dekolonisieren

Ausgabe #10
Mai 2021
Download PDF

Themen des Texts

decolonization

Die Geschichte der Dekolonisation als langanhaltende politisch-ökonomische Befreiungsgeschichte umfasste immer auch künstlerische Produktionen, Artikulationen und ästhetische Strategien der Subversion sowie intellektuelle Positionen.

In diesem Essay werde ich mit Fokus auf Kunstproduktionen in den Bereichen Musik, story telling – hier einschließlich Literatur und Theater – und Bildender Kunst eine Geschichte der politischen Dekolonisation und eine Geschichte dekolonialer Kunstproduktion skizzieren. 

Vielen ist der Begriff `dekolonisieren´ wohl aus aktuellen Trends und öffentlichen Debatten der letzten drei Jahre bekannt, die mit Schlagworten wie `decolonize the university´, `decolonize the internet´ oder `decolonize Berlin, Hamburg´ etc. auf ein politisch notwendiges Thema aufmerksam machen. Die Geschichte der Dekolonisation ist allerdings so alt wie die Geschichte der transatlantischen Versklavung und Kolonisierung des globalen Südens durch europäische Händler_innen, Missionar_innen, Kolonialbeamte etc..

Diese Geschichte beschreibt vor allem eine langanhaltende politisch-ökonomische Befreiungsgeschichte aus kolonial-rassistischen und imperialen Machtverhältnissen. Sie umfasst aber auch künstlerische Produktionen sowie intellektuelle Positionen, die die politischen Bewegungen des antikolonialen Widerstands begleiteten oder gar vorwegnahmen. Mit Fokus auf Kunstproduktionen in Bereichen Musik, story telling (hier einschließlich Literatur, Theater) und Bildender Kunst versuche ich im Folgenden eine Geschichte der politischen Dekolonisation und eine Geschichte dekolonialer Kunstproduktion zu skizzieren, um ein komplexes Feld zu verdeutlichen, in dem aktuelle Möglichkeiten des Dekolonisierens für die verschiedenen Künste zu verorten sind.

I. Widerstand gegen Sklaverei:

Die Bevölkerung der rohstoffreichsten, französischen Kolonie St. Domingo bestand aus 90% Versklavten als im Zuge der französische Revolution (1789) die allgemeinen Menschenrechte in Paris deklariert wurden. Immer wieder kam es in St. Domingo – heute Haiti – zu sog. Sklavenaufständen, die blutig niedergeschlagen wurden, bis dann 1791 von einer Plantage in Acul ausgehend Versklavte sich erfolgreich erhoben und innerhalb weniger Tage ganze Regionen der Insel revoltierten. Etliche Aufstände, Rebellionen, verlustreiche Kämpfe, Kriegshandlungen und 13 Jahre später, war Haiti unabhängig. Diese Dekolonisation im 18. Jahrhundert kostete eine halbe Millionen Menschen das Leben, …und – dennoch – befreite Millionen Menschen aus der Versklavung, denn die haitianische Revolution zerstörte den Hauptsklavenmarkt Amerikas und ermutigte zu weiteren Revolten, zur Forderung nach Abschaffung des Sklavenhandels und des Kolonialismus.
