erfassen

Ausgabe #10
Mai 2021
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Im Zuge der Ausbreitung von multi-sensorischen, computerbasierten Technologien wird „erfassen“ zunehmend als eine automatisierbare Tätigkeit zur Sammlung von Daten behandelt. Einer solchen Konzeption entgegen werde ich „erfassen“ als einen beziehungsstiftenden Prozess deuten, innerhalb dessen Bindungen – Ver- und Entbindungen – entstehen und aus denen Daten als Transformationen hervorgehen. 

Verknotungen in Kette

 

Eine Schaukel für das Smartphone. Reinstellen, die Haltevorrichtung an die Größe des mobilen Geräts anpassen, einschalten und schon schwingt die elektrisch betriebene Schaukel das Smartphone hin und her. Ein Sensor im Smartphone registriert diese Bewegungen als Schritte auch ohne, dass die Nutzer*in sich fortbewegen muss. Zusammen mit einem Programm, das die Ortungsdaten des Smartphones durcheinanderbringt, entsteht so der Eindruck, dass das Gerät durch die Welt getragen wird, während es lediglich an einen Schreibtisch fixiert ist und hin- und her-schaukelt. Zumindest entsteht dieser Eindruck für die Datenerfassungssysteme, die Schritte zählen und orten, darin Bewegungsmuster erkennen und als Verhalten aufzeichnen. Im Dispositiv der Datenerfassung sind Techniken des Erkennens und Täuschens eng miteinander verwoben.11Das Motiv/Narrativ/Arrangement von Erkennen-Täuschen ist verbreitet und tiefgreifend. Ein weiteres Beispiel sind GANs – Generative Adversarial Networks – eine Form der Programmierung, bei der zwei Algorithmen-Cluster eine Feedbackschleife darstellen und in eine Art Wettbewerb zueinander treten: ein Netzwerk erzeugt Daten, das andere klassifiziert, indem es einen anderen Datensatz als Abgleich nutzt. Zielfunktion ist es, dass sich die Netzwerke gegenseitig täuschen, um daraus neue Datensätze zu gewinnen.
Mit so einer Schaukel für das Smartphone lässt sich der Score von gemachten Schritten oben halten – bestimmte Normen von Fitness, Effizienz und Angepasstheit werden so nicht erfüllt, aber bedient. Das kann nützlich sein, um bei interaktiven Computerspielen weiterzukommen. Es kann aber auch notwendig werden, wenn es zum Beispiel darum geht, nicht von einer Krankenversicherung runtergestuft zu werden – also dann, wenn eine Person zum Beispiel nicht in der Lage ist eine Norm zu erfüllen, aber es sich auch nicht leisten kann mit ihr zu brechen.22Gesetzliche Krankenversicherungen in Deutschland wie z.B. AOK, Barmer oder Techniker locken mit Belohnungsprogrammen und bieten für die Nachverfolgung von erfassten Aktivitätsdaten geldwerte Vorteile an. Die Bestimmung des Beitragssatzes erfolgt unabhängig davon. Doch es zeichnet sich darin eine Tendenz ab, die eine Umstrukturierung des Versicherungswesens – die das Prinzip der Bonität anstelle das einer (bedingten) Solidarität zur Regel macht – realistischer werden lässt. Versicherte befänden sich dann in der Lage die Arbeit an ihrer Gesundheit stetig unter Beweis stellen zu müssen, andernfalls würden sie sich einer „ungesunden“ Lebensweise verdächtig machen. Außerdem findet dabei eine Umdeutung dessen statt, was in diesem Kontext als soziales Verhalten gilt: Wettbewerb, Rentabilität und Kosteneffizienz treten an die Stelle von Unterstützung, Ausgleich und Umverteilung. Dass die Teilnahme an solchen Angeboten freiwillig bliebe, schützt nicht davor, dass Individuen in prekären Lebensumständen dazu verleitet werden, diese wahrzunehmen, insbesondere da derartige Programme an der Prekarisierung mitarbeiten [davor warnen z.B.: çapulcu redaktionskollektiv: Dele_te! Digitalisierte Fremdbestimmung, Münster 2019]. Doch auch eine freiwillige Teilnahme aus Bequemlichkeit, Vorteilsnutzung oder Überzeugung führt zur Normalisierung derartiger Geschäftsmodelle, befördert die (Gewöhnung an eine erweitere) Akkumulation von Daten und nutzt der oben beschriebenen Veränderung der Organisation sozialer Strukturen sowie der Verschiebung ihrer Legitimationsgrundlage. Für eine Analyse dieser