Throwing Stones (Hotel Diaries 3, 2004, 11 Minuten, Video, Farbe, Ton)
Das Alltägliche in ein Erzählgeflecht knüpfend, spricht John Smith, von seinem Hotelzimmer im schweizerischen Winterthur aus, über die weltpolitische Lage im November 2004 und setzt sich in Beziehung zu ihr. Die Erzählung beginnt – aus dem Off –, während die Kamera aus dem Fenster auf eine einsame Straße in der Nacht blickt, erleuchtet allein durch eine Laterne:
„About a week and a half ago now George Bush was reelected as President of the United States. A few days ago the major attack on Fallujah started within which it’s estimated that there are probably about 100 000 civilians trapped while the Americans are attacking with men’s force… And today Yasser Arafat was buried in Ramallah.“
Plötzlich, die Erzählung unterbrechend, bewegt sich die Kamera – sie erhebt sich regelrecht. Wie eine Art Rückversicherung, dass es sich hier tatsächlich um eine subjektive Einstellung handelt, ragt eine Hand ins Bildfeld und schließt das Fenster, während die Stimme aus dem Off sagt: „I just close this window.“ Was uns dabei zu sehen gegeben wird, ist die Indexikalität einer Hand, die auf das Subjekt John Smith verweist. Dieser ist dadurch nicht mehr nur als Acousmetre (Michel Chion) im hörbaren Raum anwesend, sondern ragt in die Kadrage hinein. Die acousmatische Situation aber bleibt bestehen, Ton und Bild sind weiterhin voneinander getrennt. Smith wird sich nicht direkt vor der Kamera zeigen, wir werden seinen Mund nicht sprechend zu sehen bekommen.
Überhaupt scheint sich hier vieles beinahe aleatorisch zu verbinden, was pausenlos die Frage nach der Provenienz aufwirft: Evoziert das Bild die mündliche Rede oder umgekehrt? Speist sich die Erzählung aus den Bildern und Objekten vor der Kamera oder geraten sie in den Fokus, weil die Erzählung schon besteht? Improvisiert Smith? Throwing Stones präsentiert sich sehr wohl als eine Art unredigierter Tagebucheintrag. Assoziativ meandernd. Immer wieder wirkt die Kameraeinstellung wie der Blick ins Leere, um dann, wie zufällig, Gegenstände in den Fokus und damit in die Aufmerksamkeit zu rücken. Dies geschieht manchmal ganz offensichtlich mit dem Indexfinger, der bspw. auf ein Bild der Hotelbroschüre zeigt, manchmal unvermittelt durch die Kamera, die durch die Annäherung an ein Objekt selbst zum Fingerzeig wird.
Doch scheinen die Objekte, die vor die Kamera geraten, die Lesart einer freien Assoziation zu durchkreuzen, weil sie die Erzählung Smiths komplementieren bzw. illustrieren und damit den Bildraum in ein Kommentarfeld zu verwandeln scheinen: Das Bett, auf das der Kamerablick fällt, als Smith vom Tod Arafats spricht. Oder das Filmen des Hotelzimmerbodens, gerahmt durch Wand und umherstehende Möbel, zur Verengung des Blickfeldes, als Smith sich fragt, „what it must be like to be trapped in a place.“ So versteht Smith die Tatsache, dass er sich versehentlich selbst aus dem Hotel ausgesperrt hat, als „reverse incarceration experience“ und setzt sie damit in Bezug zur palästinensischen Situation oder zu den 100 000 Zivilisten in Fallujah – die Weltpolitik affiziert die Erzählung des Alltäglichen.
Während Smith ausgeschlossen ist, versucht er sich Zugang zum Hotel zu verschaffen. Ein Taxifahrer schlägt vor, Steinchen gegen das einzige beleuchtete Fenster des Hotels zu werfen, so dass jemand auf ihn aufmerksam wird. Doch die Frage taucht auf, ob es sich hier eventuell um sein eigenes Zimmer handelt: „I had a sneaking suspiscion that it was, so we didn’t actually throw any stones. And when I got back into the hotel I discovered that indeed it was my room. I had left the lights on before I went out, but… Anyway, at least I didn’t waste any time trying to wake myself up to let me into my room.“ Auch diese Erzählung ließe sich als Prinzip bzw. als Metapher für die Funktionsweise des Videos begreifen: Immer wieder wirft Smith sich selbst Steine ans Fenster, weckt sich selbst auf, lässt sich selbst herein, erinnert sich, assoziiert, schließt narrative Kreise, die kafkaesk anmuten, weil sie Zusammenhänge behaupten, die inhaltlich kontingent miteinander verknüpft sind: logisch, aber zugleich nicht notwendig. Gefangen in einem Zirkel, der sich Welt nennt, läuft er in seinem kleinen Hotelzimmer in Winterthur umher und erzählt, wandert von Bedeutung zu Bedeutung. Smiths Prinzip der Montage ist imaginär und kommt ohne einen einzigen Schnitt aus: Gegen Ende des Videos spricht Smith von einem anderen Hotelzimmervideo, das er 2001 gemacht habe, als die USA und Großbritannien als Reaktion auf 9/11 anfingen, Angriffe auf Fallujah zu fliegen: „the curious thing is that in this hotel room here, that I’m in today, there’s an image on the wall, a poster of the Art Institute of Chicago which is actually the place where I was staying […] on September the 11th.“ Er filmt das Poster und beschreibt eine Spiegelung, die darauf zu sehen ist, und durch die sich ein Chicagoer Hochhaus in der Fensterfront eines Ladens doppelt: „In this pic Chicago has it’s own twin towers“. Damit schließt er das letzte Mal einen narrativen Kreis, um das Video mit einer ausgesprochenen Unsicherheit enden zu lassen. Die Abfolge von sich ähnelnden Ereignissen, die sich in der Videoarbeit zugleich als Ursache des Folgenden bzw. Wirkung des Vorhergehenden generieren, ragt mit der einfachen Frage „What happens next?“ in die Zukunft hinein.