Der Politikwissenschaftler Achille Mbembe schreibt 2016 in Auszug aus der langen Nacht: „Die Entkolonialisierung im ursprünglichen Sinne beginnt mit der Freilassung der Sklaven und ihrer Befreiung aus einem unwürdigen Leben.“11Mbembe, Achille: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika. Suhrkamp. Während die Sklavenhalter_innen, im Kontext rohstofforientierter Kolonialwirtschaft, globalen Kapitalismus und zunehmender Industrialisierung Europas, aus Menschen Waren/Dinge/Objekte zu machen versuchten, um maßlose Profitgier und maximale Ausbeutung zu garantieren, bestand eine Form des Widerstands von Versklavten darin, mittels Musik das System der Sklavenwirtschaft und des damit einhergehenden Rassismus öffentlich anzuklagen. Songs wie `Another man done gone´ von Vera Hall oder `Strange Fruit´ von Billie Hollyday neben tausenden anderen legen noch heute Zeugnis davon ab. Amira Baraka hat in seiner musikwissenschaftlichen Abhandlung Blues People (1963)22Baraka, Amiri: Blues People. Von der Sklavenmusik zum Bebop. Orange Press, (überarbeitete Neuauflage), Freiburg, 2003. die verschiedenen musikalischen Kunstformen der shouts, chants, hollers, yells, ballits, aus denen der Blues kreiert wurde, analysiert, die am nachhaltigsten eine künstlerische Resonanz auf die Versklavung in den USA verdeutlichen. Dabei – so scheint es – hat sich der Widerstand innerhalb eines Systems von Verboten, Reglementierungen und Bestrafungen seine Kunstformen und Ausdrucksmittel gesucht. Diese Musik reflektierte Frederick Douglas in seinem Buch Mein Leben als Sklave in Amerika (1845) wie folgt: „Jeder innere Gedanke kam heraus – entweder in Worten oder in Tönen – oder auch in beidem zugleich. […] manches Mal schon habe ich gedacht, dass man sich nur diese Lieder anzuhören braucht und daraus dann mehr vom Grauen der Sklaverei erfährt, als wenn man noch so viele philosophische Abhandlungen zu dieser Frage durchliest. Als Sklave verstand ich noch nicht die tiefe Bedeutung jener kunstvollen und offenbar zusammenhanglosen Lieder. […] Töne waren da, laut, lang und tief […] jeder Ton war ein Zeugnis wider die Sklaverei […]“.33Douglas, Frederick: Mein Leben als Sklave in Amerika. Lamuv Verlag, (Neuauflage) Göttingen, 2006, S. 34 f. Diese umfangreichen musikalischen Kunstproduktionen fungierten als Ventil; das was du Bois als „rhythmischen Schrei der Sklaven“44Du Bois, W.E.B.: Die Seelen der Schwarzen. Orange Press, (Neuauflage) Freiburg, 2008, S. 253. bezeichnet und Baraka als die „schrillen Klagelieder“55Baraka, 2003, S. 74. entstanden aus Notwendigkeit. Unfreiheit und Unrecht wurden mit Dringlichkeit zum Ausdruck gebracht.

