aneignen

Ausgabe #10
Mai 2021
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Themen des Texts

Aneignung

Sich Artefakte oder auch Musikpraktiken aus einem fremden kulturellen Kontext anzueignen, verlangt immer einen Umdeutungsprozess. Jenseits einer Dialektik von „Original und Nachahmung“ sind Prozesse von Aneignung, Appropriation und produktiver Rezeption als performative Antworten auf lokale Bedürfnisse zu verstehen. 

„Aneignen“ ist ein mehrdeutiges Verb. Es bezeichnet unterschiedliche Prozesse des Nachahmens, Übernehmens und Entleihens, die selten trivial sind. Sich etwas anzueignen erfordert eine Entscheidung, die der handelnde Akteur bewusst trifft. Im kulturellen Zusammenhang werden ‚Aneignen‘ und ‚Abwehren‘ oft als Verb-Paar zusammengenannt, weil Prozesse der Aneignung – als Gegenreaktion – Diskussionen um kulturelle Differenz motivieren.

Bei der Betrachtung kultureller Transfers sind häufig Beispiele kultureller Aneignung zu beobachten. Dabei kommt oft die Frage nach dem Verhältnis zwischen kultureller Aneignung und Macht auf. Kann sich jemand Artefakte einer anderen Kultur aneignen, ohne in ein hegemoniales Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie zu geraten? Oder anders gefragt: Kann die kulturelle Aneignung jenseits einer Dialektik von „Original und Nachahmung“ stattfinden?

Bei der Untersuchung lateinamerikanischer Kunstmusik und lateinamerikanischer Avantgarde habe ich gelernt, dass es entscheidend ist, die Motivationen und Interessen der handelnden Akteure zu verstehen. Die Appropriation von kulturellen Artefakten stellt meist eine performative Reaktion auf lokale Bedürfnisse dar. Außerdem motiviert sie Prozesse kreativer Transformation, bei denen die übernommenen Artefakte sogar im subversiven Sinn umgedeutet werden können. Der Akt des Komponierens kann in diesem Zusammenhang mitunter als ein Versuch verstanden werden, persönliche oder lokale Konflikte zu lösen.

Hierzu ein Beispiel: Die lateinamerikanischen Zwölftonkomponisten der 1930er und 1940er Jahre hatten unterschiedliche Probleme zu lösen. Der argentinische Komponist Juan Carlos Paz, der als Pionier der Dodekaphonie in Südamerika gilt, verstand die Aneignung der Zwölftonmethode als eine Form der Identifizierung mit der internationalen Avantgarde. Die Aneignung der musikalischen Avantgarde war bei ihm gleichsam Ausdruck seiner Abwehr gegen national orientierte Musik, die viele seiner argentinischen Zeitgenossen wie etwa Alberto Williams und Carlos López Buchardo kultivierten. Durch die Zwölftonkomposition behauptete sich Paz als Teil einer internationalen Künstlergemeinde und präsentierte eine Alternative zu einer Musik, die Themen, Rhythmen und Melodien der argentinischen Landschaft und eine impressionistische oder neoklassizistische Klangwelt kombinierten. Paz hielt die national orientierte Musik Argentiniens für nicht zeitgemäß. Wir hören ein Fragment einer Zwölftonkomposition von Juan Carlos Paz. Es handelt sich um seine Tercera composiciónen tríoop. 38 aus dem Jahr 1940. Es spielen Elizabeta Birjukova (Flöte), Diego Villela (Oboe) und Jochen Schneider (Fagott). Diese Aufnahme erschien in der Publikation Das Wissen der Arbeit und das Wissen der Künste im Rahmen der Schriftenreihe des DFG-Graduiertenkollegs Das Wissen der Künste.

Bei anderen Komponisten, wie bei dem deutschen Emigranten Hans-Joachim Koellreutter und der von ihm gegründeten Gruppe Música Viva in Brasilien, hatte die Aneignung der Zwölftonmethode eine sozialpolitische Dimension. Wie in anderen Regionen der Welt waren Koellreutter, Cláudio Santoro, César Guerra Peixe, Eunice Katunda und andere Komponisten aus diesem Kreis auf der Suche nach einer Neuen Musik für eine neue Gesellschaft.

Das folgende Klavierstück von Guerra-Peixegehört zu seiner Zwölftonphase. Die brasilianische Pianistin Ana Cláudia Assis spielt den zweiten Satz aus Miniaturas nr.3 von 1948.

