels 1997: 20). Damit bietet Waldenfels’ für die Untersuchung von Fremderfahrung in den Werktagebüchern der Studierenden zwar eine theoretische Rahmung, der Begriff der Ordnung bleibt jedoch aufgrund seines philosophisch-phänomenologischen Zugriffs recht abstrakt.
Das an die Methodologie der rekonstruktiven Sozialforschung anknüpfende Verfahren der dokumentarischen Methode bietet jedoch die Möglichkeit, Waldenfels’ Ordnungen über die Rekonstruktion impliziter Handlungs- und Wahrnehmungsschemata nachzugehen. In der dokumentarischen Methode nach Bohnsack wird von sogenannten Orientierungen gesprochen, die unser Denken, Handeln und Fühlen beeinflussen (vgl. Bohnsack 2011: 40). Seine Methode wurde ursprünglich für Gruppendiskussionen und Interviews entwickelt. Heute wird sie jedoch zunehmend auch für Dokumente anderen Ursprungs sowie Foto- und Videomaterial verwendet.
Der methodische Zugang zum handlungsleitenden Orientierungswissen der Untersuchten erfolgt über den Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie. Die zentrale Frage lautet: Wie lässt sich der modus operandi beschreiben, der dem Handeln, Sprechen und Argumentieren der untersuchten Personen zugrunde liegt? Ein komparatives und sequenzanalytisches Vorgehen nimmt dabei eine zentrale Stellung ein. Es folgt verschiedenen Arbeitsschritten. Zunächst wird bei der formulierenden Interpretation das transkribierte Datenmaterial mit Hilfe von Oberbegriffen und Überschriften zusammengefasst, um eine Übersicht über die Aufzeichnungen zu gewinnen. In der nachfolgenden reflektierenden Interpretation werden dann ˗ nach formalen und inhaltlichen Kriterien – Passagen ausgewählt, die dahingehend untersucht werden, wie über ein Thema kommuniziert wird: Welche Orientierungsfiguren spannen sich in den von den Rezipient_innen entworfenen positiven und negativen Gegenhorizonten auf? Der fallübergreifende und fallinterne Vergleich soll dabei das Charakteristische eines Kollektivs oder Individuums herausarbeiten.
Der dritte Schritt sieht die Fallbeschreibung vor, in der die Orientierungen des Untersuchten in ihrer diskursiven Entfaltung rekonstruiert und dargestellt werden. Im letzten Schritt kann dann eine Typenbildung vorgenommen werden.
In meiner Arbeit habe ich die Antworten bzw. Werktagebücher von drei Studierenden des Lernbereichs Theaterpädagogik und der Performance Studies der Universität Hamburg untersucht. Das ausgewählte Sample ist in Bezug auf die Rezeptionshaltung der Studierenden maximal kontrastiv. Trotz einer gewissen Repräsentativität kann ich mir aufgrund der geringen Fallauswahl allerdings nicht anmaßen von Typen zu sprechen. Da es sich bei den Werktagebüchern um eine individuelle und schriftliche Auseinandersetzung mit einer Aufführung im Rahmen eines theaterpädagogischen Settings handelt, musste neben der semantisch-inhaltlichen Ebene auch die sprachlich-formale Ebene Eingang in die Analyse finden. Dazu zählen die verwendeten Textsorten und -formen (wie Beschreibungen, Bewertungen, Fragen), die Wortwahl und der Satzbau (rhetorische Figuren, syntaktische Besonderheiten, Satzabbrüche, Absätze), andere Symbolisierungsformen (z.B. Zeichnungen, Collagen), ein möglicher Adressat des Werktagebuchs (ich als Lehrperson) sowie die zeitliche Dimension (Häufung und Abstände der Einträge).
