Das großformatige, querrechteckige beidseitig bedruckte Ausstellungsplakat ist ein künstlerisches Manifest. In ihm legt die polnische Künstlerin Maria Pinińska-Bereś in Bild und Text die Eckpfeiler ihrer Praxis fest: Die Bildsequenzen zeigen zwei Performances von 1979. In einem ersten Schritt Przejście poza kołdrę [Gang über die Decke] – löst sich die Künstlerin von ihrer bildhauerischen Praxis. Im zweiten Schritt – Sztandar Autorski [Die Fahne des Autors] – besetzt sie einen neuen Raum, nämlich die Natur. Die pink- und rosafarbenen, weichen und selbstgenähten Stoffarbeiten, die sie in der ersten Performance mit jedem Schritt über die Decke abwirft, werden in der zweiten durch eine – ebenfalls pinkfarbene – Fahne ersetzt.
Die Rückseite des Plakates ist kontrastierend als Textseite gestaltet: Handschriftlich beschreibt sie die Performance Przenośny Pomnik pt. „Miejsce“ [Ein bewegliches Denkmal unter dem Titel „Der Platz“]. Der maschinenschriftliche Text auf der rechten Seite erläutert die künstlerische Entwicklung von Pinińska-Bereś: „Charakteristisch ist die Wahl der von mir eingesetzten Farben: neutrales Weiß und signalhaftes Rosa. […] Der Einsatz war inhaltlich begründet und bezog sich auf mein Interesse an der Frauenthematik bzw. Geschlechterproblematiken in den Jahren 1965–1977.“11Maria Pinińska-Bereś, Ausstellungsplakat, Sztuka Kobiet [Kunst von Frauen], Galeria O.N., Posen 1980. Quelle: Dokumentacja Plastyki Współczesnej Instytut Sztuki Polskiej Akademii Nauk [Dokumentation der zeitgenössischen Bildenden Kunst des Kunstinstituts der Polnischen Akademie der Wissenschaften], Warschau, Personalakte.
Das Plakat wurde für die Ausstellung Sztuka Kobiet [Kunst von Frauen] gestaltet. 1980 in Posen in der Galeria O.N. organisiert, gilt sie als erste dezidiert feministische Ausstellung in der Volksrepublik Polen (VRP), bei der ausschließlich polnische Künstlerinnen präsentiert wurden.22Jakubowska, Agata: “No Groups but Friendship. All-Women Initiatives in Poland at the Turn of the 1980s”, in: Dies./ Deepwell, Katy (Hg.): All-Women Art Spaces in Europe in the Long 1970s, Liverpool 2018, S. 229-247. Natalia LL, Ewa Partum, Anna Kutera und Teresa Tyszkiewicz waren eingeladen. Die Leiterinnen der Galerie, Izabella Gustowska und Krystyna Piotrowska, stellten ebenfalls aus. Maria Pinińska-Bereś nahm zahlen- und platzmäßig mit Abstand den größten Raum in der Ausstellung ein. Mit ihren sogenannten Psycho-Möbeln – eben den erwähnten rosa-weißen weichen Stoffobjekten – wurde sie als Wegbereiterin polnischer Frauenkunst inszeniert.
An dieser Stelle könnte die Geschichte enden. Gut, könnte man denken, eine weitere, weitgehend unbekannte Künstlerin wird in den Kanon feministischer Kunst eingeschrieben. Rosa, weiche Stoffobjekte, die Suche nach einem weiblichen Ausdruck, die Nähe zur Natur – das klingt nach feministischer Kunst der 1970er Jahre, die heute als essentialistisch motiviert beschrieben wird.
Die Geschichte ist aber nicht vorbei, sondern fängt gerade hier an, denn Pinińska-Bereś ist, wie erwähnt, eine polnische Künstlerin – die zudem im sozialistischen Polen arbeitete und bis auf eine Ausstellung 1979–1980 in den Niederlanden – die Feministische Kunst Internationaal – weitgehend unsichtbar außerhalb der Volksrepublik geblieben ist. Die Geschichte fängt genau an dieser Stelle an, da hier die Frage einer feministischen Kunst im sozialistischen Ostmitteleuropa verhandelt wird.