gegenwärtigen Entwicklungen im Kontext einer Infrastrukturierung mobiler, sensorischer und computergestützter Geräte s.: Nosthoff, Anna-Verena/Maschewski, Felix: Die Gesellschaft der Wearables. Digitale Verführung und soziale Kontrolle. Berlin 2019  Regelwerke, Systeme, Strukturen haben seit jeher nicht nur Vorschriften bestimmt und Verhaltensweisen bewertet, sondern im gleichen Zug auch Ausschlüsse verwaltet und Verstöße markiert. Tricks, Täuschungen und Betrügereien sind also gewissermaßen Teil eines Systems – können es erweitern oder anpassen. Und dann gibt es noch die Umgangsweisen, die Verbote zwar nicht missachten, aber mit den Gegebenheiten so spielen, dass neue Gestaltungsmöglichkeiten entstehen.33Ich denke hierbei an sehr unterschiedliche Phänomene: Von der Nutzung von Plattformen wie Pokémon Go oder Tinder zur Koordination von Protesten in Hongkong bis hin zum Umgang mit Abbildungsverboten im Judentum und Islam, die nicht nur historisch und lokal stets neu interpretiert werden, sondern auch spezifische Arten von Bildern und Darstellungsweisen hervorgebracht haben (wie z.B. Schrift-Bilder, Kalligraphie, Ornamentik, Ausprägung bestimmter figurativer Symbole). Insbesondere denke ich hierbei auch an die Praktiken des Programmierens, deren Prinzipien, Gestaltbarkeit und Wirkungsweisen sich nicht auf einen Techno-logischen Determinismus reduzieren lassen, sondern auch ästhetisch, sozial und politisch bedingt sind. Für einen relationalen und kritischen Ansatz, der Reprogrammierbarkeit stark macht, siehe: Soon, Winnie/Cox, Geoff: Aesthetics Programming. A Handbook of Software Studies. 2000. URL: https://www.aesthetic-programming.net (letzter Zugriff am 16. April 2021).
Diese Schaukel für das Smartphone ist ein Beispiel für eine Maschine, die eine andere Maschine, die Daten erfasst, überlistet. Sie ist das Produkt einer liberalen Ökonomie digitaler Infrastrukturen, die zunehmend über Angebote, Reize und Anforderungen regiert und zugleich ein immer engmaschigeres Netz webt, das Zugriffe und Ausschlüsse verwaltet.44Digitale Infrastrukturen und die damit verbundene Vervielfältigung und Ausbreitung vernetzter, multi-sensorischer, telematischer Apparaturen stellen das Schlüsselelement für eine Form des Kapitalismus dar, der auf der Modifikation und Monetisierung von Verhaltensdaten beruht und damit auf der Vereinnahmung von Erfahrung. Weitere Formen asymmetrischer Machtverhältnisse und sozialer Ungleichheit sind die Folge.
Siehe hierzu: Shoshana Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power. New York, 2019

 
[Beep, beep, beep. Don’t stop now. Keep moving, keep moving.]
 
So ähnlich klingt der Schrittzähler in „Die zwei Päpste“ – einem Spielfilm des Regisseurs Fernando Meirelles, der 2019 erschienen ist. Es ist ein weiteres Beispiel für eine Praxis von Datenerfassung und ihrer Einbettung in den Alltag.
Der elektronische Schrittzähler im Film umschlingt das Handgelenk von Papst Benedikt XVI wie eine Armbanduhr und schlägt Alarm, wenn das vorgegebene Tagesziel an Bewegung droht nicht eingehalten zu werden. Die stetige Vermessung der Aktivität kippt hier um in eine Ermahnung den Ruhezustand zu verlassen. „Nicht aufhören. Weiterbewegen“ lautet die Devise und erfährt im Spielfilm einen vieldeutigen Sinn. Denn mit der Anrufung in Bewegung zu bleiben, weiter zu machen, aber auch beweglich, offen, veränderbar zu sein – damit, sehen sich beide Protagonisten des Films, Papst Benedikt XVI und Papst Franziskus, konfrontiert.
Ganz selbstverständlich taucht der Schrittzähler auf in diesem Spielfilm, der um die imaginierte Begegnung zwischen den beiden Päpsten und ihren Machtwechsel kreist. Der Film inszeniert diese Begegnung zwischen den zwei Päpsten als eine zwischen zwei Wirklichkeiten, die sich eine Welt teilen. In diese Welt interveniert der Schrittzähler, pocht auf Bewegung, Fortgang und Gestaltbarkeit. Das Erklingen der künstlichen Stimme bringt Komik in konfliktbeladene Szenen ohne gleich zu einem Running Gag zu werden.