Um die übergreifenden Forschungsfragen nach der Ausgestaltung der Rezeptionsprozesse zu beantworten, habe ich die Orientierungen der Studierenden unter dem Begriff der Haltung auf verschiedenen Ebenen gebündelt:
Haltung der Studierenden
- zum Theater
- zur Rezeption
- zum pädagogischen Setting
- zum Vorgehen im Werktagebuch
- darüber hinaus hat auch die Kategorie der Ambivalenzen eine Rolle gespielt
Um die Frage nach möglichen Fremderfahrungen der Studierenden zu beantworten, musste ich im Material nach Hinweisen dafür suchen, das sich etwas der eigenen Ordnung bzw. Orientierung entzieht und herausarbeiten, welche unterschiedlichen Umgangsformen die Rezipient_innen damit gefunden haben. Die verschiedenen rekonstruierten Rezeptionshaltungen der Studierenden sollen am Beispiel einer Szene der Aufführung erläutert werden, auf die sich alle drei Studierenden in ihren Werktagebüchern beziehen. Sie dient also als szenisches Tertium Comparationis. Neben den unterschiedlichen Rezeptionshaltungen zeigt sich an diesen Beispielen auch, welche unterschiedlichen Formen des Relativierens von Fremden die Studentinnen betreiben. Es handelt sich um einen Moment in der Aufführung, in der sich ein Akteur zwei Kuscheltiere an die Füße steckt, während sich ein anderer Spieler Schlittschuhe überstreift. Die beiden beginnen anschließend Walzer miteinander zu tanzen.
Monika bezieht sich auf der letzten Seite ihres chronologisch aufgebauten, am Computer getippten einzigen Erinnerungsprotokolls auf diese „Teddybärwalzerszene“.
Anhand dieser und weiterer Aufzeichnungen Monikas lässt sich folgendes rekonstruieren:
Im Hinblick auf ihre Haltung zum Theater
Theaterzeichen müssen in Monikas Vorstellung als Signifikanten ernst genommen werden; sie müssen etwas „[aus]sagen“ oder wie sie an anderer Stelle schreibt „symbolisch [für etwas] stehen“ (M, Z. 253). Der/die Künstler_in sendet im besten Fall etwas Mitteilungswürdiges und ist dafür verantwortlich, dass sich diese Botschaft dem/der Zuschauer_in vermittelt („Wenn jemand etwas zu sagen hat, dann sollte er es tun. Klar, deutlich, ohne Schnörkel“, M, Z. 255). Inszenierungen müssen ebenfalls nach einer begründeten und für sie nachzuvollziehenden Handlung und Dramaturgie aufgebaut sein. Erfüllt eine Aufführung dieses Kriterium nicht, wird sie von Monika abgewertet. Die Studentin hat folglich ein stark in Kategorien denkendes Theaterverständnis: Auf der einen Seite steht für sie verständliches, sinnvolles Theater, das von ihr als Teil eines Unterhaltungsprogramms geschätzt wird, und auf der anderen Seite stehen künstlerische Äußerungen, die in ihren Augen unverständlich und somit sinn- und belanglos sind. Aus diesem Grund werden sie von ihr abgelehnt und diffamiert („Kacke“, „Unsinniger sch*!“ M, Z. 115). GAP FEELING gehört für Monika eindeutig zur zweiten Kategorie. So unterstellt sie den Künstler_innen, beim Inszenieren der Bühnenhandlungen nicht inhaltlich begründet vorzugehen, sondern lediglich aus einer Laune heraus zu agieren. Die Verwendung der 1. Person Singular in Kombination mit der Aussprache der Gedanken desjenigen, der die Schlittschuhe in seinem Schrank findet: „man [sic!], die hatte ich lange nicht an!“ und das anschließende lautmalerische Wort „zack“ unterstreicht die von Monika unterstellte Spontaneität und Unüberlegtheit des Einsatzes der Schlittschuhe seitens der Künstler_innen.
Im Hinblick auf ihre Rezeptionshaltung
Monikas Haltung im Rezeptionsprozess ist vornehmlich als eine die inhaltliche Bedeutung rekonstruierende Haltung zu beschreiben. Wie eben schon angedeutet, geht sie von festen Bedeutungen bestimmter Zeichen aus und versucht sie als Rezipientin zu entschlüsseln („Ich habe mich gefragt, ob der gelbe Ball/Luftballon für Alkohol o. andere Drogen steht.“ M, Z. 58-59).