Fast weitere hundert Jahre nach der haitianischen Revolution findet die erste umfassende Dekolonisierungswelle in Lateinamerika statt, die durch antikoloniale Kämpfe und Kriege wie in Kuba und Mexiko geprägt sind. Doch die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten implizierte keine grundlegenden Veränderungen der kolonialen Machtmatrix in Bezug auf die indigene und afro-amerikanische Bevölkerung. Diese Länder blieben stark durch Kolonialität geprägt und wurden erst durch die Dekolonisierungen des 20. Jahrhunderts in Afrika und Asien dazu inspiriert, umfassende politisch-ökonomische und soziale Änderungen vorzunehmen.

II. Dekolonisationsbewegungen im 20. Jahrhundert:

Am Ende des I. Weltkrieges, in den 1920er Jahren, wuchs weltweit der politische Druck durch massive antikoloniale Proteste, Unruhen, Aufstände und Widerstandsbewegungen. So versuchten Oppositionelle und antikoloniale Protestbewegungen z.B. aus Tunesien, Ägypten und Algerien Einfluss auf das Pariser Friedensabkommen zu nehmen, beriefen sich auf das `Selbstbestimmungsrecht der Völker´, strebten eine Internationalisierung des anti-kolonialen Kampfes an und forderten – wie Tunesien – die Unabhängigkeit. Im Gegensatz dazu erreichte die sog. `koloniale Welt´ durch die territoriale Neuordnung der Pariser Friedensverträge „die größte Ausdehnung ihrer Geschichte.“66Jansen, Jan C. und Jürgen Osterhammel: Dekolonisation: Das Ende der Imperien. Verlag C.H. Beck, München, 2013, S. 40. Sowohl in den Kolonien als auch in den europäischen Metropolen bildeten sich Netzwerke und Bündnisse transnationaler Widerstandsbewegungen heraus, die panafrikanische, panamerikanische, teils marxistische, kommunistische, anti-rassistische und antiimperialistische Diskurse sowohl rezipierten als auch produzierten. Von den Aktivist_innen wurde dabei immer auch eine geistige Entkolonisierung und dekoloniale Neuorientierung gefordert. Die in den 1920er und 30er Jahren sich in Paris formierende literarisch-künstlerische Bewegung der Négritude, die auf Engagement von frankophonen Intellektuellen Aimé Césaire (Martinique), Leopold Senghor (Senegal) und Léon Damas (Guiana) hin entstand, unterhielt gute Kontakte zu Schwarzen Schriftsteller_innen der USA und der Karibik wie Richard Wright und Langston Hughes oder Jean Price-Mars, welche wiederum die Kunstströmung der Harlem Renaissance prägten. Gemeinsam übten sie scharfe Kritik an Kolonialismus, Rassismus und Eurozentrismus, traten für eine `Schwarze Ästhetik´ ein und kämpften um alternative Kunstansätze und Repräsentationsformen. Gerade die Anhänger der Négritude verteidigten eine panafrikanisch unabhängige kulturelle, künstlerisch-ästhetische Selbstbestimmung in Musik, Tanz, Literatur, Oratur, Theater und anderen Kunstformen. Sie gründeten in Paris eigene Zeitungen wie L´ètudiant noir oder La revue de monde noir, in denen sie ihre Gedichte, Essays und Theaterstücke in Französisch und Englisch veröffentlichten. Eine wesentliche Herausforderung für sie war, wie an vorkoloniale Ästhetiken, Kunstformen und