Vortragender: Matthias Noell
Einführung und Moderation: Susanne Hauser
Datum: 5. Dezember 2016
Dauer: 18-20 Uhr
Art der Veranstaltung: akademischer Vortrag
Ort: Universität der Künste, Berlin, Hardenbergstraße 33, Raum 310, Berlin
Matthias Noell: Vielen Dank an das Graduiertenkolleg, in diesem Rahmen sprechen zu können. Ich werde – Gibt es eine Rückkopplung oder geht das? Lauter? Diese Arbeit, die ich heute vorstellen werde, soll in einem Buch münden und auch demnächst einmal fertiggestellt werden. Leider ist sie schon ein bisschen länger in Arbeit und insofern etwas überfällig. Das Thema schließt an ganz viele Punkte an, die ich im Laufe der letzten Jahre von verschiedenen Seiten erforscht habe und auch teilweise bereits publiziert habe. Eine davon wurde gerade angesprochen. Das rührt an einen Teil meiner beruflichen Herkunft aus der Arbeit in einem Denkmalamt.
Worum soll es heute gehen? Das Denkmalinventar kennen wir alle als ein im Regelfall vielbändiges Werk, das Baudenkmale und Kunstdenkmale verzeichnet, beschreibt, katalogisiert und in diesen Büchern – es handelt sich immer um Buchreihen und Bücher – Denkmale, und deren Denkmalwert beschreibt. Ich werde diese Idee, und eine Idee ist es in erster Linie, in der nächsten Stunde zu beschreiben versuchen, und habe diese dazu, ich kann nicht überall in die Tiefe gehen, in ein paar Punkte untergliedert. Ein paar Kernpunkte werde ich herausziehen, jene, die sich mit diesem Thema „Fakten schaffen“ vielleicht am ehesten decken, und die in diese Vorlesungsreihe hineinpassen.
Das Denkmalinventar, wenn wir es als eine wissenschaftliche Publikationsform betrachten, eine Sammlung von Objekten im Buch mit Anspruch auf Vollständigkeit – und eben nicht mit einem willkürlichen Auswahlcharakter wie die anderen zahlreichen Formen des illustrierten Architekturbuchs. Es ist eine direkte Folge der Französischen Revolution und der Auswirkungen auf die Monumente, auf die Denkmale, auf die Kunstgegenstände. Das ist nicht ganz zufällig auch die Zeit, in der die Museen entstehen, unser heutiger Museumsbegriff entsteht. Sie sehen hier ein Porträt Dominique-Vivant Denons von Benjamin Zix. Denon, Gründungsdirektor des Louvre, sitzt in den Katakomben seiner Sammlung, einer regelrecht boulléeschen Szenerie. Was macht er da, in dieser letzten Endes natürlich fiktiven Architektur, in diesen unterirdischen Räumen, die von oben mit einem starken Schlaglicht beleuchtet werden? Er beschreibt die Kunstschätze, die in Frankreich zusammengesammelt worden sind; man sieht ihn mit der Feder an seinem Arbeitstisch sitzen. Er beschreibt sie, benutzt Bücher, benutzt wissenschaftliche Hilfswerke dazu, die er größtenteils als Ägyptologe selbst geschrieben hat – er war übrigens auch ein recht begabter Zeichner und im Tross des Ägyptenfeldzugs von Napoleon dabei. Er katalogisiert also die Kunstschätze des Louvre. Das ist im Grundsatz das Thema. Vergleichen Sie diese Darstellung mit dem nahezu zeitgleichen Frontispiz aus dem Traité d’anatomie et de physiologie von Félix Vicq d’Azyr, dem Begründer der vergleichenden Hirnforschung, ein Mediziner, der als wissenschaftlicher Autor sehr stark in den Vordergrund getreten ist.
Wir sehen hier die Allegorie der Medizin, in der Mitte dieser Szenerie, bei der Sektion eines Leichnams, begleitet von der Étude und der Malerei. Die Malerei unten rechts zeichnet genau auf, was zu sehen ist, was zum Vorschein, zu Tage tritt bei dieser Operation am Leichnam. Das Ganze wird von den aufmerksamen Schülern hinten aus der Fakultät begleitet; und obendrüber sehen Sie Apollo, der die Szenerie beschützt und beschirmt mit einer Medaille Ludwigs XVI. Und Sie sehen etwas, was auch durchaus in diesen Bereich des Denkmalinventars passt: auf der linken Seite oben Kronos, der ein Stundenglas in der Hand hält und auf die Endlichkeit des menschlichen Lebens hinweist – eine Formel könnte man sagen, ein Vergleich, eine Analogie, die man sehr häufig auch in der Denkmalpflegetheorie findet, zum Beispiel bei Alois Riegl. Die Vergänglichkeit der Monumente und die an ihnen vorübergegangene, lesbare Zeit verweist auf die Endlichkeit des menschlichen Lebens. Sehen wir in die ersten Traktate, in die ersten Papiere, die entstanden sind und die in der Frühphase der Denkmalpflege beziehungsweise auch dieser Erstellung von Denkmalinventaren geschrieben wurden – und es ist natürlich kein Zufall, dass ich Ihnen gerade Félix Vicq d’Azyr gezeigt habe. Er ist der maßgebliche Autor, der mit der Ausarbeitung einer Instruction sur la manière d’inventorier beauftragt wurde. Was machte er 1793 zusammen mit der Commission temporaire des arts? Er verfasste ein Papier, das die Dokumentation, die Klassifizierung, die Aufarbeitung, die Katalogisierung der enteigneten Kunstwerke, Kunstschätze, während der Französischen Revolution in Angriff nehmen sollte. Worum ging es? Er schreibt das ganz deutlich, ich habe hier ein französisches Zitat aus diesem Text mitgebracht: „dans tous les lieux où des monumens retracent ce que furent les hommes et les peuples; par-tout, enfin, où les leçons du passé“; es solle alles katalogisiert werden, was an den Orten erhalten geblieben ist, und schließlich schreibt er weiter, „peuvent être recueillies par notre siècle, qui saura de transmettre, avec des pages nouvelles, au souvenir de la postérité“. Das ist das Eingangszitat, was ich dem heutigen Vortrag vorangestellt habe. Es geht darum, die aus der Vergangenheit geerbten Artefakte und Gegenstände aus Wissenschaft, Literatur, Kunst, also alles was dem Menschen der Gegenwart überliefert wurde, der zukünftigen Erinnerung der Nachwelt zu hinterlassen, zu vererben. Die Instruction zeigt kleinteilig auf, wie Katalogisierung von Gegenständen von Artefakten aber letzten Endes eben darüber hinaus gehend, das sieht man hier ganz schön oben in der ersten Abteilung, auch um Naturalia, funktioniert. Sämtliche Gegenstände, die gesammelt worden sind, sollen erfasst und in ein System gebracht werden. Oben steht Histoire Naturelle, also die Naturgeschichte, und dann kommt Physik, Chemie, Anatomie, usw. und irgendwann finden Sie dann auch mal Antiquités und Architecture dazwischen und Dépôts littéraires, also Gegenstände die vielleicht eher in unseren Zuständigkeitsbereich fallen. Interessant ist, dass ein System entwickelt wurde, wie diese Gegenstände schließlich auch mit Etiketten zu versehen waren, was auf diesen Etiketten stehen sollte. Zunächst einmal ging es darum, den Herkunftsort, also das Département mit seiner Nummer, das war in der damaligen Zeit frisch eingeführt worden, zu versehen. So wird der kleinteiligere Lokalzusammenhang definiert, die Kategorie, also hier ‚H‘ Antiquités, das ist hier oben genannt, und es geht am Schluss darum auch zu sagen, aus welchem Sammlungskontext die Gegenstände kommen. Diese Beschreibungen haben sich teilweise in den Archiven erhalten, hier sehen Sie ein Blatt aus dem Dépot de Robien Emigré, also ein Adliger aus Rennes, der vor der Revolution und den Auswirkungen der Revolution nach England flüchten musste und dessen komplette Sammlung enteignet wurde und nun dem Besitz des französischen Volks einverleibt wird beziehungsweise seinen neugegründeten Sammlungen oder anderen Orten und Institutionen eingegliedert wurde, um sie weiterzuverwenden. Es ist interessant, dass Vicq d’Azyr diesen Schritt der Aufzeichnung nur als einen ersten Schritt sah und eine „opération secondaire“ hinterherschicken wollte, also eine zweite Stufe. Die erste Sammlung sollte durch eine Klassifikation unterteilt und neu aufgeteilt werden und schließlich dazu führen, die Gegenstände an die entscheidenden Orte weiter zu transportieren, also in die Kunstdepots, in die naturwissenschaftlichen Sammlungen usw. Der Sammlungskontext wurde in der Folge also zerrissen, die Dinge auf einzelne fachspezifische Institutionen verteilt.