Dad’s Stick (2012, 5 Minuten, HD Video, Farbe, Ton)
Wörter, Sätze auf Farbe. Zuerst auf Farbschichten, gemasert wie die Lebensringe eines Baumes. Schließlich monochrome Bildflächen: kräftige Variationen und trübe Nuancen von Grün, Blau und Braun oder feine Abstufungen aus dem Pastellfarbspektrum. Farbfolgen, die von den gestalterischen Vorlieben John Smiths Vater erzählen, den die begleitenden Wörter und Sätze als präzisen Maler charakterisieren: „his edges were exquisite“. Auch singt Smith, in Reminiszenz an seinen Vater, leicht abgewandelte Formen von bekannten Liedern. So verändert er bspw. die Farbnuancen von The Red Flag: „The workers flag is only pink and not as red as you might think.“
John Smiths Dad’s Stick ist eine aneinandergereihte Projektion von Fotografien. Bewegungen entstehen nur imaginiert durch die Tonspur, die den Standbildern etwas Organisches verleiht, und durch die sich die Schnitte, die Bildwechsel, hin und wieder mit den Geräuschen auf der Tonspur zu synchronisieren scheinen. Auch werden der Kamera Objekte zur Ansicht gegeben: Eine Tasse, in der der Vater seine Farben mischte oder ein Lineal, das er bei der Arbeit mitgehen ließ, als er gekündigt wurde. Das letzte Objekt des Filmes ist einer der Stäbe, mit denen er die Farben verrührte. Der Vater selbst hatte ihn im Querschnitt zerteilt und so die verschiedenen Farbschichten hervortreten lassen, die von seinen farblichen Vorlieben noch heute erzählen – wie die Lebenslinien eines Baumstammes im Querschnitt. Smith erweckt den Vater über die Versammlung von Anekdoten und Objekten zum Leben. Er fügt Fragmente in eine audiovisuelle Erzählung, die die Zusammensetzung als Form erfahrbar macht: Die Verstorbenen hinterlassen nichts weiter als vereinzelte Spuren und es ist lediglich das Bedürfnis der Lebenden, sie in eine konsistente Erzählung zu fügen.
The Black Tower (1985–1987, 24 Minuten, 16mm, Farbe, Ton)
Aus dem Schwarz heraus und in das Schwarz hinein. The Black Tower ist ein durch Schwarzblenden strukturierter Film. Diese erzeugen Pausen, lassen den Ton aus dem Off intensiver an das Ohr dringen, trennen das Bild immer wieder von diesem, schaffen Imaginationsräume. Schwarz. Der Ton setzt ein und die Stimme des Erzählers protokolliert aus dem Off ziemlich detailliert die Situation, in der dieser den schwarzen Turm das erste Mal zu Gesicht bekommt. Der schwarze Turm, der ihn von da an zu verfolgen scheint, immer wieder auftaucht, auch wenn seine Erzählung dies als topologische Unmöglichkeit erscheinen lässt: Der Turm hinter einer Häuserzeile, der Turm hinter einer Gefängnismauer, der Turm innerhalb eines Fabrikareals, der Turm zwischen Wohnhäusern oder der Turm hinter einem Kirchdach – dies aber, so versichert der Erzähler, immer Meilen weit voneinander entfernt. Der Turm als Hirngespinst. Der Turm als Allgegenwärtiges, als etwas, das immer schon wartet. Aber auch der Turm, der stets verschwunden sein kann, wenn der Erzähler ihn erneut aufsuchen möchte. So hat niemand, außer dem Protagonisten selbst, den Turm jemals gesehen.
So wird The Black Tower zu einer Art Kulešov-Effekt der Sprach-Bild-Relation: Die mündliche Rede greift interpretativ in das Bildmaterial ein, macht die Bilderfolgen narrativ plausibel, um dann allerdings herauszustellen, dass die Aufnahmen vom Turm pathologisch, Bilder einer Wahnvorstellung, waren. Deshalb gibt die Erzählung nicht nur vor, dass die Existenz des Turmes angezweifelt werden muss, vielmehr gerät durch die Worte, die im kinematographischen Normalfall das Bild rückversichern sollten, das Erzählen selbst mehr und mehr in den Bereich des Unzuverlässigen. Das Wort wird so als Ort hermeneutischen Rauschens markiert und verliert sogleich seine Deutungshoheit. Die Erzählung ist hier kein Bindeglied zwischen den Schnitten. Zumindest nicht mehr als die verunsichernden Bilder selbst.