Ausdrucksweisen anzuknüpfen sei. Zeitgleich jedoch, genau 1931, fand in Paris die größte aller Kolonialausstellungen stand, die als spektakuläre Darbietung inszeniert wurde. So wurden mitten in Paris z.B. kambodschanische Tempel und malische Lehmmoscheen nachgebaut verbunden mit dem kulturpolitischen Interesse Frankreichs, mit dieser Ausstellung den praktizierten Kolonialismus als humanitäres Unternehmen darzustellen. Das Interesse europäischer Bürger_innen an solch exotisierende Verklärungen muss enorm gewesen sein, wenn man bedenkt, dass 33 Mio. Besucher_innen diesem Ereignis beiwohnten. Welche Wirkung muss solche ressourcenintensive Inszenierung auf die afrikanischen und karibischen Intellektuellen jener Zeit gehabt haben, die sich aktiv für eine globale Dekolonisierung engagierten und sich dafür international vernetzten? Sie wussten aus eigener Erfahrung, dass der koloniale Staat immer ein repressiver Staat blieb, der mit Zwangsarbeit, Zwangsumsiedlung, physischer Gewalt, Ausbau von Geheimdienst- und Sicherheitsapparaten, Folter und gezielter Tötung anti-kolonialer Oppositioneller operierte. Die dritte Dekolonisationswelle setzt nach dem II. Weltkrieg in den 1940er Jahren mit dem Algerienkrieg und dem Aufstand in Madagaskar, in den 1950er Jahren mit dem Indochinakrieg und der MauMau Bewegung in Kenia ein. 1960 gilt als ein entscheidendes Schlüsseljahr für die Dekolonisation, zum einen, weil 17 afrikanische Länder ihre Unabhängigkeit aus der kolonialen Zwangsherrschaft erlangen; zum anderen weil die Vereinten Nationen die Unterwerfung von Völkern unter Fremdherrschaft zum Verbrechen gegen das Völkerrecht erklären und juristisch das Recht aller Völker auf wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Selbstbestimmung verankern. Durch diese offizielle Ächtung des Kolonialismus und des ihn ideologisch begleitenden Rassismus verändern sich nun in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die internationalen Beziehungen weltweit.77Jansen/Osterhammel, 2013, S. 15. Zu dieser Zeit, 1961, entsteht auch das anti-koloniale Manifest Die Verdammten dieser Erde von Frantz Fanon, der die psychopathologischen, rassistischen und klassistischen Dimensionen sowie psychologischen Folgen des Kolonialismus analysierte. Und er schreibt: „In der Dekolonisation steckt […] die Forderung einer vollständigen Infragestellung der kolonialen Situation. […] Die Stadt des Kolonialherren ist eine gemästete, faule Stadt, ihr Bauch ist ständig voll mit guten Dingen. […] Die Stadt des Kolonisierten ist eine ausgehungerte Stadt, ausgehungert nach Brot, Fleisch, Schuhen, Kohle, Licht.“88Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Suhrkamp, (Erste Aufl.) Frankfurt, 1981, S. 30-32. Und später: „Dieser europäische Überfluß ist buchstäblich skandalös, denn er ist auf dem Rücken der Sklaven errichtet worden, er hat sich vom Blut der Sklaven ernährt, er stammt in direkter Linie vom Boden und aus der Erde dieser unterentwickelten Welt. […] Wir haben beschlossen, das nicht mehr zu vergessen.“99Fanon, 1981, S. 79.