Man muss, wenn man diese Zeit der Entstehung der Idee eines Denkmalinventars, die ja logischerweise auch mit der Entstehung unseres Denkmalbegriffs, wie wir ihn auch heute größtenteils noch verwenden, zusammenfällt; wenn man das ein bisschen näher untersucht, muss man relativ viele ähnlich gelagerte Untersuchungen und Dokumentationskampagnen mit einbeziehen, weil erst aus all diesen Strängen sich eine neue wissenschaftliche Herangehensweise herleiten lässt. Eine der sicherlich bekanntesten und auch wichtigsten und größten Kampagnen dieser Art der Katalogisierung einer Landesaufnahme ist der wissenschaftliche und künstlerische Tross hinter dem Ägyptenfeldzug von Napoleon gewesen. Napoleon nahm hunderte von Zivilisten, darunter Wissenschaftler, Zeichner, Künstler im Gefolge seines militärischen Heeres mit nach Ägypten, um dort das gesamte Land, soweit das irgendwie ging, zu zeichnen, zu beschreiben, zu vermessen. Die Kartographie spielte selbst eine große Rolle, die Geographie des Landes sollte erforscht werden, seine Natur und auch seine Hinterlassenschaften aus Kunst und Geschichte. Aber – und das ist eben wiederum ein ganz spezifischer Punkt hier gerade in der Description de l’Égypte – es geht durchaus auch um die Beschreibung nicht nur der Architektur und der Antiken, sondern es geht auch um eine moderne Landesbeschreibung, also um eine Form der Landesstatistik. Die Description de l’Égypte war ein vielbändiges Unternehmen, das in den 1820er Jahren fertig geworden ist und das in drei grundlegende Bereiche unterteilt war: in die Antiquités, also alles das, was wir als Altertümer bezeichnen können, in den État moderne, also den modernen Staat Ägypten und in die Histoire Naturelle, alles das, was in den naturwissenschaftlichen Zweig fällt. Sie sehen hier einige von diesen Großfolio-Blättern, um diese Bandbreite wenigstens kurz darzustellen.
Zeitgleich zu diesen jetzt beschriebenen Bestrebungen gab es seit 1790, direkt im Gefolge der Französischen Revolution, erste Überlegungen, wie man die Antiquités nationales erforschen könnte, und zwar immer unter der Maßgabe, dass mit dieser Erforschung, also mit der Dokumentation der Gegenstände, ein Erhalt erst möglich sei. Erst wenn man diese Gegenstände kennt, wenn man sie beschrieben hat, wenn man sie auf eine wissenschaftliche Art und Weise klassifiziert hat – ich komme darauf später noch einmal kurz zurück – dann erst, über diese Produktion von Wissen, ist eine tiefergehende Beschäftigung und der Erhalt möglich.
Aubin-Louis Millin gehörte zu den Wissenschaftlern, die in der genannten Commission temporaire des arts gearbeitet haben, und er hat zudem ein erstes Werk zwischen 1790 und 1798 in mehreren Bänden vorgelegt: die Antiquités Nationales ou receuil des monuments; also eine Sammlung, keine vollständige, sondern eben eine An-Sammlung von Monumenten, von Denkmalen „pour servir a l’histoire générale et particuliaire de l’empire francois“. Grabmäler, Inschriften, Skulpturen, Glasmalereien, Fresken etc., alles, was in diesen Bereich der Kunst und der Denkmale fällt: „Tiré des abbayes“, herausgezogen aus Abteien und Klöstern, aus Schlössern und anderen Orten, die nun nationales Eigentum geworden sind. Hier ging es aber gar nicht primär um Architektur, sondern zunächst wiederum um das Sammeln und Abbilden von Gegenständen. Dieses Defizit machte sich sehr schnell bemerkbar, denn die berühmten Bande Noire schlugen zu und bauten die Schlösser und Abteien Stein für Stein ab, nachdem sie geplündert worden waren. Die Steine wurden einzeln als Baumaterial verkauft, und dieses Treiben ging bis in die Jahre der 1820er Jahre munter weiter, so dass noch Victor Hugo 1825 gegen diese Zerstörung von Kunstgegenständen und Monumenten und gegen die Bande Noire anschreiben musste, also gegen die – man könnte sagen skrupellosen Kapitalisten, die aus dem Eigentum aller Kapital zu ihrem eigenen, persönlichen Profit schlugen.
Hier setzte in der Zeit um 1810 unter dem Innenminister Montalivet eine neue Idee ein. Montalivet – ich komme gleich noch einmal kurz darauf zurück – fing an dieses Desaster zu erkennen, beziehungsweise auch dagegen vorgehen zu wollen. Zeitgleich gab es eine ganze Reihe von Büchern, die zwar keine systematischen Denkmalinventare waren, also nicht vollständig einen abgeschlossenen örtlichen Rahmen beschreiben, sondern eine relativ willkürliche Sammlung von Gegenständen, die der jeweilige Zeichner oder Wissenschaftler für interessant hielt. Alexandre de Laborde, der mit Montalivet ganz eng zusammengearbeitet hat, veröffentlichte beispielsweise Les Monuments de la France classés chronologiquement und legte damit die ersten chronologisch aufgebauten Sammlungsbände vor.