Neben dem gesprochenen Wort arbeiten aber auch die Bilder gegen die Evidenz des Gezeigten, so bspw. durch den simplen kinematographischen Trick, in ein und derselben Einstellung einen Wohnturm immer wieder verschwinden und auftauchen, verschwinden und auftauchen zu lassen: Da – Schnitt – fort – Schnitt – da. Aber Smith belässt es nicht dabei, sondern fügt der Aufnahme des Turms eine Aufnahme hinzu, die den Zauber des Montage-Tricks auflöst und die Bildfolge erzählerisch nachvollziehbar macht: Zwischen da und weg befindet sich eine Sprengung. Der Turm geht in Rauch auf und kollabiert. Es geht hier aber nicht um die bloße Genese eines Montage-Effektes, sondern um die Genese von Unsicherheiten unter Bedingungen des Kinematographischen. Ein anderes Beispiel: Schwarz, Dunkelbraun, Schwarz, Karminrot, Schwarz, Olivgrün, Gelbweiß, Taubenblau – die Farbfolge taucht zu Geräuschen auf der Tonspur auf, zum Klingeln des Weckers, Knistern des Feuers, Gießen von Flüssigkeit, Küchengeklapper… Dann beschreibt der Erzähler die Abfolge von morgendlichen Handlungen als Farbroutine. Die Farbfolge wiederholt sich wie zuvor, wird nun aber einer Handlung zugeordnet, die der Erzähler mit Worten beschreibt: Er macht Feuer, er gießt Saft in ein Glas, er wäscht ab… Schließlich wird jede Farbe an einen Gegenstand rückgebunden: Das Schwarz stellt sich als Schwarz eines dunklen Raumes heraus, das Olivgrün als Olivgrün einer Tasse, das Taubenblau als Taubenblau einer Küchenarbeitsplatte usf. Diese dreifache Wiederholung ist nicht als Plausibilisierung eines zuvor als unzuverlässig markierten Erzählers zu verstehen, vielmehr ist die Farbfolge zur narrativen Instanz der Sequenz geworden und ersetzt so den Erzähler. Auf Schwarz folgt Karminrot, folgt Schwarz. Die Wiederholung macht die Folge evident. So gehen die auf dem Filmstreifen voneinander getrennten Ton- und Bildspuren in The Black Tower ungewöhnliche Verbindungen miteinander ein – oder vielmehr: Sie zeitigen auf der jeweils anderen Spur Effekte und erzählen dabei wie nebenher vom arbiträren Zusammenhang von Bild und Ton in der Kinematographie.
So werden hier Medien – in ihren Funktionsweisen – erkennbar; und die Sprache ganz offenkundig performativ. Der Erzähler sagt, es sei schon dunkel: Schwarzblende. Er sagt, es dämmert: Das Bild wird abgeblendet. In gleicher Weise verhalten sich auch nonverbale Klänge auf der Tonspur zum Bild, etwa wenn jeder hörbare Schritt (das Rennen des Protagonisten) an ein neues Bild gekoppelt wird, wenn jeder Tritt einen Schnitt verursacht. Umgekehrt haben aber auch die Bilder eine Auswirkung auf die mündliche Rede: Nach der Sprengung eines Hauses steigt Rauch um die Ruinen des Gebäudes herum auf, während der Erzähler von Rauch in seinem Zimmer berichtet. Dass der Erzähler auf dem Höhepunkt seiner Paranoia die Töne des Krankenwagens mit denen des Eiswagens verwechselt („[I] wondered why it was playing a different tune.“) ist daher symptomatisch für den gesamten Film, der selbst ver-rückt ist oder ver-rückend wirkt. Der Wahnsinn in The Black Tower lässt sich damit weniger auf das Individuum des unzuverlässigen Erzählers zurückführen, als vielmehr auf die Medienpathologie des Films selbst. Alles steht in medialer Korrelation und lässt jeden Versuch eines hermeneutischen Zugangs als paranoid erscheinen. Diese Paranoia ist nun ihrerseits nichts anderes als eine interpretatorische Krise, als der Wunsch, Sinn zu stiften, wo die Hoffnung darauf längst verloren ist.
Wenn der Erzähler gegen Ende des Films in die Dunkelheit des schwarzen Turmes tritt, ist dies also nicht als eine bloße Metapher für den Tod des Protagonisten (den wir nie zu Gesicht bekommen) zu verstehen, sondern als mediales Ereignis. In Standbildern nähert sich die Kamera dem Eingang des Turmes und suggeriert das erste Mal einen Point-of-view-Shot. Metaphorisch gesehen, fallen hier Bild und Ton zusammen, zwei Wirklichkeiten, die nicht zusammenfallen können, was im Übrigen nichts Anderes zur Folge hat als den Tod der Erzählerstimme. Zuletzt kehrt der Film in die paranoide Ausgangssituation zurück – und zwar mit einer neuen Erzählerstimme.