Nach der politischen Unabhängigkeit vieler afrikanischer Länder – und dem damit verbundenen Anspruch auf Selbstregierung, Selbstorganisation und Selbstrepräsentation – kritisieren anglophone und frankophone afrikanische Schriftsteller_innen und Bühnenautor_innen scharf die Folgen der kolonialen Kultur und Sprachpolitik und beginnen vermehrt Begriffe, Konzepte, Metaphern, Redewendungen, mythologische und philosophische Fragmente aus afrikanischen Sprachen und Kosmologien zu verwenden. Während einige wie Ngugi wa Thiong´o (Kenia) entscheiden, ihre Romane und Theaterstücke in vernakularen Sprachen wie Gikuyu und Kiswahili zu verfassen, glauben andere – wie Wole Soyinka (Nigeria) – daran, die Kolonialsprachen kreativ bearbeiten, durchdringen, sich aneignen, verändern, kreolisieren und hybridisieren zu können. Trotz unterschiedlicher Strategien deuten beide die Dekolonisation auch als ein Kampf mit dem Wort, der Sprache, dem Ausdruck. Wa Thiongo´s Kritik an der kulturellen Dominanz als anhaltende Folgewirkung des europäischen Kolonialismus fokussiert die Unterdrückung der Ausdrucksweisen, Denktraditionen, Blick- und Repräsentationspolitiken afrikanischer Künstler_innen. In seinem Essay Decolonizing the Mind1010Wa Thiong´o, Ngugi: Decolonizing the Mind: The Politics of Language in African Literature. James Currey/Zimbabwe Publishing House, London/Harare, 1986.(1986) wird deutlich, dass er die literarische Produktion in afrikanischen Sprachen für ein notwendiges Mittel zur Befreiung aus kolonialen Herrschafts- und Denkstrukturen hält. Aufgrund des Buchdruck- und Verlagswesens, des Buchhandels und der internationalen Literaturpreise jedoch erwies sich dieser Ansatz als enorm herausfordernd.
Während die vierte Dekolonisationswelle Mitte der 1970er Jahre in den rohstoffreichen, lusophonen Ländern Afrikas – Angola, Mosambik, Guinea-Bissau – losbricht, welche trotz völkerrechtlicher Änderungen langjährige, zähe, antikoloniale bewaffnete Befreiungskämpfe und Guerillakriege gegen weiße Siedlerkolonien führen müssen, um als souveräne Staaten anerkannt zu werden, setzt bei vielen afrikanischen Intellektuellen eine zunehmende Politisierung ein. Sie thematisieren die Langzeitfolgen des Kolonialismus, das Aufkommen von Militärdiktaturen und ökonomische Reglementierungen durch die Strukturanpassungsprogramme der 1980er Jahre. In Westafrika nutzen Schriftsteller _innen wie Sony Labou Tansi (Kongo) ihre Stimme, ihre Sprache und Wortgewalt, um einen Aufschrei und einen Aufruhr zu initiieren, der auf die Missstände aufmerksam macht. Mbembe merkt dazu an: „Die Stimme versiegt, um Platz für den „Schrei“ zu schaffen. So schreibt Sony Labou Tansi im Vorwort zur französischen Ausgabe seines Romans Die heillose Verfassung: „Ein wenig schreibe (j´écris) bzw. schreie (je crie) ich auch deshalb, um die Welt zu zwingen, zur Welt zu kommen.“1111Mbembe, 2016, S. 278 f.
Als dann 1980 Zimbabwe und 1990 Namibia unabhängig werden sowie Südafrika die offizielle Abschaffung des Apartheidregimes endlich feiern kann, gehören auch diese Länder zur Welt der souveränen Saaten, wobei zu beachten bleibt, dass die meisten der 193 Mitglieder der Vereinten Nationen – so die Historiker Jansen/Osterhammel – postkoloniale oder post-imperiale Staaten sind, deren koloniale Vergangenheit nachhaltigeAuswirkungen auf ihr Selbstverständnis haben.1212Jansen/Osterhammel, 2013, S. 14. Während europäische Länder, ihre Ideen- und Kulturgeschichten, Institutionen, Diskurse, Ästhetiken ebenso stark – wenn auch eben anders gerichtet – durch Kolonialität geprägt sind, hat im globalen Norden und Westen eine tiefgehende Dekolonisation bisher nicht stattgefunden. Nelson Maldonado-Torres, Theoretiker der Carribean Studies, merkt dazu an: „In fact, the modern West, its hegemonic discourses, and its hegemonic institutions are themselves a product, like the colonies, of coloniality.“1313Maldonado-Torres, Nelson: Outline of Ten Theses on Coloniality and Decoloniality. Foundation Frantz Fanon, Okt, 2016, S. 10. (Quelle: http://fondation frantzfanon.com/outline-of-ten-theses-on-coloniality-and-decoloniality/ 12.08.2019) Und der Historiker Harald Fischer-Tiné sagt dazu: „Die permanente Reproduktion und Reaktualisierung kolonialer Klischees und eurozentrischer Perspektiven in Politik, Medien, Kultur und Wissenschaft bis in unsere Tage zeigt, dass der Dekolonisationsprozess in dieser Hinsicht offensichtlich noch lange nicht abgeschlossen ist.“1414Fischer-Tiné, Harald: Dekolonisation im 20. Jahrhundert. Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin, 2016. (Quelle: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/postkolonialismus undglobalgeschichte/219139/dekolonisation-im-20-jahrhundert/ 27.03.2021.)