In Monikas Aufzeichnungen lassen sich immer wieder Indizien dafür finden, dass sie Requisiten wie auch Bühnenvorgänge und -figuren auf verschiedenen Ebenen nicht einordnen und interpretieren kann. Diese Erfahrung des Entzugs geht für Monika laut Aufzeichnungen in den meisten Fällen mit starker Irritation sowie emotionaler Aufgewühltheit und Ablehnung einher. In dem projizierten Beispiel ruft der Sinnentzug bei der Studierenden zwei Reaktionen – Amüsement und Verärgerung – gleichzeitig hervor, die vordergründig nicht zu vereinbaren sind. Letztlich deutet sie jedoch auf eine Abwertung des Gesehenen hin: („Der Mann stützte sich auf einen Stuhl und hob ein Bein. Nun sah es so aus, als würde der Bär tanzen oder so etwas. Das erste Mal, dass ich ein wenig lachen musste. Allerdings frage ich mich auch diesmal, was der Künstler mir mit dieser Kacke sagen will.“ M, Z. 220-
Die sich an diesen Beispielen abzeichnende Ablehnung gehört für mich in meiner Arbeit zur Kategorie der distanzierenden Formen des Relativierens von Fremden. Das Wahrgenommene wird in den eigenen Orientierungsrahmen eingeordnet, wobei sich der Eindruck vermittelt, die Studentin erzeuge einen großen Abstand zwischen sich und dem Beobachtungsgegenstand.
Auch Julika bezieht sich im ersten Erinnerungsprotokoll zur ersten Aufführung auf die „Teddybärwalzerszene“. Sie hat insgesamt vier äußerst ausführliche, handschriftliche Erinnerungsprotokolle zu beiden Aufführungen angefertigt.
Julikas Haltung zum Theater beinhaltet, dass sie Theater als eine Plattform für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Inhalten und Themen versteht. Die Studierende deutet die Teddybärwalzerszene im Hinblick auf den von ihr gesetzten inhaltlichen Rezeptionsfokus der Migration; dem Weggehen von Menschen aus der eigenen Heimat und dem Ankommen in einem fremden Land, wo es sich unter erschwerten Bedingungen zurechtzufinden gilt. Im Gegensatz zu Monika, bei der sich immer wieder zeigt, dass sie über weite Strecken hinweg versucht, den angeblich vom/von der Künstler_in in die Aufführung gelegten Sinn zu rekonstruieren, deutet bei Julika vieles darauf hin, dass sie eine Haltung einnimmt, in der sie Deutungsmöglichkeiten eher frei konstruiert, im Sinne von produziert. Ihre Ideen formuliert sie in Form von Fragen. Dadurch haben ihre Interpretationen etwas von Vermutungen und bleiben ‚durchlässig‘ für Ergänzungen oder Widersprüche. So spricht die Studierende beispielsweise Mutmaßungen aus, warum die Personen im Stück ihre Heimat verlassen haben könnten („einer Armut unterliegen?“ und „Hoffnung auf ein neues erfülltes Leben?“, J, Z. 141-142).
Weiter zeigt sich, dass Julika sich über die Analyse des Umgangs der beiden Schauspieler mit den Requisiten, der inhaltlichen Deutung des Stückes nähert. Zu Beginn benennt sie das ästhetische Vorgehen der Akteure mit einem fachspezifischen Theatervokabular: „Umfunktionieren von Gegenständen“ (J, Z. 144) und beschreibt dann, was zwei der Schauspieler machen: „der eine zieht sich Teddybären als Schuhe über die Füße, ein Anderer zieht sich Schlittschuhe an“ (J, Z. 144-145). Sie bewertet ihr Handeln anschließend als „völlig deplatziert und aus dem Kontext gerissen“ (J, Z. 146) und versucht es am Ende zu interpretieren. Das Umfunktionieren von Gegenständen weist nach Julika auf eine relative Armut der gezeigten Personen hin, da die Männer sich mit dem behelfen müssen, was sie haben. Julikas Szenenanalyse knüpft damit an einen Eindruck an, den sie bereits ganz am Anfang des ersten Erinnerungsprotokolls formulierte: „Alles nutzen, nehmen, was man kriegen kann“.
Julikas Vorgehen, das auf der Bühne Wahrgenommene und Erfahrene mit Hilfe eines assoziierenden Vorgehens im eigenen Orientierungsrahmen aufgehen zu lassen, zähle ich zu den annähernden Formen des Relativierens von Fremden.