Die zwei Päpste repräsentieren dabei zwei verschiedene Arten des Katholizismus, zwei unterschiedliche Denk- und Lebensweisen. Benedikt – gespielt von Anthony Hopkins – steht für einen Glauben an einen unbeweglichen Gott, an eine festgelegte Ordnung von Welt und Moral, an das Absolute, nach dem sich das Verhalten auszurichten hat. Hingegen steht Franziskus – gespielt von Jonathan Pryce – für einen Glauben, der Natur, Kultur und auch Gott selbst als sich wandelnde und voneinander abhängige Größen begreift.
Im wiederholten Einsatz des Schrittzählers verdichten sich wiederkehrende Motive des Films wie Veränderung und Bewahrung, Endlichkeit und Wandel.
Als Gerät verfolgt und beeinflusst der Schrittzähler das Bewegungsverhalten von Papst Benedikt – reguliert seine Gewohnheiten, lenkt seine Aufmerksamkeit. Dieser Verbund aus Schrittzähler und Benedikt stellt hier aber keine Fitness aus, sondern eine Gebrechlichkeit. Auch im inneren von Benedikt befindet sich ein kleiner elektronischer Impulsgeber in Form eines Herzschrittmachers.
Der Schrittzähler tritt auf als Taktgeber der gegenwärtigen Zeit, als ein Symbol für eine sich verändernde Welt, an der Benedikt sich zu messen hat, doch in der er sich nur beschränkt einrichten kann. Einerseits werden Benedikt, und die Weltordnung für die er einsteht, dadurch als überkommen, und unzeitgemäß markiert.55Damit meine ich, dass der Schrittzähler lediglich metaphorisch auf eine sich verändernde Welt verweist. Im Film thematisiert werden nämlich weder Medientechnologien noch ihre Effekte. Stattdessen trägt die Inszenierung des Schrittzählers zur Hervorhebung dieser filmischen Erzählung bei: Fortschritt ist nicht ohne Rücktritt, Fortgang nicht ohne Umkehrung zu haben. Der Einsatz des Schrittzählers verstärkt die Parallelisierung zweier Treffen: die eine Sequenz geht von dem Rücktrittsersuch von Kardinal Bergoglio (der spätere Franziskus) aus, die andere von dem Rücktrittsvorhaben Benedikts. Beide werden begleitet von einer Debatte um die Konsequenzen an der persönlichen und strukturellen Mitschuld an Gewalt innerhalb und außerhalb der Kirche (Erwähnung findet die Diskriminierung von Homosexualität, sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie Armut, ausführlicher behandelt wird die Rolle Franziskus während der argentinischen Militärdiktatur Ende der 1970er Jahre). Das Maß der Zeit, der sich verändernden Welt, bedeutet damit keine Gegenwärtigkeit, sondern den Wandel, die Reformierbarkeit der katholischen Kirche. Anderseits repräsentiert das Gerät selbst ein beschränktes System, das sein vorgegebenes Programm nicht verlassen kann.66So gelesen, dient der Schrittzähler im Film zudem als ein Distinktionsmerkmal zwischen den beiden Patriarchen und akzentuiert die Starrsinnigkeit und dogmatische Denkweise Benedikts. So ist der Schrittzähler beispielweise ignorant gegenüber den Umständen, unter denen er Aktivität zu messen hat.
Doch auch wenn das Schrittezählen einem festgelegten Muster folgt, heißt es nicht, dass es keine schöpfende oder schöpferische Tätigkeit sein kann. Als eine stark formalisierte Form des Tuns ist es damit vielleicht sogar Praktiken wie dem Rosenkranzzählen und -beten nicht ganz unähnlich. Dieser Vergleich zeigt aber auch, dass Zählen eben nicht gleich Zählen ist. Zählen ist eine Tätigkeit der Interpretation. Das eine Zählen ist darauf ausgerichtet spirituelle Bezüge zu stiften, das andere biometrische. Als Zählmaschine steht der Rosenkranz für eine andere semiotische und materielle, eine andere techno-ästhetische Praxis als der Schrittzähler.
 
[Beep, beep, beep. Don’t stop now. Keep moving, keep moving.]
