Weiterdenken: FAKTEN SCHAFFEN! Sieben Thesen zum Dokumentieren in den Künsten und Wissenschaften

Ausgabe #7
November 2017
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Während der Konzeption der Veranstaltungsreihe wie auch der Onlinepublikation FAKTEN SCHAFFEN. entstanden Arbeitsfragen und -thesen, die das Verhältnis von Dokumentieren und Dokumenten in den Künsten und den Wissenschaften näher zu bestimmen versuchten. Als Abschluss und Ausblick stellen die Organisator_innen der Veranstaltungsreihe hier sieben Thesen zur Disposition.

1. These: Das Dokumentieren ist sowohl eine wissenschaftliche als auch eine künstlerische Praxis.

Dokumentierende Praktiken stellen eine bestimmte Art der Wissenserschließung dar, die für das 20. und 21. Jahrhundert spezifisch ist. Die meisten der heute geläufigen Techniken und Verfahren des Dokumentierens etablierten sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Mit der Erfindung der Fotografie, des Films oder der Tonaufnahme ging auch eine Standardisierung von schriftlichen und visuellen Aufzeichnungen in den Wissenschaften einher. Sie prägten eine Wissenschaftskultur, in der empirische Beweise zum zentralen Bestandteil methodologischer Selbstbeschreibungen der akademischen Disziplinen wurden und verdanken sich dieser zugleich.
 In den 1930erJahren wurden diese dokumentarischen Techniken und Verfahren – die nicht nur die Praktiken des Dokumentierens, sondern auch die von Dokumenten umfassen – als spezifische Art des Darstellens in den Künsten aufgegriffen und während des 20. Jahrhunderts auf vielfältige Weise in den Kanon künstlerischer Darstellungsverfahren aufgenommen. 11Für unterschiedliche Darstellungen dieses Prozesses siehe bspw.: Abigail Solomon-Godeau: „Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie“, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a. M. 2003, S. 53–74, S. 54f; Molly Nesbit: „Der Fotograf und die Geschichte. Eugène Atget“, in: Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 399–409, S. 401; Renate Wöhrer: „Die Kunst des Dokumentierens. Zur Genealogie der Kategorie ‚dokumentarisch‘“, in: Daniela Hahn (Hg.): Beyond Evidence. Das Dokument in den Künsten, Paderborn 2016, S. 45-57).


 

2. These: Dokumentieren stellt eine Schnittstelle von Künsten und Wissenschaften dar.

Sowohl in den Wissenschaften als auch in den Künsten werden also vergleichbare mediale und technische Verfahren zur Dokumentation von Sachverhalten verwendet. In beiden Bereichen wird das Spezifikum dokumentarischer Darstellungen, Wissen gleichzeitig zu erzeugen und zu vermitteln, gezielt eingesetzt. Dokumentierende Praktiken bilden somit eine Schnittstelle zwischen den Künsten und den Wissenschaften und unterlaufen klare Grenzziehungen zwischen diesen beiden Gebieten.

 

Abb. 1
Jenny Baese: Veranstaltungsflyer FAKTEN SCHAFFEN, 2016.
Digitales Bilddokument.

3. These: Dokumentierende Praktiken konstituieren Wirklichkeiten.

Obwohl den Wissenschaften andere Mechanismen und eine stärkere Glaubwürdigkeit in der Wahrheitsproduktion und Wirklichkeitsrepräsentation zugeschrieben werden als den Künsten, nehmen dokumentierende Praktiken in beiden Feldern gleichermaßen die Autorität von Dokumenten für ihre Darstellungen in Anspruch. Dokumente repräsentieren aber nicht nur einen Sachverhalt, sondern stellen ihn durch ihre beglaubigende Kraft gleichzeitig her. So schaffen sowohl Künstler_innen als auch Wissenschaftler_innen im Dokumentieren und im Umgang mit Dokumenten durch deren gezielten Verweis auf eine in ihnen dargestellte Wirklichkeit Wirklichkeiten. 22Mehrere Forscher_innen haben darauf hingewiesen, dass dokumentierende Praktiken Realitäten erst konstruieren, indem sie vorgeben, sie bloß darzustellen, bspw. Hito Steyerl: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien 2008, S.70-71; Susanne Regener: Fotografische Erfassung: Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999; Allan Sekula: „Der Körper und das Archiv“, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a. M. 2003, S. 269-334.
 Diese spezifische Art des Dokumentierens, Wirklichkeiten und Fakten zu schaffen, wirkt auf die Wissenserzeugung in beiden Feldern zurück.


 

4. These: Dokumente stellen Wahrheit und Wirklichkeit her, aber auch Fiktionen von Wahrheit und Wirklichkeit.

Bei Dokumenten und den Praktiken des Dokumentierens tritt der Aspekt ihres Gemachtseins deutlich hervor. Dokumentierende Darstellungen übertragen Phänomene in andere Medien und Materialien. Dabei wird auf gewisse Aspekte fokussiert, während andere ausgeblendet werden oder fehlen. Sie sind daher immer von Legitimierungen ihrer Wirklichkeitsbezüge und Wahrheitsgehalte abhängig. Diese Legitimierungen können zum einen durch immanente Authentizitätsstrategien hervorgebracht werden, die an technische und mediale Dispositive gebunden sind, zum anderen aber auch durch Institutionen und Räume, in denen die Dokumente kursieren, geordnet oder abgelegt werden, wie beispielsweise dem Archiv.

