transformieren

Ausgabe #10
Mai 2021
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Im Rahmen ästhetischer Prozesse spielt der Übergang zwischen verschiedenen Medien und Modi des Wissens oft eine zentrale Rolle. Der Beitrag untersucht anhand von visuellen Beispielen aus künstlerisch gestalteten Bilderbüchern die Möglichkeiten, durch ästhetische Transformationen neue Formen des Wissens zu generieren. 

Transformieren

Wissen generieren durch intermodale und intermediale Wechselspiele

1. Annäherung an den Begriff „transformieren“

… transport, transmit, transpose, transplant, transfer, transcribe, transgress, transcend, translate, transform…

All diesen Begriffen ist eines gemeinsam: sie alle stehen für einen Prozess, der einen Ausgangspunkt und einen Zielpunkt hat; sie alle implizieren eine Bewegung, die mit einer Veränderung verbunden ist. Der entscheidende Träger der jeweiligen Bedeutung ist das Präfix „trans“. Trans bedeutet: hindurch, quer durch, hinüber, jenseits, über…hinaus. Damit ist eine Bewegung angesprochen, die sowohl auf räumliche und zeitliche Situationen und Phänomene bezogen wird, die aber auch im übertragenen, metaphorischen Sinn verstanden werden kann.

Beim Begriff des Transformierens und der Transformation gerät der Begriff der Form in den Fokus, der ebenso einerseits als Parameter der materiell erfahrbaren Wirklichkeit gedeutet werden kann, andererseits als übergeordnete abstrakte Idee. Auffallend ist die Vielfalt der Kontexte, in denen der Begriff der Transformation mit je unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. Die Palette der Anwendungszusammenhänge reicht dabei von der Mathematik und Physik über die Biologieund Genetik bis zur Politik- und Wirtschaftswissenschaft sowie der Linguistik. Auf einer ganz basalen Ebene ist allen Anwendungsweisen die Idee der Veränderung im Sinne einer Umwandlung und Verwandlung gemeinsam. Große Unterschiede zeigen sich jedoch, wenn die jeweils thematisierten Prozesse genauer unter die Lupe genommen werden. So besteht ein grundlegender Unterschied darin, ob der Prozess als reversibler verstanden wird (wie etwa in der Mathematik, der Informatik oder der Physik) oder ob er als irreversibler Prozess oft sprunghaft zu Veränderungen führt (wie etwa die maligne Veränderung von Zellen in Krebszellen).

Im Folgenden beschäftige ich mich mit ästhetischen Transformationen. Dabei wird zu zeigen sein, dass ästhetische Transformationen zwar in gewisser Weise irreversibel sind, dass sie jedoch keineswegs als lineare Prozesse zu verstehen sind, die nur in eine Richtung weisen. Vielmehr zeichnet sich Transformieren mit ästhetischen Mitteln dadurch aus, dass Beziehungsgefüge entstehen, die als reziprok zu charakterisieren sind. Der scheinbar eindeutige Ausgangs- und Zielpunkt der Transformationsbeziehung wird in ein offenes Bedeutungsnetz eingebettet, das über sich in alle Richtungen hinausweist.11Genauere Überlegungen zur Thematik der Transformation im Allgemeinen bzw. zur ästhetischen Transformation in: Ursula Brandstätter: Erkenntnis durch Kunst. Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation. Wien, Köln, Weimar 2013, S.87 ff.

 

2. Medien und Modi des Wissens

Eine zentrale These meines Beitrags besteht darin, Transformationsprozesse als Praxis der Wissensgenerierung zu verstehen. Um das Generieren von Wissen thematisieren zu können, ist es zuvor notwendig, sich Klarheit über den Begriff des Wissens zu verschaffen. Angesichts der unüberschaubaren Literatur zur Thematik des Wissens und der verschiedenen Formen des Wissens beschränke ich mich hier bewusst auf zwei Aspekte: die Medien und die Modi des Wissens, um darauf aufbauend nach den Besonderheiten des ästhetischen Wissens zu fragen.

Wissen ist medial gefasst. Was immer wir wissen, bedarf eines Mediums, in dem dieses Wissen sich manifestiert, in dem es kommuniziert und vermittelt werden kann. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist die Vorstellung von Wissen zumeist an die Verbalsprache geknüpft – das sogenannte Faktenwissen manifestiert sich wesentlich in sprachlichen Begriffen. Wissen kann aber auch in Zahlen gefasst sein oder in Diagrammen, in Bildern etc.  Zu bedenken ist neben dem deklarativen Wissen (dem „knowing that“) darüber hinaus das prozedurale Wissen (das „knowing how“). Das Wissen, ein Schuhband zu binden, ist nicht in Form verbaler Anweisungen in unserem Kopf gespeichert, vielmehr handelt es sich hier um inkorporiertes Wissen, also um ein im Medium des Körpers gespeichertes Wissen.