III. Dekoloniale Ästhetik(en)

Die Dekolonisation ist vorrangig eine politische Bewegung, aber eben auch eine Ideengeschichte des globalen Südens. Dabei erstreckte sich das Denken der Dekolonisation immer auch auf künstlerisch-ästhetische Aspekte kolonialer Herrschaft. Dennoch hat sich programmatisch nie eine dekoloniale Ästhetik in den Künsten etabliert; vielmehr gibt es verschiedene Praktiken, experimentelle Ansätze, theoretische Fragmente und Überlegungen dazu aus sehr unterschiedlichen Perspektiven: Maldonado-Torres zufolge schließt eine dekoloniale Ästhetik auch immer ein verändertes Verständnis von Zeit, Raum, verkörperter Subjektivität, Macht und Wissen mit ein. Ich zitiere: „In decolonial artistic creation, the embodied subject emerges as someone who can not only reflect about but also mold, shape, and reshape subjectivity, space, and time.“1515Maldonado-Torres, 2016, S. 30. Das wiederum korrespondiert mit Aussagen Osita Okagbues, der in seinem Buch Culture and Identity in African and Caribbean Theatre (2009) für afrikanische und afro-karibische Theaterstücke einen permanenten Fluxus von Zeit- Raum und Identitäsverschiebungen ausmacht. Die dramaturgische Struktur dieser Stücke sei gekennzeichnet durch „three realms of existence and […] the three time schemes of past, present and future. The three realms and schemes co-exist […] This is a universe in perpetual flux, and the idea of onto-mobility between the realms is fully explored in many of the […] plays. […] the African world often appears immense. […] Its expansiveness thus demands an equally expansive mode of representation.”1616Okagbue, Osita: Culture and Identity in African and Caribbean Theatre. Adonis & Abbey Publishers, London, 2009, S. 145, 148 f. Okagbue zufolge sind solche Dramaturgien, Kunstansätze und Repräsentationspolitiken allein deshalb notwendig, um anders erlebte, kontingente und immense Realität abbilden, reflektieren, dekonstruieren und imaginieren zu können. Allerdings weisen darüber hinaus etliche Theoretiker_innen darauf hin, dass dekoloniale Kunstansätze etwas anderes mit im Blick haben sollten. So erklärt Maldonado-Torres in Anlehnung an Fanon: „Decoloniality is the dynamic activity of giving oneself to and joining the struggles with the damnés […].“1717Maldonado-Torres, 2016, S. 30. Der Bezug auf die damnés, die Verdammten, ist aus meiner Sicht eine Sensibilität dafür, dass Rassismus und Klassismus verzahnte Herrschaftssysteme sind, die während des Kolonialismus und der Sklaverei wirkmächtig gemacht wurden und bis heute anhalten. Auch die Kulturwissenschaftlerin bell hooks macht in Sehnsucht und Widerstand (1996) deutlich, dass im afro amerikanischen Kontext Kunst als Möglichkeit des empowerment gedeutet wurde. Dabei stellt sie fest: „Die Kunst linderte die herben Lebensumstände von Armut und Knechtschaft. Kunst war auch ein Weg, der eigenen Not zu entkommen.“1818hooks, bell: Sehnsucht und Widerstand: Kultur, Ethnie, Geschlecht. Orlanda Verlag, Berlin, 1996, S. 123. Der Kunstsoziologe Jens Kastner betont in seinem Buch Die Linke und die Kunst (2019), dass eine Schwarze linke Theorie die „auf Privilegien basierende Struktur des Kunstfeldes“1919Kastner, Jens: Die Linke und die Kunst: Ein Überblick. Unrast Verlag, Münster, 2019, S. 168. angreift, „soziopolitische Erfahrungsdimension in den Kunstdiskurs“2020Ebd, S. 168. einklagt und damit „einen Fokus auf die Klassenherkunft in Hinblick auf die grundlegenden Befähigungen zu Kunstproduktion und –rezeption“2121Ebd, S. 168. legt. Künstlerische Praktiken, Ästhetiken und Kunstansätze haben durchaus das Potential, rassialisierte, klassistische und sexistische Wahrheits-, Repräsentations-, Blickregime aufzudecken, ad absurdum zu führen oder zu verlachen. Ein konkretes Beispiel solcher künstlerischen Praxis, die mit subversivem Humor kolonialrassistische und imperiale Phantasien durchkreuzt, ist die Arbeit Diary of a Victorian Dandy (1998) des britisch-nigerianischen Künstlers Yinka Shonibare. In fünf theatral arrangierten, fotografischen Tableaus inszeniert sich Shonibare als Dandy während des Viktorianischen Zeitalters – als fiktionaler Schwarzer Aristokrat während des britischen Kolonialismus/Imperialismus, wie er sagt. Auf einem Tableau sieht man nun diesen Dandy morgens im Bett liegend während eine weiße Bedienstetenschaft sich um ihn schart und ihn versorgt. Auf einem anderen Tableau sieht man, wie er in einer Bibliothek im Zentrum des Raums steht und eine Rede hält, während weiße Männer um ihn herum sitzen, zu ihm aufblicken und ihm aufmerksam zuhören. Durch diese wirkungsvollen ästhetischen Verfahren der Umkehrung/des Rollen- und Beziehungstauschs werden Sehgewohnheiten gebrochen, reale politische, rassialisierte und klassistische Machtverhältnisse offengelegt und zugleich all die kunsthistorisch eurozentrisch verankerten Repräsentationspolitiken, die diese Machtverhältnisse lange reproduzierten und inszenierten, lauthals verlacht. Mit humorvollem Gestus stellt Shonibare die Absurdität der realen und repräsentationspolitischen Kolonialität aus. Diese Bildserie – auf großen Postern gedruckt – stellte er in der Londoner U-Bahn aus.
Was haben wohl die Fahrgäste gedacht und gefühlt, als sie diese Bilder sahen? Ich
vermute, dass die jeweilige Resonanz sehr unterschiedlich war – je nach Positionalität
und politischer Positionierung.

IV Was bedeutet das alles für die Künste?:

Kunst kann Herrschaftssysteme stabilisieren und reproduzieren, aber ebenso subversiv dekonstruieren und zu einer dekolonialen Transformation beitragen.

