Rein provisorisch – ein Kommentar

Ausgabe #4
November 2015
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Rein provisorisch. Einige Gedanken zum Thema.

Im Duden-Online-Wörterbuch wird „provisorisch“ als „Notbehelf, [der] nur zur Überbrückung eines noch nicht endgültigen Zustands“ 11Bibliographisches Institut GmbH, Dudenverlag (Hg.), Art. „pro­vi­so­risch“, unter http://www.duden.de/node/642128/revisions/1363325/view, abgerufen am 28.8.2015 dient, beschrieben. Dennoch sind nicht alle Notbehelfe Provisorien. Manche bleiben in diesem Stadium. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Performance-Bereich:

18 Uhr. Soundcheck. Besser Technikcheck. Es gilt ein hochkompliziertes System bestehend aus zwei Motion-Tracking-Systemen einzurichten, mit denen per Kamera Bewegung eingefangen werden und dadurch zum einen Ton und zum anderen Visuals gesteuert werden sollen. Der Tänzer wärmt sich schon mal auf, während zwei Personen emsig Kabel verlegen, Kameras justieren oder zwischen Trackingbereich und Laptop hin und her springen. Der Raum, Souterrain, ist geräumig und einigermaßen hell erleuchtet. Nach gut einer Stunde ist alles eingerichtet, die Probe kann beginnen. Inzwischen sind auch die beiden Musiker eingetroffen und spielbereit. Erste Tests zeigen: Laut ist es, nur das Licht gefällt nicht. Weniger Licht wäre viel schöner, aber dann reicht es für die Kameras nicht. Da die nächste Band bereits anfängt ihr Equipment in die Motion-Tracking-Fläche zu stellen, wird der Soundcheck beendet. Während die anderen Besetzungen ihre Instrumente und zugehörige Technik aufbauen, beäugen die fünf Mitglieder der ersten Gruppe skeptisch den rasant schwindenden Platz. So können die Kameras also nicht bleiben. Naja, Zeit zum Nachjustieren ist ja noch…

Um 21 Uhr kommt die letzte Besetzung an. Der Raum ist inzwischen komplett voll, der für das Tracking eingerichtete Bereich wird von einem DJ-Pult auf der einen und bereits am Boden sitzendem Publikum auf der anderen Seite okkupiert. Das Licht ist stark gedimmt.

Gegen Mitternacht geht plötzlich das Hauptlicht an, es beginnt der Slot für die letzte Gruppe. Der Raum ist inzwischen so voll, dass kaum Bodenfläche zu sehen ist, an eine freie Fläche ist kaum zu denken. Spontan werden alle Zuschauer gebeten, kurz den Raum zu verlassen. Das Ensemble kommt sonst an die vorbereitete Technik nicht mehr ran. Als der Raum sich 15 Minuten später wieder mit Publikum füllt, stehen zwei kurzfristig zusammengebastelte Motion-Tracking-Systeme für die Performance zur Verfügung. Kurzerhand wurde der gesamte Aufbau und das Licht geändert, die Trackingfläche verringert und die Systeme ohne Tests „blind“ eingerichtet. Die Performance kann beginnen.

Obwohl es sich beim technischen Aufbau dieser Performance sehr wahrscheinlich um einen Notbehelf handelt, würde ich das Set-up nicht als provisorisch bezeichnen. Doch was unterscheidet es von einem Provisorium? Gerade wenn aktuelle Technologien in Echtzeit im Einsatz sind, wird an der Einrichtung oder der Programmierung oft bis kurz vor der Aufführung gearbeitet, in manchen Fällen werden noch Änderungen zwischen den Aufführungen oder sogar während derselben vorgenommen. Auch hier treffen alle Kriterien für einen provisorischen Aufbau zu. Warum scheint es dennoch unpassend? Ein Aspekt könnte sein, dass zu einem Provisorium auch immer ein endgültiger, zu Beginn bereits bekannter End-Zustand gehört.

Was aber, wenn der Prozess das Zentrale ist, etwas also eigentlich nie fertig werden kann oder soll? Improvisation oder Ad-hoc Komposition, Flow oder spontanes fixieren einer Komposition, Musiker oder Komponist, oder doch beides? Ist es für die Betrachtung z.B. der jeweiligen Performance wichtig, ob es so als „fertig“ beabsichtigt war oder eigentlich ganz anders sein sollte? Und andersherum, wie geht das Publikum damit um, wenn es sich scheinbar offensichtlich um einen z.B. technischen Notbehelf handelt? Wurde ein Notbehelf inszeniert  oder in Szene gesetzt? Was ist  das faszinierende an diesen in verschiedenen Performance-Formaten herbeigeführten Kippmomenten? Wird dann das Provisorium zum angestrebten Ergebnis, beispielsweise wenn es zwar eine Zielvorstellung gibt, diese aber nie erreicht werden kann? Kann das dann noch als Provisorium bezeichnet werden?

Wenn das so wäre, dann wäre dieser Artikel auch nur provisorisch. Eigentlich sollte es nämlich ein Essay mit einer Fotostrecke zu Provisorien in Paris werden. Da die Fotos zusammen mit der Kamera Opfer eines Diebstahls geworden sind, schreibe ich nun – provisorisch sozusagen  – nicht über die Provisorien, die ich bereits in Paris fotografiert habe, sondern sie sehen als Notbehelf Fotos aus China. Auch hier also wieder die Frage, kann etwas als provisorisch bezeichnet werden, wenn es sich zwar um eine temporär eingegrenzt gültige Zwischenlösung handelt, es für das eigentliche Anliegen aber kein zu erreichendes Endresultat gibt? Oder haben sie den Artikel ohnehin nur rein provisorisch gelesen?

Miriam Akkermann, Januar 2015, Chengdu, China
Miriam Akkermann, Januar 2015, Chengdu, China
Miriam Akkermann, Januar 2015, Chengdu, China

    Fußnoten

  • 1Bibliographisches Institut GmbH, Dudenverlag (Hg.), Art. „pro­vi­so­risch“, unter http://www.duden.de/node/642128/revisions/1363325/view, abgerufen am 28.8.2015
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