Ein weiteres, sicherlich bekannter, waren die Voyages pittoresques et romantiques von Nodier, Taylor und Cailleux, ein vielbändiges Werk, das erst nach Jahrzehnten fertiggestellt werden konnte, und dessen Bände von Victor Hugo selbst schon als Denkmal bezeichnet wurden. Auf der anderen Seite auf der rechten Seite zu sehen: Augustus Charles Pugin, ein aus Frankreich nach England geflohener Architekt. Die Engländer haben sehr viel von der wissenschaftlichen Genese nach Frankreich hineingebracht durch ihre vielfältigen Reisen im Ende des 18. Jahrhunderts, durch ihre Methodik, aber letzten Endes auch durch ihre Beschäftigung mit den Hinterlassenschaften des Mittelalters, was in Frankreich erst ein bisschen später einsetzt. Die Voyages romantiques et pittoresques bewegen sich recht häufig in dem titelgebenden romantischen und malerischen Modus, während Pugin meist, hier mit seinen Specimens of Gothic Architecture, zu einer Art Musterbuch tendiert. Die Details der gotischen Architektur, die Grundrisse, die Schnitte, die Aufrisse und Profile wurden mehr oder minder maßgenau dargestellt und somit für Architekten verwertbar gemacht.
Sehen wir uns jetzt mal an, wie das Ganze vor sich ging. Wir linsen jetzt einfach mal zwei Personengruppen über die Schulter: einerseits den Schreibtischtätern und dann denjenigen, die die Reiselust packte und die vor Ort auch unterwegs waren. Dazu muss ich Ihnen zunächst diesen Fragebogen von Montalivet zeigen, den Alexandre de Laborde ausgearbeitet hat. Das ist eigentlich ein ganz kurzer Rundbrief an die Präfekten der Provinz gewesen, der nur drei Fragen enthielt. Man sollte doch bitte die Architektur aufnehmen und nicht nur die Kunstgegenstände, das hätte man ja zuvor schon erledigt, und hier explizit die Schlösser, Kirchen und Abteien. Und warum natürlich? Einfach deswegen, weil das diejenigen großen Objekte waren, die einerseits bereits der Zerstörung durch die Bande Noire anheimgefallen waren, und auf der anderen Seite natürlich waren es diejenigen Bauten, die durch die Enteignung der Französischen Revolution maßgeblich betroffen waren. Auch diese Antwortschreiben kann man dann in den Archiven teilweise wiederfinden. Hier auf der linken Seite aus dem Département de la Saar-Trève, das ist das heutige Trier, das damals dem französischen Staat zugeschlagen worden war und auf der rechten Seite eine Antwort aus Angoulême in der Charente. Die Antworten ergeben kein besonders homogenes Bild, da sie von Menschen verfasst wurden, die mit Architektur nicht viel zu tun hatten. Es sind Pfarrer, es sind Bürgermeister, es sind Dorflehrer, Stadtverordnete, auf jeden Fall keine Spezialisten, weil es die zu der damaligen Zeit auch noch gar nicht gab. Die Architektur des Mittelalters war erst ganz kurz überhaupt von den Forschern in den Fokus gerückt worden. Und insofern ging es also bei der ganzen Debatte auch immer darum, wie das neu entstehende Wissen der Wissenschaftler an diejenigen Stellen vermittelt werden sollte, die vor Ort mit den Objekten zu tun hatten. Dieser Aspekt interessierte Arcisse de Caumont, der normannische Architekturwissenschaftler, Botaniker und Jurist. Er entwickelte diesen hier zu sehenden Fragebogen, eine neue Idee und auch einen neuen Begriff: die Statistique monumentale, die Denkmalstatistik, und damit eigentlich unser heutiges Denkmalinventar. Auf der rechten Seite sehen Sie ihn, also nicht ihn, sondern sein Notizbuch – es hat sich eine Reihe von Notizbüchern in seinem Nachlass erhalten –, er besuchte dort die Kirche von Audrieux, eine kleine Dorfkirche im Département Calvados, Normandie, und verzeichnete hier oben „église très remarquable“ und beschrieb diese dann. Er war kein begnadeter Zeichner, das sehen Sie alle, aber er gab sich Mühe, die wesentlichen Aspekte zeichnerisch darzustellen und zu verorten und das Ganze sprachlich auf einer mehrseitigen Beschreibung niederzulegen. Gleichzeitig aber bediente er sich einer ausgearbeiteten Form eines Fragebogens als eine Art Begleitwerkzeug, ein Instrument, das er zusätzlich in die Provinzen schickte, um von Dingen zu erfahren, die er vielleicht selber bei seinen Reisen übersehen hatte, um dann erneut dort hinzureisen und zu verifizieren, ob das so auch stimmt, ob da wirklich ein interessanter Ort oder ein interessantes Objekt zu finden wäre. Er las also diese ganzen Antwortbogen durch und wertete sie aus. Wir erkennen hier einen leicht arroganten Architekturwissenschaftler, der ja immerhin die Mediävistik der Architektur in Frankreich mitbegründet hat, wie er an den Rand kleine Bewertungen notierte. Hier schrieb er in Audrieux, dessen Kirche er vorher schon besucht hat: „rien c’est un peu fort“. Also „nichts zu schreiben, ist jetzt wirklich ein starkes Stück“, weil nämlich der überforderte Fragebogenempfänger auf allen Fragen ein simples „rien“ antwortete. „Nein, hier gibt’s nichts zu sehen. Bei uns, in diesem Ort, ist nichts Bemerkenswertes zu finden.“ An anderer Stelle lobte unser Wissenschaftler aber auch: „parfaitement bien“. Sie können so einen leicht lehrerhaften Dünkel hindurch spüren. Er weiß das natürlich längst, er war ja auch schon dort, aber das ist in Ordnung, „parfaitement bien“, setzen.
Dieses Konzept macht die Runde: Arcisse de Caumont reiste viel, hielt Vorträge, hatte Hummeln im Hintern und war wirklich permanent unterwegs, entweder zur Erkundung der Regionen Frankreichs oder aber auch in Europa. Er hat unzählige Zeitschriften, Vereine und Kongresse gegründet und war ein sehr gut vernetzter Wissenschaftler. Auf diesen Wegen fand diese Idee der Statistique monumentale recht schnell, nach der Juli-Revolution 1830, in die neue französische Regierung unter Louis Philippe und den Historiker und Innenminister François Guizot. Guizot regte nicht nur die Gründung der Denkmalpflegebehörde an, er setzte auch den ersten Generalinspektor der Monuments historiques ein. Und er dachte über die Erfassung, Katalogisierung und Publikation der Denkmale systematisch nach. Zu diesem Zweck berief er mehrere Komitees – auf die möchte ich hier gar nicht weiter eingehen –, aber das eine Komitee erhielt ganz explizit die Aufgabe ein Denkmalinventar zu erstellen. Erneste Grille de Beuzelin wird auf die Reise in die zwei Städte Toul und Nancy geschickt, um ein, Sie können es hier oben in dem Vorsatzblatt sehr schön sehen, „Specimen“ herzustellen, also ein Musterinventar. Das ist also so eine Art case study vor dem Original, eine Probe-Inventarisation, die dazu führen sollte, aus ihr Schlüsse zu ziehen, wie etwas in der Folge zu organisieren sei.