Im derzeitigen Kontext bedeutet Dekolonisieren aus meiner Sicht ein aktives Aufsuchen, Reflektieren, Befragen, Dekonstruieren, Durchkreuzen und Verlachen kolonialer Denk-, Sprach-, Bilder- und Repräsentationspolitiken sowie Rahmungen. Besonders die aktive Dekonstruktion kolonial-rassistischer, sexistischer und klassistischer Repräsentationspolitiken spielt dabei eine entscheidende Rolle. Das ist verbunden mit einem notwendigen Wissen um eine Jahrhunderte anhaltende politische Gewaltgeschichte und ihre Langzeitfolgen.
In den Künsten kann es darüber hinaus eine Hinterfragung bekannter ästhetischer Kategorien bei gleichzeitiger Hinwendung zu und ernsthaften Auseinandersetzung mit außereuropäischen kunsthistorischen Entwicklungen, ästhetischen Kategorien und kunstphilosophischen Ansätzen meinen. Wenn die Kunst ein Verb ist, meint es eine aktive Handlung. Wenn diese Handlung dekolonisieren meint, bedeutet es nicht nur eine kritische Befragung des bisher etablierten, nämlich `eurozentrischen´ Kunstkanons, sondern auch eine Öffnung, Erweiterung und Ausdifferenzierung des Kunstkanons; ebenso sollte es eine intellektuelle und strukturelle Neuausrichtung vonKunstinstitutionen sowie eine Verschiebung innerhalb des globalen Kunstmarktes umfassen. Und es muss eine konkrete Verbesserung materiell-struktureller Produktionsbedingungen für Künstler_innen der 3. Welt einschließen. Aber es bedeutet auch eine Veränderung des Selbstverständnis bestimmter Rollen in europäischen Kunstkontexten; einzelne machtvolle Positionen im Kunstapparat in Form von Kuratoren, Museumsdirektoren, Intendanten als Türhüter_innen zum Tempel der Kunst sind nicht mehr zeitgemäß, geteilte Verantwortung, co-leadership Modelle, selbstorganisierte, diversifizierte Kollektive werden relevant, die Vielstimmigkeit und Multiperspektivität auf Kunst als `common good´ befördern.

Was die historischen Beispiele der dekolonialen Kunstproduktion für mich aber auch deutlich machen, ist, dass sie aus einer realen Dringlichkeit, Notwendigkeit, aus einem Aufruhr, einem Protest über bestehende Verhältnisse zum Ausdruck kamen und Relevanz erhielten. Nicht die Person des Künstlers/der Künstlerin war Mittelpunkt des Geschehens, sondern die zum Ausdruck gebrachte Resonanz auf einen skandalösen Zustand von Welt.
Innerhalb der künstlerischen Praxis kann von Kunstschaffenden eine visionäre Neuanordnung von Welt, Relationen, Netzwerken und Ressourcenumgang ästhetisch mit einem kritisch reflektierten, aber auch spielerisch-schöpferisch-kreativen Gestus erprobt werden.
Ebenso können damit subversive sprachpolitische Umdeutungs-, Aneignungs- und Übersetzungsstrategien, bildpolitische Inszenierungen von Umkehrungen bekannter Machtverhältnisse, Verkehrungen und Verfremdungen bekannter Sehgewohnheiten gemeint sein. Nicht zuletzt meint Dekolonisieren innerhalb der Künste immer auch eine Befragung der eigenen Positionalität, der eigenen Wahrnehmung und der eigenen Produktion und ist verbunden mit einer unaufhörlichen Suche nach dekolonialen Inhalten, Bildfragmenten, Metaphern, Symboliken, Dramaturgien, Textformen,Imaginationen, Visionen, alternativen Zeit-, Raum-, Identitäts-, Figuren- und Beziehungskonzeptionen, Techniken und ästhetischen Strategien.

Dabei beschreibt `Dekolonisieren´ eine aktive Haltung, Handlung und Umgestaltung von Realität innerhalb eines anhaltendes Prozesses und Widerstands gegenüber einer noch bestehenden (post-) kolonialen Realität.

Verwendete Literatur:

Baraka, Amiri: Blues People. Von der Sklavenmusik zum Bebop. Orange Press, (überarbeitete Neuauflage), Freiburg, 2003.

Douglas, Frederick: Mein Leben als Sklave in Amerika. Lamuv Verlag, (Neuauflage) Göttingen, 2006.