 
Für Theorien, die das Erfassen von Daten als einen beziehungsstiftenden Prozess verstehen, spielt die etwa 90 Jahre alte Philosophie von Alfred North Whitehead eine zunehmend wichtige Rolle.77Insbesondere für Theorien, die mehr-als-menschliche oder nicht-menschliche Erfahrung, Ästhetik, Poiesis adressieren oder die Operationsweisen von sensorischen und computergestützten Medientechnologien analysieren, ist Whitehead eine wichtige Referenz – wobei die Autor*innen durchaus zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Hier eine Auswahl:    
Angerer, Marie-Luise: Affektökologie. Intensive Milieus und zufällige Begegnungen. Lüneburg 2017. Fazi, M. Beatice: Contingent Computation. Abstraction, Experience, and Indeterminacy in Computational Aesthetics. London 2018. Gabrys, Jennifer: Program Earth. Environmental Sensing Technology and the Making of a Computational Planet. Minnesota 2016. Haas, Maximilian: Tiere auf der Bühne. Eine ästhetische Ökologie der Performance. Berlin 2018. Handel, Lisa: Ontomedialität. Eine medienphilosophische Perspektive auf die aktuelle Neuverhandlung der Ontologie. Bielefeld, 2019. Hansen, Mark B. N.: „Medien des 21. Jahrhunderts, technische Empfinden und unsere originäre Umweltbedingung“, in: Hörl, Erich: Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Frankfurt am Main 2011, S. 365-407. Otto, Isabell: Prozess und Zeitordnung. Temporalität unter der Bedingung digitaler Vernetzung. Konstanz 2020. Parisi, Luciana. „Technoecologies of Sensation”, in: Herzogenrath, Bernd (Hg.): Deleuze/Guattari & Ecology, Basingstoke 2009, S. 182-199. Shaviro, Steven: Without Criteria: Kant, Whitehead, Deleuze, and Aesthetics. Massachusetts. 2009. Stengers, Isabelle: Thinking With Whitehead. A Free and Wild Creation of Conepts (2002). Cambridge/Massachusetts/London, 2011. Für die hiesigen Ausführungen zur Erfassung vgl. insbesondere Handel 2019, S. 297-334.
Denn mit dem Begriff „erfassen“ benennt Whitehead die grundlegende Empfindung von Relationalität. Im englisch-sprachigen Original heißt „erfassen“ „prehension“ und ist eine seiner zahlreichen Wortschöpfungen.88Whitehead arbeitet seine Konzeption von „prehension“/Erfassung insbesondere hier aus: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie (1929). Frankfurt am Main, 2015. Erstmalig vorgestellt wird der Begriff in Nähe zum singulären „Geschehnis“ („event“) hier: Wissenschaft und moderne Welt (1925). Frankfurt, 1988, S. 90f.  Viele Facetten und Differenzierungen von „prehension“ werde ich im Folgenden aufgrund des Formats und meiner gewählten Konstellation ausklammern. Mit diesem Neuwort „prehension“, das im Deutschen eben meistens mit „erfassen“ übersetzt wird, setzt sich Whitehead ganz entschieden von dominanten Konzepten von Begreifen, Verstehen und Wahrnehmen der westlichen Philosophien und Wissenschaften ab.99Whitehead’s Kritik richtet sich gegen die Wissenschaften und Philosophie, die an der Trennung zwischen Natur und Kultur, Innen und Außen, lebloser Materie und belebtem Geist, Körper und Intellekt/Verstand, Subjekt und Objekt arbeiten; die auf einem Begriff von selbstidentischer Substanz sowie auf ahistorischen Konzepten von Erkenntnis, Wahrnehmung und Stofflichkeit beruhen und diese weiterführen. Entsprechend behauptet er für seine Theorie keine absolute Gültigkeit, sondern so etwas wie eine naturkulturgeschichtliche Notwendigkeit. Der Philosophie spricht er dabei die Aufgabe der „Kritik der Abstraktion“ zu: „Wir können nicht ohne Abstraktion denken; deshalb ist es von äußerster Wichtigkeit, unsere Abstraktionsweisen sehr sorgfältig zu überprüfen.“ (Whitehead 1988, S. 75)
Unterdessen war Whitehead geprägt durch Erkenntnisse aus der Biologie und Physik (wie etwa Physiologie, Evolutions- und Relativitätstheorie, Quantenmechanik). Für diesen Kontext hier insbesondere interessant: Zum einen die Nähe zwischen der quantenmechanischen Dekohärenztheorie und Whitehead’s Entwurf von Wirklichkeit, die zugleich materiell und potentiell ist (vgl. Handel 2019, S. 317-321; vgl. Hansen 2011, S. 400-407). Zum anderen Whitehead‘s Rolle für die Herausbildung einer ökologischen Denkweise und ihre Konvergenz zu „neuen biopolitischen Verfahren der Umgebungsregulation“ (Sprengler, Florian: Epistemologien des Umgebens. Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher environments. Bielefeld, 2019, S. 160).