Grille de Beuzelin besaß eine leicht, muss man wohl sagen, erbsenzählerische Natur –vielleicht aber war das auch der Grund, warum man ihn schickte. Er konnte allerdings auch sehr gut zeichnen. Er schrieb diesen Bericht, der also einerseits Denkmalinventar ist und auf der anderen Seite auch eine Arbeitsstatistik. Ich habe Ihnen diesen mehrseitigen Bericht hier als numerische Statistik zusammengefasst. Er war – also Sie müssen sich das wirklich genau ansehen, weil das sehr viel über die Kapazität dieser damaligen Zeit aussagt, unter den damaligen Bedingungen, die ja, was Reisende betraf, nicht so besonders gut waren, Ergebnisse zu erzielen – zweieinhalb Monate unterwegs, legte 1500 Kilometer zurück, war in zwei Arrondissements unterwegs, Toul und Nancy, besichtigte 303 Orte; in 48 Orten fand er 109 bemerkenswerte Punkte und isolierte 56 Denkmale aus der Menge. Er fertigte 101 Zeichnungen an und verwandte für die Publikation weitere sechs Wochen für Zeichnungen und die Ordnung der Notizen, sowie die Redaktion der beiden Bände. Sie können es zusammenzählen, er war ziemlich flott unterwegs. Insgesamt schloss er in einem Dreisatz, dass man für ein Arrondissement mit einem Wissenschaftler sechs Wochen benötige, ein Département demnach mit einem Wissenschaftler insgesamt in anderthalb Jahren zu bewerkstelligen sei, und ganz Frankreich mit einem Wissenschaftler in 130 Jahre zu einem Ende geführt werden könne. Das schrieb er natürlich, um dem Innenminister klarzumachen, dass so ein Unterfangen mit nur einer Person nichts werden würde. Denn das war die ursprüngliche Idee: der Generalinspektor reist durch die Lande und nimmt die Denkmale einfach mal so nebenher mit auf, während er noch mit den Architekten und Bürgermeistern über die Renovierung von einstürzenden Kirchenbauten verhandelt. Das konnte wirklich nichts werden, seine Schlussfolgerungen sind daher relativ einleuchtend, man brauche wohl mehrere Inspektoren und man benötige Menschen, die Architekten, Künstler, Historiker gleichzeitig seien, oder aber mehrere Personen nebeneinander; sie müssten nach denselben Prinzipien und Methoden arbeiten, und sie müssten alle gut reiten können und gut zu Fuß sein. Das sind Anforderungen, die ziemlich schwierig zu erfüllen waren, vor allem aber eine, und das ist genau die Aufgabe, die dieser Kommission schließlich in der Folge zufiel: Die Erarbeitung von Prinzipien und Methoden, die nachvollziehbare und vergleichbare, wissenschaftliche Ergebnisse hervorbringen würden.
Arcisse de Caumont wiederum, unser normannischer und eindeutiger De-Zentralist – denn er war expliziter Verfechter der Autarkie der Provinzen in einem politischen, aber auch in einem kulturellen Sinn – reagierte in einem seiner vielen Aufsätze und Bücher auf den Bericht Grille de Beuzelins: „Mais ce n’est ne pas dans une exploration rapide que l’on peut tout voir“. Man könne nicht alles in einer Schnellerfassung sehen und erforschen, sondern man müsse mehrfach hinfahren, um seine eigenen Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen, weil man Dinge ausgelassen habe, man müsse die Leute fragen, und es könnte sogar sein, dass man eine „résidence prolongée“ einschieben müsse, also einen längeren Aufenthalt vor Ort. Das war eine eindeutige Spitze gegen den von Paris aus geschickten „eiligen“ Zentralinspektor. Der in der Region ansässige Wissenschaftler wisse, so Caumont, im Zweifelsfall wesentlich besser über die einzelnen Orte Bescheid.
„Rapide“ war allerdings in der Folge gar nichts mehr. Die französische Zentralstatistik, wenn wir sie mal so bezeichnen wollen, wurde gekappt, weil man kein Geld mehr für dieses Unternehmen bereitstellen wollte. Es wurden zwar noch weitere Denkmalstatistiken zum selben Zeitpunkt in Auftrag gegeben, aber nur eine davon wurde 32 Jahre später beendet. Albert Lenoirs in diesem Fall wirklich monumentale Bände von Paris, denn mehr wurden es nicht, wurden in einem großen Überfolio-Format gedruckt – dieses nennt sich „Jesus“, das sagt schon etwas auch über die Qualität dieser Drucktechnik aus – aber der Anspruch, der uns hier auf dem Frontispiz dargeboten wird, wird nicht ansatzweise eingehalten. Man sieht das Pantheon, Notre-Dame, die musealen Gegenstände, die teilweise aus der Ägyptenexpedition stammen, teilweise natürlich auch aus archäologischen Grabungen in Paris usw. Das alles hätte dort hineinfließen sollen. Das ging natürlich nicht in einen einzigen Tafelband selbst dieses Ausmaßes hinein, mit einem einzigen kleinen im Quartformat publizierten Beschreibungsband. Die Pariser Statistik blieb ein Fragment und das letzte Denkmalinventar, das bis in die 1880er Jahre in Frankreich von staatlicher Seite erarbeitet wurde.
Stattdessen dachte man sich in der Politik, beziehungsweise auch in der Kommission, wir versuchen es vielleicht doch mal wieder mit einer ersten, dieses Mal präziseren Umfrage. Man entwickelte einen wissenschaftlich ausgefeilten Fragebogen und orientierte sich hier recht eindeutig an Arcisse de Caumonts Vorbild. Nun haben wir hier bereits einen vierseitigen Bogen, der alleine – ich habe Ihnen das mal hier oben ausgewertet – 20 Fragen für die Monuments gaulois, also für die Vor- und Frühgeschichte bereithält, 15 Fragen für die römischen Reste, und schließlich 39 Fragen für den Paragraphen drei, das Mittelalter. Ein recht präzise ausgearbeitetes Instrument. Dieser Fragebogen, der auch ausreichend publiziert und an interessierte Regierungen außerhalb Frankreichs verschickt wurde, hat direkte Auswirkungen gehabt, auch in den deutschen Ländern. Unter anderen hat Ferdinand von Quast, der erste Generalkonservator hier in Preußen, ihn zum Anlass genommen, einen eigenen, noch ausgiebigeren Fragebogen anzufertigen und zu verschicken. Dieser war bis in die 1880er Jahre im Umlauf, hat aber so gut wie keine plausiblen Ergebnisse hervorgebracht, wie eigentlich alle diese Fragebögen, egal wie sie nun konzipiert waren.