Als ich mich vor über einem Jahr für das Verb „einschreiben“ entschieden hatte, ging es mir vor allem darum, das Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Distanz von ostmitteleuropäischer zu westlicher Kunst aufzuzeigen: Einerseits getrennt durch den Eisernen Vorhang und unter der Diktion des sozialistischen Realismus entwickelte sich die Kunst in Polen gerade in den 1970er Jahren durch intensive Kontakte ins westliche Ausland – (Stichwort: Gierek-Ära). Der Eiserne Vorhang wurde löcherig – bzw. löchriger, denn so hermetisch, wie kurz nach der Wende beschrieben, schien er nicht gewesen zu sein: Studien von Matilde Arnoux zum Realismusbegriff in Ost- und Westeuropa (Frankreich-DDR-Polen), von Klara Kemp-Welch zu den Netzwerken experimenteller Künstler_innen oder von Gregor H. Lersch zu den internationalen Kulturkontakten der DDR zeigen die zahlreichen und vielfältigen Verflechtungen dies- und jenseits der Blockgrenze.33Arnoux, Mathilde: La réalité en partage. Pour une historie des relations artistiques entre l’Est et l’Ouest en Europe pendant la guerre froide [Die Realität zum Teilen. Für eine Geschichte der künstlerischen Beziehungen zwischen Ost und West in Europa während des Kalten Krieges], Paris 2018. Kemp-Welch, Klara: Networking the Bloc.
Experimental Art in Eastern Europe 1965-1981, Cambridge (Mass.), London 2018. Lersch, Gregor H.: „Art from East Germany?“ Die internationale Verflechtung der Kunst in der DDR. Ausstellungen, Rezeption im Ausland, Transfers, Frankfurt (Oder) 2021, URL: https://opus4.kobv.de/opus4-euv/frontdoor/deliver/index/docId/906/file/Lersch_Gregor_H.pdf (letzter Zugriff 06.05.2021) Auch der Feminismus fand seinen Weg hindurch – in meiner Arbeit zeige ich anhand vieler Quellen die intensive Auseinandersetzung: zahlreiche Kontakte und Ausstellungsbeteiligungen wie Pinińska-Bereś und Natalia LL an der Feministische(n) Kunst International, die Präsenz von Natalia LL in einer Reihe von feministischen Ausstellungsprojekten und Publikationen um 1975,44Bsp. Frauen-Kunst. Neue Tendenzen, Ausstellung 1975, Galerie Krinzinger, Innsbruck; Magma, Ausstellung 1975, Brest; Frauen machen Kunst, Ausstellung 1976, Galerie Magers, Bonn; Titelbild von Heute Kunst. Internationale Kunstzeitschrift. Sondernummer: Feminismus und Kunst 9 (1975), Beitrag mit Abbildungen in Flash Art2 (1975), S. 45. Texte der Künstlerin und des polnischen Kunstkritikers und Philosophen Stefan Morawski55Natalia LL: Feminist Tendencies (1977), in: Natalia LL: Texty Natalii LL. Texty O Natalii LL [Texte von Natalia LL. Texte über Natalia LL], Bielsko-Biała 2004, S. 320–324. Morawski, Stefan, Neofeminizm w sztuce [Neofeminismus in der Kunst], in Sztuka[Kunst] 4 (1979), S. 55–63. – um nur einige Beispiele zu nennen.
Kurzum: es ging mir damals darum, den Grundtenor polnischer Kunstgeschichtsschreibung auszuhebeln, der folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Feministische Kunst hätte es im Sozialismus nicht geben können, da es keine (massenbewegte) Frauenbewegung und damit keinen feministischen Diskurs gab. Arbeiten der genannten Künstlerinnen werden – lediglich als proto- oder pseudo- oder als latent feministisch beschrieben.66Stellvertretend: Pejić, Bojana (Hg.): Gender Check: A Reader. Art and Theory in Eastern Europe. Art and Gender in Eastern Europe Since the 1960s, Köln 2011. Kowalczyk, Izabela: “Polish Women Artists and Their Art in the 1970s and 1980s – between Pleasure and Oppression“, in: Lady in the Mirror. Female Art Strategies in the 1970s, Ausst.