Zusammenfassend kann man sagen, dass im Falle Julikas Bühnenvorgängen unter einem bestimmten individuellen Fokus Bedeutung zugeschrieben wird und auftauchende Fraglichkeiten oder Irritationen als etwas potenziell noch zu Erschließendes behandelt werden, für dessen Beantwortung oder Einfriedung nur etwas Zeit und ein genaueres Hinschauen nötig sind. Fremdes hat im Rahmen dieser Umgangsform offenbar keine Existenzberechtigung, da es so lange bearbeitet wird, bis es in die eigene Orientierung integriert werden kann. In Julikas Antwort manifestiert sich dies wie folgt: Julika erschreibt sich ihren inhaltlichen Bedeutungsrahmen zunächst assoziierend. Sie tastet sich langsam vor und formuliert ihre Deutungsansätze in Form von Fragen, die so einerseits eine gewisse Bedeutungsoffenheit bewahren und anderseits als eine Art Sprungbrett für weitere Assoziationsketten fungieren. Die Studierende wiederholt sich immerzu und fügt dabei Ergänzungen ein, die ihr Netz an Deutungen immer feinmaschiger werden lassen. Jede Bühnenhandlung und jedes Requisit scheint in dem von ihr hergeleiteten Rahmen mit Bedeutung aufgeladen zu werden. Es ist möglich, dass diese Bedeutungszuschreibungen von dem einen oder anderen Leser mitunter als ‚sehr weit hergeholt‘ empfunden werden.
Im Fall von Annika lässt sich ihre Wahrnehmung der Szene lediglich anhand der Aufzählung eines Requisits rekonstruieren. In ihrem zweiten Erinnerungsprotokoll notiert sie im Kontext weiterer Aufzählungen von Gegenständen und Handlungen stichpunktartig „Teddybären“ (A, Z. 44), ohne weiter auf sie einzugehen. Dass sie die „Teddybären“ oder den Umgang mit ihnen nicht näher beschreibt oder nach deren inhaltlicher Bedeutung fragt, unterscheidet sie von ihren Kommilitoninnen.
Annikas Vorgehen möchte ich mit den Worten ‚Aufzählen statt Erzählen‘ zusammenfassen: Gegenstände und Handlungen der Aufführung werden nominal aufgeführt, ohne dass daran eine Erzählung im Sinne eigener Assoziationen und Interpretationen angeknüpft wird. Im Unterschied zum interpretierenden Bedeuten bezeichne ich es als identifizierendes Bedeuten. Bei einem auf bloßes Erkennen und Benennen ausgelegten Bedeuten entzieht sich der/die Rezipient_in einer weitergehenden Deutung, wodurch eine erlebte Verunsicherung oder Irritation möglicherweise verdeckt bleibt. Oder ihr Vorgehen, welches die Anwesenheit der Dinge stärker erfasst als ihre Repräsentation, resultiert aus einer eingehenden Beschäftigung mit dem zeitgenössischen Theater und dessen theoretischer Reflektion. Es stellt damit eine Art professionelle Haltung gegenüber aktuellem Theater und dem ihm innewohnenden „Bedeutungsschwund“ (Tigges 2008:11) dar.
Wie auch schon Monikas Vorgehen, zähle ich das Aufzählen statt Erzählen zu den distanzierenden Formen des Relativierens von Fremdem.
Die eben genannten Beispiele haben gezeigt, welche unterschiedlichen Theater- und Rezeptionshaltungen, oder noch etwas allgemeiner gefasst Zuschaustile, sich mithilfe der dokumentarischen Methode in den Aufzeichnungen der Studierenden rekonstruieren lassen. Und wie Rezipient_innen Fremdes innerhalb ihrer eigenen Ordnung relativieren. Ich habe zwischen eher annähernden Formen, wie dem Assoziieren oder dem hier nicht weiter erläuterten In-Beziehung-Setzen von Aufführung und eigener Lebenswelt, und eher distanzierenden Formen des Relativierens von Fremdem unterschieden. Zu ihnen gehören z.B. die Ablehnung und das Aufzählen statt Erzählen.
Inwiefern die dokumentarische Methode mit ihrer rekonstruktiven Methodik auch bei der Rekonstruktion von potenziellen Bildungsprozessen, sogenannten Bildungsvorhalten nach Kokemohr, in den Aufzeichnungen der Studierenden behilflich sein kann und welche Rolle das pädagogische Setting des Antwortens auf Aufführungen dabei spielt, kann hier leider nicht ausgeführt werden. Die daran interessierten Zuhörer_innen verweise ich auf mein Buch „Antworten auf Aufführungen. Ein erfahrungsorientiertes Rezeptionsverfahren für die Theaterpädagogik“.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit!