Heinrich Otte, ein Antiquar und Mitherausgeber der Zeitschrift für christliche Archäologie, hat das Problem erkannt, sicher auch im Austausch mit Ferdinand von Quast. Die Fragebögen stießen vor Ort nicht auf genügend Fachwissen und daher schickt er eine Publikation hinterher, einen kleinen archäologischen Katechismus – er war übrigens auch Pfarrer und wir können in der Mittelalterarchäologie und -kunstgeschichte auch eine politisch-religiöse Komponente entdecken. Der archäologische Katechismus ist ein kurzer Unterricht in der kirchlichen Kunstarchäologie des deutschen Mittelalters und sollte jetzt die Pfarrer vor Ort, die das meistens betraf, in mehreren Schritten sowohl durch den Fragebogen führen, also die Terminologie, die Herangehensweise, die Rückschlüsse und die Beschreibungsformen liefern. Eine Art Ausfüllhilfe könnte man sagen, eine kleine Unterweisung in Form eines Handbuchs für das archäologische Wissen.
Wie gesagt, das funktioniert alles nicht wirklich, aber dennoch versuchen eigentlich fast sämtliche Regierungen, die an eine Inventarisation der Denkmale dachten, zunächst solche Fragebogenaktionen durchzuführen, einfach weil es sehr, sehr billig war. Man druckte ein Formular und schickte es in die Provinz, und wartete, was zurückkam. Joseph Braun beendet das Verfahren endgültig, indem er 1917 das Problem offen ansprach und die Defizite erläuterte.
Ein Punkt, der hier ganz deutlich schon zum Tragen kam, ist das Entstehen einer neuen Wissenschaft, nämlich der Architekturwissenschaften als einer zuvor nicht existenten Sparte. Natürlich gab es vorher auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Architektur aber sie hat sich eben in ganz wenigen Sparten der Architektur betätigt, und die hohe Qualität der französischen Nachschlagewerke des 17. und 18. Jahrhunderts, gerade für den Bereich der Architektur, ließen kategorisch einige große Bereiche aus und darunter zählte die gesamte Epoche des Mittelalters. Hier entstand schließlich etwas, ohne das unsere Wissenschaften nicht denkbar sind, nämlich die terminologischen Festlegungen in einem bis dahin unbekannten Ausmaß. Und das in einer erstaunlichen Geschwindigkeit. Ich zeige Ihnen gleich mal ganz kurz nur eine Liste mit Publikationen, die damals entstanden sind.
Wir können schon bei Vicq d’Azyr feststellen, dem Mediziner und Naturwissenschaftler, dass er explizit, wenn es um die Artefakte der Antiquités geht, also unsere Kunstgegenstände im weitesten Sinne, auf eine zu erstellende nomenclature méthodique pochte. Schon in den 1790er Jahren wurde dieses Defizit also erkannt. Ganz kurz mal einige Sätze aus den 1820er und beginnenden 30er Jahren, die alle in die, in genau dieselbe Richtung zielen: William Whewell, ein englischer Naturwissenschaftler und Antiquar schreibt „our architectural vocabulary should be much extended, we may learn from the descriptive sciences as for instance botany.“ Also klarer Bezug auch hier auf die Naturwissenschaften. Caumont schreibt im Prinzip dasselbe, ich erspare Ihnen das mal hier auf Französisch, man kann, schrieb er, „die Eigenheiten eines Gebäudes wie die Organe einer Pflanze analysieren“, und man kann sie eben auch klassifizieren, zum Beispiel in verschiedene epochale Zusammenhänge. Caumont als Mitbegründer der Societé linnéenne in der Normandie greift also direkt auf den Botaniker und Naturwissenschaftler Linné zurück, und möchte sich an dessen Klassifikationssystem auch in der Architekturwissenschaft orientieren. Prosper Mérimée, der zweite Generalinspektor der Monuments historiques in Frankreich, schrieb: „Il n’y a point encore de terminologie fixée pour l’architecture du Moyen Âge, et souvent la difficulté est grande pour exprimer les objets qui se présentent le plus souvent à nos yeux“. Das terminologische Phänomen zieht sich auch durch die Literatur des 19. Jahrhunderts in Frankreich hindurch. Sie können das bei Flaubert, bei Zola, bei Stendhal, bei Victor Hugo nachlesen, es ging immer um diese sprachliche Ebene bei der Beschreibung der Artefakte: Es fehlt ein Wörterbuch mit Abbildungen im Text, das zweihundert Begriffe der gotischen Architektur erklärt. So schrieb es Stendhal, ein Autor den wir für gewöhnlich gar nicht mit diesen Aspekten in Verbindung bringen, der aber sehr interessiert an der Architektur des Mittelalters, aber auch der römischen Antike war.
Und so entstanden in einer wirklich kurzen Zeit eine große Menge an Nachschlagewerken, beginnend bei dem Ursprungsband, auf den sich die Franzosen immer wieder berufen werden, aber auch die deutschsprachigen Archäologen und Architekturhistoriker: Thomas Rickman, An Attempt to discriminate the styles of English architecture. Rickman ist Architekt gewesen, auch ein neogotisch operierender Architekt, wie es ja naheliegt, der mit sehr vielen Neologismen bekannt wurde. Diese Begriffe werden bis heute verwendet. Das Buch ist in zahlreichen Auflagen publiziert worden und natürlich auf dem Weg immer dicker geworden, wurde immer reicher ausgestattet. Auf der anderen Seite sehen Sie ein anderes Exemplar, das nahezu gleichzeitig entstand, ein Glossar. Das Beispiel steht für den Versuch, die Abbildungen der Architektur und die Sprache der Architektur in einen Band zu bekommen, diese beiden Vermittlungsebene letzten Endes zu kombinieren.
Britton, Rickman, Willis, Parker – es gibt eine ganze Unzahl an verschieden ausgeformten und unterschiedlich illustrierten und vorgehenden Nachschlagewerken –, sie sehen, das hier ist ein eher systematisch alphabetisch vorgehendes Nachschlagewerk mit hier und da eingestreuten Illustrationen. Hier sehen Sie einen Autor, der ganz eindeutig auf eine Systematik auch von Bogenformen setzt, also nicht nur kleine Ornamente zeigt und so was, sondern direkt in einen Bereich geht, der auch mit der Ordnung der Architektur und ihrer Formen zu tun hat. Es handelt sich um ein Versuchsfeld der jungen Architekturwissenschaften, die seit den 1820er Jahren enorme Mengen an Ergebnissen hervorgebracht haben.
Caumont hat sich in diesem Sektor ebenfalls mehrfach betätigt. Hier ist sicherlich eines seiner bekanntesten Ergebnisse, das Abécédaire ou rudiment d’archéologie. Was in diesen wenigen Jahrzehnten publiziert wurde, habe ich Ihnen hier einmal zusammengestellt. Alles einzelne Bücher, zum großen Teil in wirklich vielen, vielen Auflagen erschienen. Nehmen Sie einfach mal nur die etwas fetter formatierten von John Henry Parker. Dieses ist 1836 erschienen, die zweite Auflage schon 1838, die erweiterte Auflage in drei Bänden dann 1845-46. Sehen Sie mal hier weiter, genau in derselben Zeit, wo die drei Bände entstanden, sagte sich der Autor – er war auch sein eigener Verleger –, drei Bände ist nicht mehr geeignet für die Reise, jetzt machen wir noch einen kleinen Band hinterher als Kurzversion. Die wiederum wird 1875 schon in der vierten Auflage gedruckt, 1896 in der neunten Auflage und wird bis heute immer wieder aufgelegt. Und das war jetzt nur ein kleiner Einblick in diese Betätigung der Architekturwissenschaftler im 19. Jahrhundert, die zu einer fixen Terminologie führte, auf die wir uns heute eigentlich immer noch beziehen. Hingegen gibt es nur wenige Bücher und Wörterbücher, die seither erschienen und explizit neue Publikationen sind – natürlich wäre da der berühmte Hans Koepf mit seinem Das Bildwörterbuch der Architektur zu nennen.