Die Überzeugung, dass die Zwölftonmusik eine sozial orientierte Aufgabe erfüllen könnte, geriet jedoch Ende der 1940er Jahre in eine Krise. Cláudio Santoro, der Mitglied der Kommunistischen Partei Brasiliens war, nahm 1948 am Zweiten Kongress der Komponisten und Musikkritiker in Prag teil. Die Ergebnisse des Kongresses, die prägend für die internationale Verbreitung des Sozialistischen Realismus waren, führten bei Santoro und anderen Mitglieder Música Vivas dazu, die soziale Funktion der Zwölftonmusik infrage zu stellen. So erklärte Guerra-Peixe im selben Jahr 1948 in einem Brief:

„Zwölftontechnik: Ich überlege, mich von ihr abzuwenden, um eine für die Mehrheit verständlichere Musik zu schreiben, da man meine Musik nicht aufführen möchte. […] Genug mit dem Warten auf seltene Aufführungen, die den Mut irgendwie aufrechterhalten. Auf diese Weise werden unsere Werke nie eine reale soziale Funktion erfüllen, weil sie nur in der Schublade und in den Unterhaltungen leben. Ich weiss nicht, ob ich richtig liege. Aber wenn das Publikum ein Werk nicht rezipiert, dann existiert es nicht.“

Wir hören ein Fragment des Stückes Lúdicas Nr. 10 von Guerra-Peixe. Das Werk zeigt einen deutlichen Einfluss brasilianischer populärer Musik. Es spielt Patrick Köhler, Gitarrist und Student an der Universidad Federal de Santa Maria in Rio Grande do Sul, Brasilien, der diese Aufnahme freundlicherweise für diesen Podcast vorbereitet hat.

Dieses Beispiel zeigt: Genau wie man sich entscheiden kann, sich ein kulturelles Artefakt anzueignen, kann man irgendwann entscheiden, dieses Artefakt wieder abzuwehren. Allmählich wendeten sich die brasilianischen Komponisten um Música Viva der national orientierten Musik zu, während Koellreutter seinen Tätigkeiten als Komponist und Lehrer der musikalischen Avantgarde in neuen Projekten nachging.

In den 1960er Jahren und im Vorfeld der Präsidentschaft Salvador Allendes in Chile wurde die Zwölftonmethode nochmals mit einer sozialen Dimension in Verbindung gebracht. Linksorientierte Komponisten wie Fernando García, Eduardo Maturana oder Gustavo Becerra sahen keinen Widerspruch in der Verbindung der Zwölftonmusik mit einer sozial engagierten Botschaft. In ihren Werken wurden Zwölftonreihen mit rhythmischen und melodischen Elementen der chilenischen Volksmusik frei kombiniert. Die Kommunistische Partei Chiles deklarierte, dass alle ästhetischen Richtungen willkommen waren, die auf irgendeine Weise die Revolution der chilenischen Gesellschaft unterstützten könnten. In den Ländern des Ostblocks wäre diese Form der Umdeutungder Zwölftonmusik zur selben Zeit schwer vorstellbar gewesen.

Diese Beispiele der Aneignung der Zwölftonmusik in Südamerika stellen Reaktionen auf lokale Entwicklungen dar. Mittels der Zwölftonkomposition haben die Komponisten auf die ästhetischen und sozialen Diskussionen ihrer Länder reagiert. Ihre unterschiedlichen Aneignungen der Zwölftonkomposition können als performative Antworten auf diese lokalen Auseinandersetzungen verstanden werden, die wiederum neue Diskussionen motivierten. Was bei solchen Prozessen oft wenig mitgeachtet wird, ist die Perspektive der anderen Seite des Transfers, also die Perspektive derjenigen, die das ursprüngliche Artefakt als ihr Eigentum verstehen. Oft haben Europäer mit Skepsis oder Erstaunen reagiert, wenn sie die lateinamerikanische Zwölftonmusik kennengelernt haben. Gegenüber der Erwartung einer feurigen Musik ‚des Anderen‘, klang diese Musik zu sehr wie die ‚Eigene‘. Die Motivationen und Interessen derjenigen, welche die kulturelle Aneignung der ‚eigenen‘ Artefakte abwehrend beobachten, würden sicherlich diese Perspektiven auf kulturelle Aneignung gewinnbringend ergänzen.

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