-Kat., Galeria Piekarny, 23.06.2017–25.09.2017, Poznan 2017, S. 30–45 . Anstelle dieser Abgrenzung, des Ausschlusses oder gar der Negation wollte ich ein selbstbewusstes Zeichen setzen, dass den feministischen Diskurs in Polen – wohlgemerkt bereits in den 1970er Jahren – sichtbar macht – ihn also in den Kontext internationaler Feminismen einschreibt. Das Quellenmaterial, also die künstlerische Praxis – die auch schriftliche und mündliche Äußerungen umfasst – legt diese Schlussfolgerung nahe. Methodisch und theoretisch kann ich an Piotr Piotrowski anknüpfen, der das Konzept der Horizontalen Kunstgeschichte entwickelte und damit dem Ansatz der Zentrum-Peripherie-Dichotomie mit seiner qualitativen und zeitlichen Hierarchisierung ein historisch korrekteres Analysemodell der Gleichzeitigkeit entgegenstellt.77Piotrowski, Piotr: “Towards a Horizontal Art History”, in: Brue, Sascha (Hg.): Europa! Europa? The avant-garde, modernism and the fate of a continent, Berlin 2009, S. 49–58. Ders., In the Shadow of Yalta. Art and the Avant-Garde in Eastern Europe, 1945-1989, London 2009 (poln. Erstausgabe Posen 2005). Heute spitze ich die Formulierung der Gleichzeitigkeit zu, denn: Mit neueren Studien zur internationalen Frauenbewegung, mit besonderem Fokus auf die sozialistischen Frauenorganisationen, lässt sich formulieren: Die Kunstentwicklung nach 1945 ist nur in der gegenseitigen Verflechtung von Ost- und Westblock zu denken – und dementsprechend ist auch die feministische Kunstentwicklung nur zu denken in dieser Gegenbezüglichkeit, in dieser Dialog- oder auch Konkurrenzstruktur.
Dieses Denken ist nicht so einfach umzusetzen, wie es hier anklingen mag, denn es stellt eine scheinbare Allgemeingültigkeit, ein „common knowledge“ infrage. Zwar hat Larry Wolff in seiner Studie Inventing Eastern Europe bereits Mitte der 1990er Jahre die Konzeption Ostmitteleuropas überzeugend entlarvt.88Wolf, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1996. Trotzdem hält sich eine Überzeugung, die im größeren Kontext der Ostmitteleuropaforschung das Paradigma der Nachgerichtetheit und der Epigonalität des (kulturellen) Raumes östlich der Oder weiterhin bedient. Um sich meinem Thema, der Frage nach einer polnischen feministischen Kunst neu, unverbraucht und historisch gerechter zu widmen, also auch der immer wieder behaupteten Nachträglichkeit und Unzulänglichkeit zu entkommen – müssen drei Faktoren erfüllt sein:
1.) Der angesprochene Paradigmenwechsel hin zur Gleichzeitigkeit anstelle der Nachgerichtetheit kann theoretisch und methodisch anknüpfen an neueste Studien, welche die Entwicklung des (globalen) Feminismus im Kontext des Kalten Krieges verankern. Kristen Ghodsee verfolgt die Verflechtungen zwischen Bulgarien und Sambia, Francisca de Haan analysiert anhand der UN-Frauenkonferenzen (Mexico 1975) die historischen Debatten.99Ghodsee, Kristen: Second World. Second Sex. Socialist Women’s Activism and Global Solidarity during the Cold War. Durham, London 2019. de Haan, Francisca: “Continuing Cold War Paradigms in Western Historiography of Transnational Women’s Organisations: The Case of the Women’s International Democratic Federation”, in: Women’s History Review 4 (2010) S. 547–573, DOI: 10.1080/09612025.2010.502399. Magdalena Grabowska hat für die Volksrepublik Polen eine grundlegende Studie zu abgerissenen Traditionslinien vorgelegt.1010Grabowska, Magdalena: Zerwana genealogia. Działalność społeczna i polityczna kobiet po 1945 roku a współczesny polski ruch kobiecy [Zerrissene Genealogie. Die soziale und politische Aktivität von Frauen nach 1945 und die heutige polnische Frauenbewegung], Warszawa 2018. In den Studien wird durchgängig die Top-Down-Frauenpolitik sozialistischer Staaten auf positive Ausformulierungen für das Selbstverständnis der Frauen hin befragt. Dieses neue Forschungsdesign lässt demnach das Denken positiver Auswirkungen sozialistischer Frauenpolitik zu.