1010Vor dem Hintergrund der Zusammenstellung meines Beitrags möchte ich noch auf zwei Aspekte hinweisen: Zum einen, dass Whiteheads kosmologischer Entwurf sich auch mit Gott und Religion befasst (nicht nur, aber vornehmlich dem Christentum). Im Gegensatz zu Bildern Gottes als „herrschenden Kaiser, als erbarmungslosen Moralisten oder unbewegten Beweger“ (Whitehead 2015, S. 613) – welche er als die drei Hauptnarrative des westlichen Christentums ansieht – fasst Whitehead Gott als einen „Poet der Welt“ (ebd., S. 618), der bipolar sei, mit den Akten der Schöpfung ginge und ihnen nicht voraus sei (ebd., S. 616). Zum anderen stellt Whitehead die Rolle von Religionen innerhalb der Geschichte der Rationalität heraus und betont beispielsweise, dass das westeuropäische Christentum des 16. Jahrhundert maßgeblich zur Etablierung eines „Glaubens an die Vernunft“ und damit der Herausbildung und Rechtfertigung der Praktiken modernen Naturwissenschaften beigetragen habe (vgl. Whitehead 1988).
„Prehension“, „erfassen“ ist eine Art Sinn für die Ereignishaftigkeit von Welt – ein Empfinden der historisch gewachsenen Bindung zwischen einer Vielheit von Ereignissen, die die Welt bedeuten. Subjekte stehen diesem Werden der Welt nicht gegenüber, sondern gehen daraus hervor.1111Auch Daten sind Subjekte und gehen aus Konkretisierungsvorgängen hervor. Subjekt meint hier nicht Menschen und ist nicht auf Lebewesen mit Bewusstsein beschränkt. Subjekte gehen aus einem Prozess der Konkretisierung hervor, aus dem Zusammenwachsen von Vielheiten zu einer Einheit. Für Whitehead ist jedes Subjekt immer zugleich auch ein Superjekt: es ist Erfahrendes des Prozesses (Subjekt) und Resultat dieses Prozesses als dessen Erfüllung und Vergehen – Gewordenes (Superjekt) (vgl. Whitehead 2015, S. 75ff). Alles was ist, ist das Resultat von Erfassungsereignissen. Erfassen ist dabei mehr ein Ereignis als eine Tätigkeit, weil es den wechselseitigen Bezug zwischen Erfasstem und Erfassendem benennt.
Erfassen steht für die Erfahrung vonder Welt zu sein und gleichzeitig für das weitere Werden der Welt zu sein. Sein ist hier als etwas konzipiert, dass zugleich Gewordenes und Potential ist.
Daher sind für Whitehead Daten Gegebenes und Medium. Ein Datum ist gegeben, insofern es etwas ist, dass bereits geworden ist. Das Datum ist also eine Erfassung, ein Prozess des Werdens, der bereits abgeschlossen ist. Zugleich geht dieses gewordene, konkrete Datum als wirkliches Potential in andere, weitere Ereignisse von Erfassungen ein.
Nach Whitehead ist das Werden der Welt ein Prozess, der sich aus den Übergängen zwischen diesen endlichen Ereignissen entfaltet. Das Werden der Welt ist hier also kein kontinuierlicher Prozess, sondern stellt sich ein aus einer Vielzahl von gleichzeitigen, asynchronen Ereignissen, die eben auch vergehen, enden und durch ihre Endlichkeit wirken.
In gewisser Weise bildet bei Whitehead also das Unfassbare einen Kernaspekt des Erfassens. Denn es ist diese Verschränkung aus Endlichkeit und Übergang, aus Materialität und Medialität, aus Erfasstem und Erfassenden, die nicht nur schwierig zu denken und auszudrücken ist, sondern eben auch eine ganz reale Erfahrung von Relationalität darstellt.  
Relationalität ist hier nicht gleichzusetzen mit Relativität im Sinne einer Beliebigkeit. Nicht alles hat mit allem zu tun.1212Whitehead unterscheidet zwischen positiven und negativen Erfassungen, solchen die einbeziehend und ausschließend sind. Entscheidend ist dabei, dass auch negativ Erfasstes für das weitere Ereignen konstitutiv ist. Es wirkt als Potential fort. Das, „was es hätte sein können, aber nicht ist“ (Whitehead 2015, S. 415) ist die negative Erfassung und als Nicht-Realisiertes mitbestimmend für das Werden. „Das Wirkliche kann nicht vom Potentiellen geschieden und auf bloß Tatsächliches reduziert werden.“ (ebd.) Aber die Art und Weise, wie erfasst wird, trägt dazu bei, was wie relevant werden kann.