 

5. These: Für die Autorität der Dokumente und ihrer Hervorbringung als Dokumente spielen Räume und Institutionen eine zentrale Rolle.

Räume und Institutionen, in denen Dokumente verortet werden, können – wie im Fall des Archivs – eine Legitimation bzw. Autorität von Dokumenten herstellen. In künstlerischen und wissenschaftlichen Archiven und anderen Räumen und Institutionen werden Dokumente gesammelt, geordnet und in einen Zusammenhang gestellt, der durch die Institution und deren Akteur_innen geschaffen und als Wissen zur Verfügung gestellt wird. Durch diese spezifische Kontextualisierung der Dokumente im Archiv werden Fragen nach der Beschaffenheit von Dokumenten – deren Materialität – und nach der Dokumentierbarkeit von Wissensbereichen gestellt, da durch die Eigenlogik und -dynamik von Archiven Lücken sichtbar werden können. Oft werden diese Lücken durch externes Wissen beispielsweise von Archivar_innen gefüllt, die im Umgang mit den Dokumenten Fragen entwickeln und Verweise innerhalb von Dokumenten herstellen.

 

6. These: Dokumentierende Praktiken sind eng mit medialen und technischen Bedingungen verwoben.

Im Dokumentieren werden Sachverhalte festgehalten, belegt und vermittelt. Zugleich wird dabei Wissen hervorgebracht. Diese Funktionsweise von Dokumenten ist eng mit deren Herstellungsverfahren verbunden. Oft kommt es bei den dokumentierenden Darstellungen von Phänomenen zu Transformationsprozessen: Sie werden in ein anderes Medium übertragen, die Materialität der Aufzeichnung ändert sich im Vergleich zum Ausgangsphänomen usw. Dabei sind Formen, Materialitäten und Verfügbarkeit von Dokumenten wesentlich durch technische und mediale Gegebenheiten der dokumentarischen Praktiken, die beide Bereiche verwenden, bedingt. So sind dokumentierende Darstellungsverfahren eng mit technischen und medialen Entwicklungen verflochten.

 

7. These: Eine Beschäftigung mit Dokumenten und mit Praktiken des Dokumentierens bedeutet eine Reflexion der Wissensgenerierung und -vermittlung in Künsten und Wissenschaften.

Durch die Untersuchung des Dokumentierens und des Umgangs mit Dokumenten als Praxis, in der Akteur_innen bestimmte mediale und materialisierende Verfahren auswählen und anwenden, wird die Herstellung von Fakten und Wirklichkeiten in den Künsten und Wissenschaften reflektiert. Dabei kann der Transformationsvorgang vom Phänomen zum Dokument, beispielsweise bei Protokollen, als Erkenntniserzeugungsvorgang erlebt werden, bei dem die spezifische Beschaffenheit von Phänomen und Dokument als Spannungsverhältnis wahrgenommen wird. Denn es ist nie möglich, alle Aspekte eines Phänomens gänzlich deckungsgleich in ein Dokument zu übertragen. So können Erkenntnisinteressen genauso wie tradierte Mechanismen der Wissenserzeugung zu Tage treten. Zudem geraten die Räume, Akteur_innen und Institutionen, die Strukturen von Archiven, die künstlerische und wissenschaftliche Arbeit mit Dokumenten in den Fokus, die die Dokumente ihrerseits bedingen und beeinflussen.

    Fußnoten

  • 1Für unterschiedliche Darstellungen dieses Prozesses siehe bspw.: Abigail Solomon-Godeau: „Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie“, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a. M. 2003, S. 53–74, S. 54f; Molly Nesbit: „Der Fotograf und die Geschichte. Eugène Atget“, in: Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln 1998, S. 399–409, S. 401; Renate Wöhrer: „Die Kunst des Dokumentierens. Zur Genealogie der Kategorie ‚dokumentarisch‘“, in: Daniela Hahn (Hg.): Beyond Evidence. Das Dokument in den Künsten, Paderborn 2016, S. 45-57).

  • 2Mehrere Forscher_innen haben darauf hingewiesen, dass dokumentierende Praktiken Realitäten erst konstruieren, indem sie vorgeben, sie bloß darzustellen, bspw. Hito Steyerl: Die Farbe der Wahrheit. Dokumentarismen im Kunstfeld, Wien 2008, S.70-71; Susanne Regener: Fotografische Erfassung: Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999; Allan Sekula: „Der Körper und das Archiv“, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a. M. 2003, S. 269-334.
 Diese spezifische Art des Dokumentierens, Wirklichkeiten und Fakten zu schaffen, wirkt auf die Wissenserzeugung in beiden Feldern zurück.

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