2.) Zweite Welt als Forschungslücke
Der hegemoniale Anspruch des westlich-liberalen, hauptsächlich US-amerikanischen Feminismus‘ wird vor allem in der postkolonialen Theorie infrage gestellt. In den meisten Studien bleibt der ostmitteleuropäische, staatssozialistische Raum jedoch eine Leerstelle. Vergessen wird die besondere Situation europäischer sozialistischer Staaten – die als Zwischenraum zwischen dem (kapitalistischen) Westen und dem (postkolonialen) Süden fungieren. Diese Scharnierfunktion muss in künftigen Analysen stärker in den Blick rücken.1111Vgl. Stegmann, Natali: „Die osteuropäische Frau im Korsett westlicher Denkmuster. Zum Verhältnis von osteuropäischer Geschichte und Geschlechtergeschichte“, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 7 (2002), S. 932–944.
3.) Lokale Spezifik als eigenständige Lesart
Die Kunstwelt in der Volksrepublik Polen ist eine eigene, fast hermetisch abgeschlossene Sphäre – so haben es Wissenschaftler_innen immer wieder beschrieben und auch meine Analyse stützt diese Einordnung.1212Piotrowski 2009, Nader, Luiza: Konceptualim w PRL’u [Konzeptualismus in der VRP],Poznań 2009, Ronduda, Łukasz: Polish Art of the `70s. Avantgarde, Warsaw 2009. Die feministische Auseinandersetzung fand hier innerhalb der Kunst(szene) statt, also in Auseinandersetzung mit dem kunst(theoretischen) Diskurs.
Dieser Bezug wird bei Pinińska-Bereś deutlich, wenn sie sich kritisch zur Bildhauertradition verhält und ihre weiblich konnotierten bunten Stoffobjekte schafft,1313Diese waren auch zu sehen auf der Sztuka-Kobiet-Ausstellung, siehe Jakubowska 2018, Krüger, Constance: „Rosa Zimmer und Kressekleid oder ‚Do-it-yourself‘ als Selbstbehauptung – Künstlerische Strategien bei Maria Pinińska-Bereś und Teresa Murak“, in: Czerney, Sarah/ Eckert, Lena/ Martin, Silke (Hg.): DIY, Subkulturen und Feminismen, Hamburg 2021, S. 48–81. dies wird bei Natalia LL deutlich, wenn sie in einer Fotoserie mit beigefügtem Text sowohl auf das Manifest der Künstlergruppe PERMAFO eingeht (der sie selbst angehörte) und in ihrer Bildsprache geschlechtsstereotype Konventionen bricht.1414Ich spiele hier auf ihre Arbeit Zdania Kategoryczne w sferze sztuki post-konsumpcyjnej, październik 1975 [Kategorische Sätze im Bereich der Post-Konsum-Kunst, Oktober 1975] an. Sie wurden u.a. 1976 auf der die Krakauer Grafikbiennale begleitenden Ausstellung Protografia und 1978 auf der Biennale São Paulo präsentiert.
Vgl. Krüger, Constance: “Natalia LL : Reading Categorical Statements from the Sphere of Post-Consumer Art, October 1975 as a Programmatic Self-Portrait”, in: Kamola, Jadwiga (Hg.): Artist Complex. Images of Artists in Twentieth-Century Photography, Berlin, Boston 2021, S. 147–164 (im Druck). Feministische Positionen sind Teil dieses Kunst-Diskurses. Sie schreiben sich in diesen direkt ein. Gleichzeitig schreiben sich die Arbeiten in die Feminismusdebatte ein, die durch den Eisernen Vorhang hindurch in Westeuropa geführt wurde – und unter ganz anderen Vorzeichen stand. So verwundert es nicht, dass Pinińśka-Bereś irritiert gewesen ist vom aktivistischen, teils polemischen und agitatorischen Charakter einiger Arbeiten ihrer westlichen Kolleginnen, die in der Ausstellung Feministische Kunst Internationaal zu sehen waren. Kunst müsse sich mit ästhetischen Fragen beschäftigen, so die Künstlerin.1515Pinińska-Bereś, Maria: “Jak to jest z tym feminizmen? [Wie ist es nun mit diesem Feminismus?] (1998)“, in: Ciecielska, Jolanta/Smalczerz, Agata (Hg.): Sztuka kobiet [Kunst von Frauen], Bielsko-Biała 2000, S. 194–195, hier S. 195. Hierin zeigt sich die unterschiedliche Auffassung dessen, worauf sich feministische Kunst kritisch beziehen soll: einerseits auf die Gesellschaft, andererseits auf das Kunstfeld. Diese grundlegende divergierende Konzeption feministischer Kunst macht es wohl heute so schwierig, die Arbeiten polnischer Künstlerinnen als feministisch zu bezeichnen – ein Problem, das sich nicht aus der künstlerischen Praxis heraus ergibt, sondern zurückzuführen ist auf den Standpunkt der Forscher_in mit den jeweiligen Vorannahmen.