 
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Alle drei unterschiedlichen Schauplätze der Datenerfassung – die Smartphone-Schaukel, die Inszenierung eines Schrittzählers im Vatikan und Whiteheads relationale Konzeption von Erfassen – zeigen, dass Erfassen keine neutrale Operation ist.
Daten werden nicht einfach festgestellt, sie entstehen aus ihrer Einbettung in der Welt und wirken gleichzeitig an ihr mit. Erfassungen stiften Beziehung und schaffen Bedeutungszusammenhänge, die sich aber nicht auf einen Grund zurückführen lassen. Vor dem Hintergrund sich ausbreitender vernetzter, multi-sensorischer Computersysteme steht dabei nicht zur Frage, ob Erfassungen eine generative, eine gestalterische Komponente haben, sondern eher inwiefern, wodurch, wofür und zu welchem Preis.

    Fußnoten

  • 1Das Motiv/Narrativ/Arrangement von Erkennen-Täuschen ist verbreitet und tiefgreifend. Ein weiteres Beispiel sind GANs – Generative Adversarial Networks – eine Form der Programmierung, bei der zwei Algorithmen-Cluster eine Feedbackschleife darstellen und in eine Art Wettbewerb zueinander treten: ein Netzwerk erzeugt Daten, das andere klassifiziert, indem es einen anderen Datensatz als Abgleich nutzt. Zielfunktion ist es, dass sich die Netzwerke gegenseitig täuschen, um daraus neue Datensätze zu gewinnen.
  • 2Gesetzliche Krankenversicherungen in Deutschland wie z.B. AOK, Barmer oder Techniker locken mit Belohnungsprogrammen und bieten für die Nachverfolgung von erfassten Aktivitätsdaten geldwerte Vorteile an. Die Bestimmung des Beitragssatzes erfolgt unabhängig davon. Doch es zeichnet sich darin eine Tendenz ab, die eine Umstrukturierung des Versicherungswesens – die das Prinzip der Bonität anstelle das einer (bedingten) Solidarität zur Regel macht – realistischer werden lässt. Versicherte befänden sich dann in der Lage die Arbeit an ihrer Gesundheit stetig unter Beweis stellen zu müssen, andernfalls würden sie sich einer „ungesunden“ Lebensweise verdächtig machen. Außerdem findet dabei eine Umdeutung dessen statt, was in diesem Kontext als soziales Verhalten gilt: Wettbewerb, Rentabilität und Kosteneffizienz treten an die Stelle von Unterstützung, Ausgleich und Umverteilung. Dass die Teilnahme an solchen Angeboten freiwillig bliebe, schützt nicht davor, dass Individuen in prekären Lebensumständen dazu verleitet werden, diese wahrzunehmen, insbesondere da derartige Programme an der Prekarisierung mitarbeiten [davor warnen z.B.: çapulcu redaktionskollektiv: Dele_te! Digitalisierte Fremdbestimmung, Münster 2019]. Doch auch eine freiwillige Teilnahme aus Bequemlichkeit, Vorteilsnutzung oder Überzeugung führt zur Normalisierung derartiger Geschäftsmodelle, befördert die (Gewöhnung an eine erweitere) Akkumulation von Daten und nutzt der oben beschriebenen Veränderung der Organisation sozialer Strukturen sowie der Verschiebung ihrer Legitimationsgrundlage. Für eine Analyse dieser gegenwärtigen Entwicklungen im Kontext einer Infrastrukturierung mobiler, sensorischer und computergestützter Geräte s.: Nosthoff, Anna-Verena/Maschewski, Felix: Die Gesellschaft der Wearables. Digitale Verführung und soziale Kontrolle. Berlin 2019
  • 3Ich denke hierbei an sehr unterschiedliche Phänomene: Von der Nutzung von Plattformen wie Pokémon Go oder Tinder zur Koordination von Protesten in Hongkong bis hin zum Umgang mit Abbildungsverboten im Judentum und Islam, die nicht nur historisch und lokal stets neu interpretiert werden, sondern auch spezifische Arten von Bildern und Darstellungsweisen hervorgebracht haben (wie z.B. Schrift-Bilder, Kalligraphie, Ornamentik, Ausprägung bestimmter figurativer Symbole). Insbesondere denke ich hierbei auch an die Praktiken des Programmierens, deren Prinzipien, Gestaltbarkeit und Wirkungsweisen sich nicht auf einen Techno-logischen Determinismus reduzieren lassen, sondern auch ästhetisch, sozial und politisch bedingt sind. Für einen relationalen und kritischen Ansatz, der Reprogrammierbarkeit stark macht, siehe: Soon, Winnie/Cox, Geoff: Aesthetics Programming. A Handbook of Software Studies. 2000. URL: https://www.aesthetic-programming.net (letzter Zugriff am 16. April 2021).