Aber auch Bücher wie von Heinrich Otte werden bis heute gedruckt und sind immer noch auf dem Markt. Und dazu muss man natürlich sagen, dass diese Handbücher fast alle im Kontext der Denkmalinventarisation entstanden, also sind in direkter Umgebung der Erstellung der Denkmalinventare, woran man auch sehr schön sehen kann, dass Architekturwissenschaften und Denkmalinventarisation ein zusammengehöriges Betätigungsfeld des 19. Jahrhunderts ausmachten und erst in den letzten Jahrzehnten sich auseinanderentwickelt haben.
In Frankreich ist das mal wieder ein ganz, ganz kleines bisschen anders, weil 1964 der Kulturminister André Malraux und der Kunsthistoriker André Chastel entschieden, das Denkmalinventar neu aufleben zu lassen – ich erwähne das nur mal als einen ganz kleinen Blick in unsere Epoche hinein: Im Rahmen der Entstehung des Inventaire Générale wurde 1972 der erste Band einer Reihe Méthodes et Vocabulaires publiziert. Der erste Band ist der Architektur gewidmet, inzwischen handeln sie über Möbel, Glasmalerei, Kutschen etc. pp., bis zum urbanen Raum und den Garten- und Landschaftsarchitekturbereich. Nachschlagewerke als Ergebnisse einer staatlich gelenkten Denkmalinventarisation – wer sie jemals benutzt hat, weiß, dass es sich hier um Grundlagenarbeit handelt, die wie im Fall von Espace urbain auch die deutsche Traktatistik des 19. und 20. Jahrhunderts auswertete. Dem deutschsprachigen Raum fehlt es hingegen restlos an solchen systematischen Nachschlagewerken – trotz einiger Versuche.
André Malraux, dies nur in einem Nebensatz, ist sicherlich den meisten bekannt durch seine Bildbände des Musée imaginaire, mit denen er auf eine neue Form des Nebeneinanders und Vergleichs zielte. Das imaginäre Museum und das Denkmalinventar – zwei verwandte Buchformen, die Dinge versammeln, die man ohne sie nicht zusammen sehen könnte, und die erst dadurch (allerdings: unterschiedliche) Aspekte der Kunst und Architektur sichtbar machen. Was ist da daran eigentlich interessant? Interessant ist, dass ausgerechnet der Minister für Kultur in Frankreich, der zuständig ist für die Denkmalpflege, ein neues Inventarisationsprojekt auflegt, und ein sehr, sehr großes und breit angelegtes Inventarisationsprojekt mit dieser terminologischen Fragestellung, mit einer neuen methodischen Erhebung, mit der historischen Geografie drin und mit wirklich neuen, also wirklich neuen methodischen Ansätzen, die teilweise aus der École des Annales herrühren usw. usf., ausgerechnet jener Kulturminister in diesem Bereich tätig ist, der mit Dokumentation, mit Abbildung, mit Publikation von Kunstgegenständen zu tun hat; also es ist eine direkte Wechselwirkung zu konstatieren zwischen seiner Tätigkeit als freier Kunstautor, der in der Zeit zwischen seinen beiden Ministerposten war, in denen diese vielen Bildbände entstanden sind und dieser Idee eines einer neuen Reihe des Denkmalinventars.
Ich gehe jetzt mal einen Schritt weiter und wollte Ihnen dieses Foto natürlich nicht vorenthalten. Sie kennen es, oder eines dieser berühmten Fotos aus einer ganzen Serie von Maurice Jarnoux wahrscheinlich: André Malraux in seinem Appartement in Paris beim Sortieren eines der Bände, der Maquette als der noch nicht gehefteten Andrucke, wie er hier als Kunstwissenschaftler, als Kunstsachverständiger ordnend in diesen Bereich eingreift; es zeigt ganz deutlich – und darauf möchte ich jetzt in der Folge auch eingehen –, wie wichtig diese Verbindung von Text und Bild für das Denkmalinventar ist, weil es in diesen beiden Medien, und ich komme gleich dann in der Folge noch zu einem dritten Medium, jeweils Dinge transportiert werden können, die das andere Medium nicht beinhaltet und auch nicht gut vermitteln kann.
Ich gehe dazu noch mal ganz kurz zurück zu Augustus Charles Pugin, den normannischen Engländer, der, 1789 emigriert, als Reisender in die Normandie zurückgekehrt und Bildbände über in der Folge normannische Architektur des Mittelalters publizierte. Sie sehen hier ganz deutlich, das hat diesen Musterbuchcharakter, es geht hervor aus schnellen Aufmaßen, allerdings sehr präzisen, nach wie vor gehören die zu den eher präziseren Bauaufmaßen der normannischen Architektur, man kann sie also durchaus heute noch benutzen ohne gänzlich fehlzugehen wenn man sie auswertet; aber Sie sehen ganz deutlich, das sind sehr scharfe Linien, dünner Linienumrissstich ganz, ganz präzise Kupferstichtechnik – die Engländer haben im 18. Jahrhundert eine ausgefeilte Technik entwickelt –, sehr, also wirklich sehr präzise, aber eben auch sehr fein, analytisch und grafisch. Dagegen gibt es aber durchaus eine zweite Herangehensweise, die auch die Engländer und später auch die Voyages romantiques et pittoresques verfolgen, nämlich eine Darstellungsform von Architektur, die viel stärker auf das Räumliche setzt, auf die Licht- und Schattenwirkung, auf die Skulpturalität, auf die Plastizität der Architektur, und dazu natürlich auf das Atmosphärische, was die Architektur des Mittelalters häufig mit sich bringt. Das ist ein Punkt, der bei Pugin und dieser anderen eher geraden Darstellungsform restlos unter den Tisch fällt. Dennoch geht man vollkommen fehl in der Annahme, wenn man glauben würde, John Sell Cotman sei ungenau gewesen, er war ein unheimlich präziser und auch nach Aufmaßen operierender Zeichner und Stecher. Und wenn man noch mal einen kleinen Blick zurückwirft, dann merkt man sehr schnell, dass sich auch Pugin durchaus seine Freiheiten nimmt, zum Beispiel wenn er als klassischer Musterbuch-Autor ein Arkadenfragment aus der Kathedrale von Bayeux nimmt und hier aber aus verschiedensten Arkadenformen ein einziges Bild generiert, was dann heißt, wir haben es hier nicht mit einer realen Abbildung zu tun, sondern es ist ein Konstrukt, ein Konstrukt eines an Details interessierten Architekten, dessen wenige Blätter möglichst viele Details an seine Kollegen, die Architekten, vermitteln wollen und die Vielfalt normannischer Architektur des Mittelalters in ihrer ganzen Bandbreite möglichst auf eine Tafel komprimiert vermitteln möchten.