Verwendete Literatur:
- Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden (= Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 1), Frankfurt am Main 1997.
- Bohnsack, Ralf: „Die dokumentarische Methode“, in: Ders./Marotzki, Winfried/Meuser, Michael (Hg.) Hauptbegriffe qualitativer Sozialforschung, Opladen 2011, 3. durchgesehene Auflage, S. 40-45.
Franz Anton Cramer: Zwei Modelle des Archivischen im Tanz
Tanz ist zwar immateriell, aber konkret. Das Archiv bietet materielle Spuren, aber keinen konkreten Tanz. Die Bewegung bildet die Schlüsselstelle.
In unserer Forschung untersuchen wir diese Frage aus der Perspektive des Archivs.11DFG-Projekt „Verzeichnungen. Medien und konstitutive Ordnungen von Archivprozessen der Aufführungskünste“, 2012 bis 2017, HZT Berlin und HMT Leipzig; siehe auch Büscher , Barbara/Cramer, Franz Anton (Hg.): Fluid Access: Archiving Performance-Based Arts. Hildesheim 2017. Wir gehen von der Hypothese aus, dass Performance und deren materielle Spuren mindestens eine Eigenschaft teilen: Sie sind Artefakte. Als „Gemachtes“ teilen sie einen Wesenszug, der sie darstellbar werden lässt, nämlich die Intention. Das Absichtsvolle verleiht beiden den Status einer Selbstbekundung, eingebettet und eingeflochten in ein zeitliches Regime, in dem die Vergangenheit sich als Gegenwart manifestiert, um wiederum Vergangenes zu werden.22Hierzu ist jüngst eine Fülle von Publikationen erschienen; siehe etwa Schmieder, Falko/ Weidner, Daniel (Hg.): Ränder des Archivs. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf das Entstehen und Vergehen von Archiven, Berlin 2016; sowie Bexte, Peter/Bührer, Valeska/Lauke, Stephanie Sarah (Hg.): An den Grenzen der Archive. Archivarische Praktiken in Wissenschaft und Kunst, Berlin 2016.
Dieses Regime, betrachtet vom Wissensgehalt und Aussagepotential des Dokuments, lässt sich – freilich bislang noch provisorisch – in ein Modell übertragen, dass ich den „archivischen Zirkel“ nenne.
Im Mittelpunkt stehen die dynamischen Faktoren von Funktion und Produktion: Archivinhalte werden produziert, um einer mehr oder weniger bestimmten Funktion willen, darunter Dokumentation, Bewahrung und Quellensicherheit. Die Wirkungen beziehen sich ihrerseits auf institutionelle und heuristische Aspekte: Wer arbeitet am Archiv und wer im Archiv? Wer bildet den Bestand, wer nutzt ihn? Trägerschaft und Nutzung müssen dabei nicht notwendig different sein. (Der_die Archivbildner_in nutzt den Bestand auch selbst.) Das Archiv als Ganzes wird befragt, woraus wiederum Dokumente entstehen, die entweder in den Bestand aufgenommen werden oder nicht. In jedem Fall stellen sie eine Veränderung dar gegenüber dem Erst-Zustand. Diese zirkuläre Bewegung ist eingebettet in allgemeine, bestands- und institutionenübergreifende „Macht-Wissen-Gefüge“33Bluma, Lars: „Die Objektivierung des bergmännischen Körpers. Praktiken der Sichtbarmachung im Kontext von Versicherungsrationalität und berufsspezifischen Krankheiten“, in: Nikolow, Sybilla (Hg.): Erkenne dich selbst! Strategien der Sichtbarmachung des Körpers im 20. Jahrhundert, Köln 2015 (= Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden Band 11), S. 269–285, hier S. 270., die unter dem Stichwort „Diskurs“ gleichsam als intellektuelles Habitat alles Archivische umgeben.
Alternativ – und als Funktion der je untersuchten Fragen – lässt sich auch das Modell eines „Archivkompass“ konstruieren:
Das Werkganze, hier als Mittelpunkt dargestellt, existiert nur in der Kombination verschiedener Ebenen, die sich zwar alle auf das Bewegungsereignis beziehen, es aber jeweils anders und spezifisch „auswerten“ bzw. darstellen.