  • 4Digitale Infrastrukturen und die damit verbundene Vervielfältigung und Ausbreitung vernetzter, multi-sensorischer, telematischer Apparaturen stellen das Schlüsselelement für eine Form des Kapitalismus dar, der auf der Modifikation und Monetisierung von Verhaltensdaten beruht und damit auf der Vereinnahmung von Erfahrung. Weitere Formen asymmetrischer Machtverhältnisse und sozialer Ungleichheit sind die Folge.
    Siehe hierzu: Shoshana Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism. The Fight for a Human Future at the New Frontier of Power. New York, 2019
  • 5Damit meine ich, dass der Schrittzähler lediglich metaphorisch auf eine sich verändernde Welt verweist. Im Film thematisiert werden nämlich weder Medientechnologien noch ihre Effekte. Stattdessen trägt die Inszenierung des Schrittzählers zur Hervorhebung dieser filmischen Erzählung bei: Fortschritt ist nicht ohne Rücktritt, Fortgang nicht ohne Umkehrung zu haben. Der Einsatz des Schrittzählers verstärkt die Parallelisierung zweier Treffen: die eine Sequenz geht von dem Rücktrittsersuch von Kardinal Bergoglio (der spätere Franziskus) aus, die andere von dem Rücktrittsvorhaben Benedikts. Beide werden begleitet von einer Debatte um die Konsequenzen an der persönlichen und strukturellen Mitschuld an Gewalt innerhalb und außerhalb der Kirche (Erwähnung findet die Diskriminierung von Homosexualität, sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie Armut, ausführlicher behandelt wird die Rolle Franziskus während der argentinischen Militärdiktatur Ende der 1970er Jahre). Das Maß der Zeit, der sich verändernden Welt, bedeutet damit keine Gegenwärtigkeit, sondern den Wandel, die Reformierbarkeit der katholischen Kirche.
  • 6So gelesen, dient der Schrittzähler im Film zudem als ein Distinktionsmerkmal zwischen den beiden Patriarchen und akzentuiert die Starrsinnigkeit und dogmatische Denkweise Benedikts.
  • 7Insbesondere für Theorien, die mehr-als-menschliche oder nicht-menschliche Erfahrung, Ästhetik, Poiesis adressieren oder die Operationsweisen von sensorischen und computergestützten Medientechnologien analysieren, ist Whitehead eine wichtige Referenz – wobei die Autor*innen durchaus zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Hier eine Auswahl:    
    Angerer, Marie-Luise: Affektökologie. Intensive Milieus und zufällige Begegnungen. Lüneburg 2017. Fazi, M. Beatice: Contingent Computation. Abstraction, Experience, and Indeterminacy in Computational Aesthetics. London 2018. Gabrys, Jennifer: Program Earth. Environmental Sensing Technology and the Making of a Computational Planet. Minnesota 2016. Haas, Maximilian: Tiere auf der Bühne. Eine ästhetische Ökologie der Performance. Berlin 2018. Handel, Lisa: Ontomedialität. Eine medienphilosophische Perspektive auf die aktuelle Neuverhandlung der Ontologie. Bielefeld, 2019. Hansen, Mark B. N.: „Medien des 21. Jahrhunderts, technische Empfinden und unsere originäre Umweltbedingung“, in: Hörl, Erich: Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Frankfurt am Main 2011, S. 365-407. Otto, Isabell: Prozess und Zeitordnung. Temporalität unter der Bedingung digitaler Vernetzung. Konstanz 2020. Parisi, Luciana. „Technoecologies of Sensation”, in: Herzogenrath, Bernd (Hg.): Deleuze/Guattari & Ecology, Basingstoke 2009, S. 182-199. Shaviro, Steven: Without Criteria: Kant, Whitehead, Deleuze, and Aesthetics. Massachusetts. 2009. Stengers, Isabelle: Thinking With Whitehead. A Free and Wild Creation of Conepts (2002). Cambridge/Massachusetts/London, 2011. Für die hiesigen Ausführungen zur Erfassung vgl. insbesondere Handel 2019, S. 297-334.