Die Frage ist also nicht, inwiefern es feministische Kunst in Polen gegeben hat (ich erinnere an die Zuschreibungen als latent- proto oder pseudo-feministsch), sondern wiesich diese Kunst äußert.
Feministisches Wissen ist, bezogen auf die Untersuchung künstlerischer Praktiken, zunächst ein scheinbar hermetisches, künstlerisch-feministisches Wissen. Ausstellungen der Künstlerinnen und begleitende Presseartikel in Tages- und Wochenzeitungen weisen jedoch den Weg in die Gesellschaft. Andererseits bleibt zu prüfen, inwiefern Errungenschaften sozialistischer Frauenpolitik, wie etwa die Gleichberechtigung bei der beruflichen Ausführung, auch des Künstler_innenberufes, eine ganz andere Ausgangslage als im Westen bereitete. Welches Wissen also implizit in die als rein künstlerische Auseinandersetzung bewertete Praxis einfloss, welches Wissen (emanzipatorischer Frauenpolitik) inkorporiert und in künstlerisch-ästhetischer Form visualisiert wurde, kann aus heutiger Sicht nur vermutet werden.
Zu diesem Zeitpunkt bleibt festzuhalten: Die künstlerischen Praktiken der von mir untersuchten Künstlerinnen arbeiten in doppelter Strategie: Sie beziehen sich erstens stets auf die Debatte um die Kunstentwicklung in der VRP, und zweitens auf die Entwicklung feministischer Kunst in internationaler Dimension. Die polnische feministische Kunst kann hier verstanden werden als ein Scharnier, das beide Debatten miteinander verbindet, sich in beide einmischt. Dies bedeutet aber auch, und das macht sie so interessant und vielschichtig, dass sie Wissenselemente aus beiden Diskursen miteinander verbindet, oder anders herum formuliert: feministische Kunst entwickelt für beide Diskurse anknüpfbare Wissenselemente. Quellenbasierte und auf das konkrete Beispiel fokussierte kunsthistorische Analyse bringt Wissen hervor, welches die Ost-West-Dichotomie zugunsten einer Vielsprachigkeit infrage stellt. Feministische Kunst in der Volksrepublik Polen wird hier verstanden als ein Brennglas des Austauschs, der Vernetzung, der kritischen Abgrenzung. Und so handelt es sich nicht nur um ein Einschreiben in den feministischen Diskurs, sondern in die allgemeine Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
- 1Maria Pinińska-Bereś, Ausstellungsplakat, Sztuka Kobiet [Kunst von Frauen], Galeria O.N., Posen 1980. Quelle: Dokumentacja Plastyki Współczesnej Instytut Sztuki Polskiej Akademii Nauk [Dokumentation der zeitgenössischen Bildenden Kunst des Kunstinstituts der Polnischen Akademie der Wissenschaften], Warschau, Personalakte.
- 2Jakubowska, Agata: “No Groups but Friendship. All-Women Initiatives in Poland at the Turn of the 1980s”, in: Dies./ Deepwell, Katy (Hg.): All-Women Art Spaces in Europe in the Long 1970s, Liverpool 2018, S. 229-247.
- 3Arnoux, Mathilde: La réalité en partage. Pour une historie des relations artistiques entre l’Est et l’Ouest en Europe pendant la guerre froide [Die Realität zum Teilen. Für eine Geschichte der künstlerischen Beziehungen zwischen Ost und West in Europa während des Kalten Krieges], Paris 2018. Kemp-Welch, Klara: Networking the Bloc.
Experimental Art in Eastern Europe 1965-1981, Cambridge (Mass.), London 2018. Lersch, Gregor H.: „Art from East Germany?“ Die internationale Verflechtung der Kunst in der DDR. Ausstellungen, Rezeption im Ausland, Transfers, Frankfurt (Oder) 2021, URL: https://opus4.kobv.de/opus4-euv/frontdoor/deliver/index/docId/906/file/Lersch_Gregor_H.pdf (letzter Zugriff 06.05.2021) - 4Bsp. Frauen-Kunst. Neue Tendenzen, Ausstellung 1975, Galerie Krinzinger, Innsbruck; Magma, Ausstellung 1975, Brest; Frauen machen Kunst, Ausstellung 1976, Galerie Magers, Bonn; Titelbild von Heute Kunst. Internationale Kunstzeitschrift. Sondernummer: Feminismus und Kunst 9 (1975), Beitrag mit Abbildungen in Flash Art2 (1975), S. 45.