Wenn wir jetzt mal ganz kurz hineinsehen, was über Inventare und die Vorgehensweise mit diesen Bildern auch geschrieben wird, so ist das ganz interessant, da ergibt sich nämlich ein Bild, dass durchaus nachdenkenswert ist: Pugin ging es um Folgendes: „representing the geometrical proportions plan and construction of genuine Gothic architecture“. Also geht es schon um Genauigkeit, es geht um die wirkliche, um die reale gotische Architektur; um die Darstellung von Plänen, Proportionen und der Konstruktion. Es handelt sich also nach dem Willen des Autors schon um präzise Aufnahmen. John Ruskin aber zum Beispiel schreibt „our object, let it always be remembered, is not the attainment of architectural data, but the formation of taste“, und hier sind wir in einem ganz anderen Segment unterwegs: Ruskin drückt ganz deutlich aus, was Pugin letzten Endes ja auch damit meint, es geht um die Verbreitung des architektonischen Wissens des Mittelalters, um den Geschmack und das architektonische Entwurfssystem wirklich in sich zu verändern und neue historisch korrekte Vorlagen zu vermitteln. Und genau diesen Aspekt werden Sie bei vielen Autoren der Denkmalinventare des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auch finden, unter anderem bei Paul Clemen, dem Konservator des Rheinlandes, er schreibt in einem Inventarband des Kreises Kempen, „so werden Sie“ – also die Inventare – „die wahren, weil umfassendsten Museen der künstlerischen Vergangenheit eines Gebiets und zugleich die vollständigsten Sammlungen von Vorbildern für die praktische Verwertung und das Wiederaufleben einzelner Herstellungsweisen.“ Sie sehen also, das Denkmalinventar dokumentiert nicht nur, sondern es hat auch einen pädagogischen Wert, der in das Kunstgewerbe und in die Architektur hineinzielt. Gleichzeitig ist es, und da sind wir natürlich auch wieder bei Malraux, auch Museum, denn es ist der einzige Ort, an dem Architektur dauerhaft gesammelt werden kann – einerseits natürlich weil Architektur überhaupt nicht sammlungsfähig ist, auf der anderen Seite, weil sie irgendwann verschwindet und verloren geht.
Wie sieht das jetzt aus, wenn man sich die Denkmalinventare ansieht? Sie werden diese gesamte Bandbreite der Möglichkeiten tatsächlich finden, allein deswegen, weil die Zeit des 19. Jahrhunderts enorm viele Drucktechniken ausprobiert, neu erfindet, also Lithographie, Stahlstich, Holzstich, die ersten Umsetzungen in der Fotografie etc. pp., also alles das wird experimentell in den Denkmalinventaren verwendet und mit verschiedenen verlegerischen und pädagogischen Absichten verschnitten. Arcisse de Caumont setzte auf den Holzstich, weil er die billigste Reproduktionsmethode war, weil er möglichst viele Leute erreichen wollte. Der französische Zentralstaat will repräsentative Großformate und verwendet hierfür die Lithographie oder sogar den Kupferstich – und bringt damit unbezahlbare Produkte hervor, die noch dazu nie beendet wurden. Und gleichzeitig sieht man auch bei Grille de Beuzelin einerseits analytische Schnitte und Grundrisse, auf der anderen Seite eher pittoreske Anlagen, wenn es darum geht, Ruinen in der Landschaft zu zeigen. Mittel und Darstellungsformen der Architektur im Denkmalinventar schwanken enorm – je nach Produzent, nach Autor, nach Verleger und Zielrichtung.
Sie werden dieselben Feststellungen auch machen, wenn Sie in die Zeit nach der Erfindung der Autotypie gehen, als die Fotografie druckfähig gemacht wird. Franz Xaver Kraus ist hier einer der ersten Autoren, die zunächst noch mit dieser caumontschen, eher harmlosen kleinteiligen Bebilderung im Kleinformat anfangen. Er ging aber recht schnell (1887, ungefähr ab 1882 kann das überhaupt erst gedruckt werden), mit seinem Verleger in das Drucken von Fotografien über. Zeitgleich probiert das auch der Mansfelder Seekreis im heutigen Sachsen-Anhalt, scheitert aber an der Beherrschung der Technik. Sie sehen hier eine klassische Maschinenretusche der 1880/90er Jahre, die für Kunstgegenstände jedoch sehr schlecht geeignet ist. Das Ergebnis kommt einer schlechten Zeichnung näher als einer Fotografie, ist also überhaupt nicht geeignet, ein originalgetreues Abbild eines Kunstgegenstandes zu liefern. Es sind also auch viele Fehlschläge in diesen Büchern versenkt.
Die Probleme mit der Drucktechnik führten teilweise zu eigenwilligen Produkten. Skulpturen musste man zunächst freistellen, weil sie in ihrem Umraum der Kirche nicht fotografierbar waren, man hätte ihre Umrisse einfach nicht mehr erkannt. Seit etwa 1900 versuchte man verstärkt, auch den Kontext, den Umraum abzulichten. Die Nachteile sind auf beiden Seiten eklatant: Der hier zu sehende Luzerner Brunnen verschmilzt mit seinem Hintergrund, den Häusern, und wird dadurch unlesbar. Auf der anderen Seite zeigt der freigestellte Brunnen seinerseits Defizite. Die Stadt um das Denkmal einfach wegzuschneiden, ist in einem Denkmalinventar eben auch nicht günstig.
Hier fand erst das österreichische Denkmalinventar, die Österreichische Kunsttopographie von Alois Riegl und Max Dvořák, einen systematischen und methodischen Zugriff, indem es die Kulturlandschaft als maßgeblichen Bestandteil mit in die Untersuchung des Denkmalinventars einspeiste. Und hier können Sie dann auch einen deutlich präziseren Umgang mit diesen freigestellten Objekten sehen. Das ist nämlich von den Autoren Hans Tietze und Max Dvořák so gehandhabt worden, dass diese freigestellten Objekte museale Objekte sind, also solche Kunstgegenstände die bereits ihrem Kontext entfremdet worden sind und in einen anderen, den musealen Kontext aufgestellt worden sind, während jene Denkmale, die im Kontext ihrer landschaftlichen Umgebung und städtischen Umgebung stehen, also eher landschaftlich geprägt sind, aufgrund ihres großen Stimmungsreizes aufgenommen wurden und auch in diesem Stimmungsreiz beschrieben werden sollten. Dass man zu der damaligen Zeit die Sprache dafür noch nicht so richtig gefunden hatte, ist ein anderes Thema, aber die Methodik des Aufnehmens von kulturlandschaftlichen Elementen, bekommt hier einen enormen Schub. Aber natürlich werden Sie das vereinzelt bereits zuvor finden. Zurück in der Schweiz sieht man hier ganz schön, wie zunehmend versucht wird, die Landschaft und die Architektur in einer Zwiesprache zu fotografieren, dass also Architektur auf die spezifischen landschaftlichen Gegebenheiten zu reagieren scheint.