Du Bois, W.E.B.: Die Seelen der Schwarzen. Orange Press, (Neuauflage) Freiburg, 2008.

Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Suhrkamp, (1. Aufl.) Frankfurt, 1981.

Fischer-Tiné, Harald: Dekolonisation im 20. Jahrhundert. Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin, 2016.
(Quelle: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/postkolonialismusundglobalgeschichte/219139/
dekolonisation-im-20-jahrhundert/ 27.03.2021.)

hooks, bell: Sehnsucht und Widerstand: Kultur, Ethnie, Geschlecht. Orlanda Verlag, Berlin, 1996.

Jansen, Jan C. und Jürgen Osterhammel: Dekolonisation: Das Ende der Imperien. Verlag C.H. Beck, München, 2013.

Kastner, Jens: Die Linke und die Kunst: Ein Überblick. Unrast Verlag, Münster, 2019.

Mbembe, Achille: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika. Suhrkamp Verlag, (1. Aufl.), Berlin, 2016.

Maldonado-Torres, Nelson: Outline of Ten Theses on Coloniality and Decoloniality. Foundation Frantz Fanon, Okt, 2016. (Quelle: http://fondation-frantzfanon.com/outlineof-ten-theses-on-coloniality-and-decoloniality/ 12.08.2019)

Okagbue, Osita: Culture and Identity in African and Caribbean Theatre. Adonis & Abbey Publishers, London, 2009.

Wa Thiong´o, Ngugi: Decolonizing the Mind: The Politics of Language in African Literature. James Currey/Zimbabwe Publishing House, London/Harare, 1986.

    Fußnoten

  • 1Mbembe, Achille: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika. Suhrkamp.
  • 2Baraka, Amiri: Blues People. Von der Sklavenmusik zum Bebop. Orange Press, (überarbeitete Neuauflage), Freiburg, 2003.
  • 3Douglas, Frederick: Mein Leben als Sklave in Amerika. Lamuv Verlag, (Neuauflage) Göttingen, 2006, S. 34 f.
  • 4Du Bois, W.E.B.: Die Seelen der Schwarzen. Orange Press, (Neuauflage) Freiburg, 2008, S. 253.
  • 5Baraka, 2003, S. 74.
  • 6Jansen, Jan C. und Jürgen Osterhammel: Dekolonisation: Das Ende der Imperien. Verlag C.H. Beck, München, 2013, S. 40.
  • 7Jansen/Osterhammel, 2013, S. 15.
  • 8Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Suhrkamp, (Erste Aufl.) Frankfurt, 1981, S. 30-32.
  • 9Fanon, 1981, S. 79.
  • 10Wa Thiong´o, Ngugi: Decolonizing the Mind: The Politics of Language in African Literature. James Currey/Zimbabwe Publishing House, London/Harare, 1986.
  • 11Mbembe, 2016, S. 278 f.
  • 12Jansen/Osterhammel, 2013, S. 14.
  • 13Maldonado-Torres, Nelson: Outline of Ten Theses on Coloniality and Decoloniality. Foundation Frantz Fanon, Okt, 2016, S. 10. (Quelle: http://fondation frantzfanon.com/outline-of-ten-theses-on-coloniality-and-decoloniality/ 12.08.2019)
  • 14Fischer-Tiné, Harald: Dekolonisation im 20. Jahrhundert. Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin, 2016. (Quelle: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/postkolonialismus undglobalgeschichte/219139/dekolonisation-im-20-jahrhundert/ 27.03.2021.)
  • 15Maldonado-Torres, 2016, S. 30.
  • 16Okagbue, Osita: Culture and Identity in African and Caribbean Theatre. Adonis & Abbey Publishers, London, 2009, S. 145, 148 f.
  • 17Maldonado-Torres, 2016, S. 30.
  • 18hooks, bell: Sehnsucht und Widerstand: Kultur, Ethnie, Geschlecht. Orlanda Verlag, Berlin, 1996, S. 123.
  • 19Kastner, Jens: Die Linke und die Kunst: Ein Überblick. Unrast Verlag, Münster, 2019, S. 168.
  • 20Ebd, S. 168.
  • 21Ebd, S. 168.
/2366/
Index von Ausgabe #10