- 5Natalia LL: Feminist Tendencies (1977), in: Natalia LL: Texty Natalii LL. Texty O Natalii LL [Texte von Natalia LL. Texte über Natalia LL], Bielsko-Biała 2004, S. 320–324. Morawski, Stefan, Neofeminizm w sztuce [Neofeminismus in der Kunst], in Sztuka[Kunst] 4 (1979), S. 55–63.
- 6Stellvertretend: Pejić, Bojana (Hg.): Gender Check: A Reader. Art and Theory in Eastern Europe. Art and Gender in Eastern Europe Since the 1960s, Köln 2011. Kowalczyk, Izabela: “Polish Women Artists and Their Art in the 1970s and 1980s – between Pleasure and Oppression“, in: Lady in the Mirror. Female Art Strategies in the 1970s, Ausst.-Kat., Galeria Piekarny, 23.06.2017–25.09.2017, Poznan 2017, S. 30–45 .
- 7Piotrowski, Piotr: “Towards a Horizontal Art History”, in: Brue, Sascha (Hg.): Europa! Europa? The avant-garde, modernism and the fate of a continent, Berlin 2009, S. 49–58. Ders., In the Shadow of Yalta. Art and the Avant-Garde in Eastern Europe, 1945-1989, London 2009 (poln. Erstausgabe Posen 2005).
- 8Wolf, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1996.
- 9Ghodsee, Kristen: Second World. Second Sex. Socialist Women’s Activism and Global Solidarity during the Cold War. Durham, London 2019. de Haan, Francisca: “Continuing Cold War Paradigms in Western Historiography of Transnational Women’s Organisations: The Case of the Women’s International Democratic Federation”, in: Women’s History Review 4 (2010) S. 547–573, DOI: 10.1080/09612025.2010.502399.
- 10Grabowska, Magdalena: Zerwana genealogia. Działalność społeczna i polityczna kobiet po 1945 roku a współczesny polski ruch kobiecy [Zerrissene Genealogie. Die soziale und politische Aktivität von Frauen nach 1945 und die heutige polnische Frauenbewegung], Warszawa 2018.
- 11Vgl. Stegmann, Natali: „Die osteuropäische Frau im Korsett westlicher Denkmuster. Zum Verhältnis von osteuropäischer Geschichte und Geschlechtergeschichte“, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 7 (2002), S. 932–944.
- 12Piotrowski 2009, Nader, Luiza: Konceptualim w PRL’u [Konzeptualismus in der VRP],Poznań 2009, Ronduda, Łukasz: Polish Art of the `70s. Avantgarde, Warsaw 2009.
- 13Diese waren auch zu sehen auf der Sztuka-Kobiet-Ausstellung, siehe Jakubowska 2018, Krüger, Constance: „Rosa Zimmer und Kressekleid oder ‚Do-it-yourself‘ als Selbstbehauptung – Künstlerische Strategien bei Maria Pinińska-Bereś und Teresa Murak“, in: Czerney, Sarah/ Eckert, Lena/ Martin, Silke (Hg.): DIY, Subkulturen und Feminismen, Hamburg 2021, S. 48–81.
- 14Ich spiele hier auf ihre Arbeit Zdania Kategoryczne w sferze sztuki post-konsumpcyjnej, październik 1975 [Kategorische Sätze im Bereich der Post-Konsum-Kunst, Oktober 1975] an. Sie wurden u.a. 1976 auf der die Krakauer Grafikbiennale begleitenden Ausstellung Protografia und 1978 auf der Biennale São Paulo präsentiert.
Vgl. Krüger, Constance: “Natalia LL : Reading Categorical Statements from the Sphere of Post-Consumer Art, October 1975 as a Programmatic Self-Portrait”, in: Kamola, Jadwiga (Hg.): Artist Complex. Images of Artists in Twentieth-Century Photography, Berlin, Boston 2021, S. 147–164 (im Druck). - 15Pinińska-Bereś, Maria: “Jak to jest z tym feminizmen? [Wie ist es nun mit diesem Feminismus?] (1998)“, in: Ciecielska, Jolanta/Smalczerz, Agata (Hg.): Sztuka kobiet [Kunst von Frauen], Bielsko-Biała 2000, S. 194–195, hier S. 195.