Gegenüber dem eher strukturellen Zusammenhang des archivischen Zirkels befasst sich der Archivkompass mit den Bedeutungsrichtungen dokumentarischer Artefakte in Bezug auf den „Quellcode“, also das Ausgangsartefakt. Ich habe diese topographische Sichtweise an anderer Stelle als „Kinesphäre des Dokuments“44Cramer, Franz Anton: „Kinesphären des Dokuments. Überlegungen zum ›Digitalen Atlas Tanz‹“. In: Mobile Notate. Tanz & Archiv ForschungsReisen Nr. 5, 2014, S. 40-43. bezeichnet.
Das Artefakt bzw. die Aufführung entsteht aufgrund bestimmter auktorialer Absichten, es involviert Akteur_in und Adressat_innen, und es generiert eine je spezifische Form bzw. Erscheinung. Je nach Fragestellung, Betrachtungsweise, Erkenntnisinteresse und historischem Abstand können signifikante Bestandteile in den Blick genommen werden, darunter etwa die Medien, die Bewegung, die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse u.v.a.m. Die beiden Nadeln sind beweglich zu denken, so dass der Verständniszusammenhang von Form und Adressat_in untersucht wird, oder auch die Intention und die Adressat_innen u.v.a.m. Die Zwischenschritte zeigen funktionale und aisthetische Elemente an.
Die Schwierigkeit dieses Modells liegt in der Komplexität der Zusammenhänge; der Vorteil ergibt sich aus dem unmittelbar archivpraktischen Ansatz, welcher das Zusammengesetzte, das Konstruierte des jeweiligen Artefaktes und seiner Materialisierung in Spuren und Dokumenten darstellbar und analysierbar macht.55Sebillotte, Laurent: „Archivbildung im Tanz aus der Sicht des Archivars“, in: MAP #6: Aufzeichnen. Verzeichnen, Oktober 2015. http://www.perfomap.de/map6/sammeln-und-verzeichnen/archivbildung-im-tanz-aus-der-sicht-des-archivars (letzter Zugriff am 21. März 2017).
Es geht letztlich um das Verhältnis des Tanz-Dings, des Performance-Artefaktes zu seinen Übertragungen in die archivische Seinsform, um den dokumentarischen Zirkelschluss. Tanz ist immateriell, aber konkret. Das Archiv bietet materielle Spuren, aber keinen konkreten Tanz. Die Bewegung bildet die Schlüsselstelle.
März 2017
- 1DFG-Projekt „Verzeichnungen. Medien und konstitutive Ordnungen von Archivprozessen der Aufführungskünste“, 2012 bis 2017, HZT Berlin und HMT Leipzig; siehe auch Büscher , Barbara/Cramer, Franz Anton (Hg.): Fluid Access: Archiving Performance-Based Arts. Hildesheim 2017.
- 2Hierzu ist jüngst eine Fülle von Publikationen erschienen; siehe etwa Schmieder, Falko/ Weidner, Daniel (Hg.): Ränder des Archivs. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf das Entstehen und Vergehen von Archiven, Berlin 2016; sowie Bexte, Peter/Bührer, Valeska/Lauke, Stephanie Sarah (Hg.): An den Grenzen der Archive. Archivarische Praktiken in Wissenschaft und Kunst, Berlin 2016.
- 3Bluma, Lars: „Die Objektivierung des bergmännischen Körpers. Praktiken der Sichtbarmachung im Kontext von Versicherungsrationalität und berufsspezifischen Krankheiten“, in: Nikolow, Sybilla (Hg.): Erkenne dich selbst! Strategien der Sichtbarmachung des Körpers im 20. Jahrhundert, Köln 2015 (= Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden Band 11), S. 269–285, hier S. 270.
- 4Cramer, Franz Anton: „Kinesphären des Dokuments. Überlegungen zum ›Digitalen Atlas Tanz‹“. In: Mobile Notate. Tanz & Archiv ForschungsReisen Nr. 5, 2014, S. 40-43.
- 5Sebillotte, Laurent: „Archivbildung im Tanz aus der Sicht des Archivars“, in: MAP #6: Aufzeichnen. Verzeichnen, Oktober 2015. http://www.perfomap.de/map6/sammeln-und-verzeichnen/archivbildung-im-tanz-aus-der-sicht-des-archivars (letzter Zugriff am 21. März 2017).