  • 8Whitehead arbeitet seine Konzeption von „prehension“/Erfassung insbesondere hier aus: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie (1929). Frankfurt am Main, 2015. Erstmalig vorgestellt wird der Begriff in Nähe zum singulären „Geschehnis“ („event“) hier: Wissenschaft und moderne Welt (1925). Frankfurt, 1988, S. 90f.  Viele Facetten und Differenzierungen von „prehension“ werde ich im Folgenden aufgrund des Formats und meiner gewählten Konstellation ausklammern.
  • 9Whitehead’s Kritik richtet sich gegen die Wissenschaften und Philosophie, die an der Trennung zwischen Natur und Kultur, Innen und Außen, lebloser Materie und belebtem Geist, Körper und Intellekt/Verstand, Subjekt und Objekt arbeiten; die auf einem Begriff von selbstidentischer Substanz sowie auf ahistorischen Konzepten von Erkenntnis, Wahrnehmung und Stofflichkeit beruhen und diese weiterführen. Entsprechend behauptet er für seine Theorie keine absolute Gültigkeit, sondern so etwas wie eine naturkulturgeschichtliche Notwendigkeit. Der Philosophie spricht er dabei die Aufgabe der „Kritik der Abstraktion“ zu: „Wir können nicht ohne Abstraktion denken; deshalb ist es von äußerster Wichtigkeit, unsere Abstraktionsweisen sehr sorgfältig zu überprüfen.“ (Whitehead 1988, S. 75)
    Unterdessen war Whitehead geprägt durch Erkenntnisse aus der Biologie und Physik (wie etwa Physiologie, Evolutions- und Relativitätstheorie, Quantenmechanik). Für diesen Kontext hier insbesondere interessant: Zum einen die Nähe zwischen der quantenmechanischen Dekohärenztheorie und Whitehead’s Entwurf von Wirklichkeit, die zugleich materiell und potentiell ist (vgl. Handel 2019, S. 317-321; vgl. Hansen 2011, S. 400-407). Zum anderen Whitehead‘s Rolle für die Herausbildung einer ökologischen Denkweise und ihre Konvergenz zu „neuen biopolitischen Verfahren der Umgebungsregulation“ (Sprengler, Florian: Epistemologien des Umgebens. Zur Geschichte, Ökologie und Biopolitik künstlicher environments. Bielefeld, 2019, S. 160).
  • 10Vor dem Hintergrund der Zusammenstellung meines Beitrags möchte ich noch auf zwei Aspekte hinweisen: Zum einen, dass Whiteheads kosmologischer Entwurf sich auch mit Gott und Religion befasst (nicht nur, aber vornehmlich dem Christentum). Im Gegensatz zu Bildern Gottes als „herrschenden Kaiser, als erbarmungslosen Moralisten oder unbewegten Beweger“ (Whitehead 2015, S. 613) – welche er als die drei Hauptnarrative des westlichen Christentums ansieht – fasst Whitehead Gott als einen „Poet der Welt“ (ebd., S. 618), der bipolar sei, mit den Akten der Schöpfung ginge und ihnen nicht voraus sei (ebd., S. 616). Zum anderen stellt Whitehead die Rolle von Religionen innerhalb der Geschichte der Rationalität heraus und betont beispielsweise, dass das westeuropäische Christentum des 16. Jahrhundert maßgeblich zur Etablierung eines „Glaubens an die Vernunft“ und damit der Herausbildung und Rechtfertigung der Praktiken modernen Naturwissenschaften beigetragen habe (vgl. Whitehead 1988).
  • 11Auch Daten sind Subjekte und gehen aus Konkretisierungsvorgängen hervor. Subjekt meint hier nicht Menschen und ist nicht auf Lebewesen mit Bewusstsein beschränkt. Subjekte gehen aus einem Prozess der Konkretisierung hervor, aus dem Zusammenwachsen von Vielheiten zu einer Einheit. Für Whitehead ist jedes Subjekt immer zugleich auch ein Superjekt: es ist Erfahrendes des Prozesses (Subjekt) und Resultat dieses Prozesses als dessen Erfüllung und Vergehen – Gewordenes (Superjekt) (vgl. Whitehead 2015, S. 75ff).
  • 12Whitehead unterscheidet zwischen positiven und negativen Erfassungen, solchen die einbeziehend und ausschließend sind. Entscheidend ist dabei, dass auch negativ Erfasstes für das weitere Ereignen konstitutiv ist. Es wirkt als Potential fort. Das, „was es hätte sein können, aber nicht ist“ (Whitehead 2015, S. 415) ist die negative Erfassung und als Nicht-Realisiertes mitbestimmend für das Werden. „Das Wirkliche kann nicht vom Potentiellen geschieden und auf bloß Tatsächliches reduziert werden.“ (ebd.)
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