Ich geh jetzt mal ganz kurz noch ein paar Dinge durch, einfach ein paar Fotos, um zu zeigen, dass nämlich einerseits dieser Stimmungsreiz, der um 1905 herum in die Diskussion um die Denkmale eingespeist wird, in der Fotografie eine große Rolle gespielt hat. Das sieht man hier ganz schön in den thüringischen bzw. auch bayrischen Denkmalinventaren. Man kann aber auch – und auch das ist typisch für die Zeit um 1900 – feststellen, dass die Inventarisatoren anfangen, selbst zu fotografieren. Ernst Gall, der für seine Dissertation in Nordfrankreich unterwegs war, und eine stattliche Reihe von Fotos gemacht hat, ist hierfür ein schönes Beispiel. Hier sehen Sie seine Tasche, die hat er manchmal aus Versehen mitfotografiert. Diese Fotos fanden Eingang in seine Bücher, und hier gibt es eine Rückkopplung: Gall verwendete die Statistique monumentale von Caumont, das normannische Denkmalinventar, als Architekturführer. Die von Caumont dokumentierten und festgehaltenen Objekte lichtete er nun in eigenen Fotografien erneut ab. Ein enges Miteinander – denn man muss jetzt noch hinzufügen, dass Ernst Gall der zweite Herausgeber des Dehio war, also des Handbuchs der Deutschen Kunstdenkmäler – ein enges Hin und Her zwischen der Produktion von architektonischem Wissen, Bildern, Texten und eben auch diesen Produkten der Denkmalinventare und inventarähnlichen Bänden.
Ein ganz letzter Schritt noch – ich habe jetzt vielleicht schon überzogen – aber ich denke, den gehen wir jetzt hier noch durch, weil er noch mal eine andere Ebene in dieses ganze Thema der Erfassung von Kunstgegenständen und von Architektur bringt: die Denkmalkarten. Caumont ist ja nicht nur Architekturwissenschaftler gewesen, sondern er war auch Geologe und Botaniker und alles Mögliche, wie üblich in der damaligen Zeit; Caumont fertigte 1825 eine geologische Karte des Calvados an, da hatte er gerade auch begonnen, sich mit Architektur zu beschäftigen, und transferierte diese Idee der kartographischen Darstellung in seine Denkmalerfassung. Im Prinzip handelt es sich einfach nur um eine Landkarte mit den interessanten Orten und Objekten. Er versucht das mit einem neuen Zeichensystem darzustellen und nennt dieses „Denkmalpasigraphie“, also ein Universalnotationssystem in Anlehnung an Alexander von Humboldt, den er in Paris kennenlernte. Dieses System besteht im Grundsatz darin, dass man die romanischen Kirchen rund, die gotischen dreieckig die Übergangsstilsituationen dreieckig und rund und die modernen in eckig bezeichnet – den Rest lassen wir einfach mal weg, das ist zu kompliziert – und das werden Sie dann in einem ersten Versuch einer solchen Karte auch finden. Dieser Turmhelm hier kommt also aus der zweiten Periode der gotischen Epoche, während der Chor aus der gotischen Epoche erste Periode – das ist wiederum eine Unterklassifizierung Caumonts – entstammt. Hier in Luc-sur-Mer haben Sie hingegen einen romanischen Westteil, also West ist immer links, Ost ist immer rechts. Das sind nun sehr eigenwillige Notationsformen, die er in seinen Tagebüchern entwickelte. Er ist grandios damit gescheitert, niemand hat es übernommen und er selbst hat es ab 1835 auch fallenlassen. Sie brauchen Monate, um sich da als Kartenleser durchzufinden; und letzten Endes ist das eigentlich auch gar nicht das, was wir von einer solchen Karte wissen wollen. Die Fragestellung aber musste ja mit der Darstellungsmethode ebenfalls erst entwickelt werden.
Die Idee der Denkmalkarte aber macht die Runde: Grille de Beuzelin hat eine große Karte gezeichnet. Auch hier die anderen Denkmalinventare der Provinz 1844 von Michon zum Beispiel mit einer recht ausgiebigen Legende, die unter anderem auch Dialektgrenzen verzeichnet – laut der Architekturtheorie des 19. Jahrhunderts stehen Architektursprache und gesprochene Sprache miteinander in Relation, zwei Sprachsysteme, die auf die Bevölkerung zurückgehen und in der regional wechselnden Bevölkerung unterschiedliche Ausprägungen finden. Interessante Ansatzpunkte, die zunächst keine weiteren Folgen haben sollten. Sie sehen hier, 1858 eine erste Karte mit den eingetragenen Baudenkmalen der Monuments historiques, in Paris, in Frankreich. Auf der rechte Seite eine durch Viollet-le-Duc und Edmond de Sommerard und Isaac Rigaud angelegte, farblithographisch gefärbte Karte, die genau auf diese Erste zurückgeht, aber die Bauschulen Frankreichs einzeichnet. Und hier wird Denkmalpolitik betrieben, denn da wo es am dunkelsten, am farbigsten ist, ist der Stil am reinsten vertreten, und wenn er am reinsten vertreten ist, ist die Rangordnung innerhalb der Denkmalhierarchie am größten, sprich wo es sich verwässert, wird es eher uninteressant. Wir sehen hier ein ganz klares Wertesystem enthalten. Es ist aber noch etwas anderes interessant: Viollet-le-Duc erläutert nämlich, er habe eine deutsche Karte gesehen, die so etwas versuche, aber die sei so schlecht und fehlerhaft, dass er jetzt eine neue machen müsse. Er meinte natürlich Franz Mertens‘ Karte Das Abendland während der Kreuzzüge. Wenn man da jetzt wirklich reinzoomen würde, könnte man sehen, dass er sogar mit typographischen Mitteln versucht, Stile, Epochen, Zuordnungen, Diözesankirchen, typologische Fragestellungen zu behandeln, usw. usf., also ein extrem ausgefeiltes kartographisches System – nur dummerweise hatte er das alleine gemacht und so war sie bis zum Ende fehlerhaft, weswegen auch diese Karte nie rezipiert wurde.
Man könnte jetzt hier noch weiter hineingehen in die Stadtdenkmalinventare, dann könnte man die kunsthistorischen Atlanten, die zusammen mit der historischen Kartographie entwickelt werden, noch einführen, – ich spare mir das jetzt mal hier und zeige nur noch ein allerletztes Bild, nur um vielleicht einen kleinen Hinweis für die Diskussion zu geben. Sie könnten an jeder Stelle einsetzen und die Techniken der Denkmalinventarisation in den Bildenden Künste wiederfinden oder fortsetzen, wie zum Beispiel Elfriede Mejchar, die Fotografin des Bundesdenkmalamts, die immer neben der Inventarisation der Kirchen auch suburbane Räume fotografiert hat; die in ihren Denkmalfotografien Bildebenen mit fast ironischen Zügen eingebaut hat. Moderne Elemente, die andere Architekturfotografen abbauen, wenn sie Denkmale fotografieren, werden hier in die Bilder integriert. Man könnte also durchaus behaupten, dass es in der Denkmalinventarisation immer auch eine Kehrseite in künstlerischer Form gibt.