Jedes Medium bietet medienspezifische Möglichkeiten, Wissen zu speichern und zu transportieren. Dabei ist das Bild des Speichers und des Transports durchaus irreführend, legt es doch nahe, dass das Wissen als neutraler Inhalt in einem Medium abgelegt und weitergegeben wird. Das Medium schreibt sich jedoch selbst in das Wissen ein, es gibt kein medienunabhängiges Wissen. Verbale Zeichen stehen für ein verbal fassbares Wissen, visuelle Zeichen ermöglichen ein visuelles Wissen. Jedes Medium steht also für eine bestimmte Art der Wissensdarstellung und Wissensvermittlung und damit auch für eine spezifische Form der Wissensgenerierung. Freilich darf man sich die Grenzen zwischen den in unterschiedlichen Medien sich manifestierenden Zeichen nicht als starre Grenzen vorstellen, die medialen Grenzen sind vielmehr durchlässig, unser Zugang zur Welt ist von ständigen Austauschprozessen zwischen den Medien geprägt. Wir leben in einer Welt der flottierenden Medien, Zeichen und Bedeutungen.

Und doch gibt es medienspezifische Modi der Wissensdarstellung und Wissensvermittlung. Auf einer basalen Ebene kann man etwa zwischen dem Modus des Sagens und dem Modus des Zeigens unterscheiden. Der Modus des Sagens lässt sich am besten am Beispiel der Verbalsprache exemplifizieren. Das verbale Zeichen „Tisch“ steht für das Objekt „Tisch“ auf Basis einer arbiträren, konventionalisierten Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung. Ein gezeichneter Tisch hingegen verweist auf das Objekt Tisch auf Basis einer (zugegebenerweise ebenfalls konventionalisierten) Ähnlichkeitsbeziehung. Das visuelle Zeichen steht für den Modus des Zeigens. Wie sich in weiterer Folge zeigen wird, sind die Grenzen zwischen Sagen und Zeigen ebenso wenig starr und undurchlässig wie die Grenzen zwischen den Medien. Trotzdem ist es für ein differenziertes Verständnis von Transformationsprozessen hilfreich, die Besonderheiten der verschiedenen Medien und die damit verbundenen Spezifika der Modi der Wissensdarstellung und Wissensvermittlung – quasi als Analyseinstrumentarium – im Kopf zu haben.

Wie könnten nun die Spezifika eines ästhetischen Wissens beschrieben werden? Geht man vom griechischen Begriff „aisthesis“, der für Sinneswahrnehmungen steht, aus, so spielen beim ästhetisch gefassten Wissen Sinneswahrnehmungen eine zentrale Rolle. Ästhetisches Wissen manifestiert sich in sinnlich erfahrbarem Material und ist somit essentiell in den Sinnen verankert. Die Bindung an die sinnliche Erfahrung und damit an die Sinnesorgane legt es nahe, das ästhetische Wissen als eine spezifische Form des verkörperten Wissens zu begreifen. Damit in Zusammenhang steht auch, dass diese Form des Wissens immer auch subjektive und emotionale Anteile hat.

3. Ästhetische Transformationen

„Das uns bekannte Welterzeugen geht stets von bereits vorhandenen Welten aus, das Erschaffen ist ein Umschaffen“ – mit diesen Worten bringt Nelson Goodman 22Goodman 1984, S. 19. das Phänomen auf den Punkt, dass wir als Menschen niemals von einem Zustand der „tabula rasa“ ausgehen, sondern dass wir immer auf Vorgefundenem aufbauen und uns vorhandener Kategorien des Wahrnehmens, Denkens, Handelns und Gestaltens bedienen. Dass Schaffen als Umschaffen und damit als Transformieren zu verstehen ist, zeigt sich in besonderer Weise im Bereich der Kunst, selbst dort, wo Kunst im Sinne des Originalitätsprinzips den Anspruch erhebt, etwas völlig Neues zu schaffen. Auf einer sehr grundsätzlichen Ebene betrachtet, baut Kunst immer auf vorhandenen künstlerischen und nicht-künstlerischen Darstellungs-, Ausdrucks- und Verfahrensweisen auf, das Transformieren kann also durchaus als zentrales Prinzip künstlerischer Schaffensprozesse gesehen werden.

In besonderer Weise begegnen wir dem Prinzip der Transformation dort, wo künstlerische Manifestationen bewusst auf vorhandenes „Material“ aus anderen Kontexten, künstlerischen wie nicht-künstlerischen, Bezug nehmen. Etwa wo, um plakative Beispiele zu bringen, eine literarische Vorlage in Musik transformiert wird, ein Musikstück in ein Bild „übersetzt“ wird oder ein Bild tänzerisch interpretiert wird. Der damit verbundene Medienwechsel, von der Sprache in die Musik, von der Musik ins Bildnerische, vom Bild zum Körper, birgt besondere Chancen und Gefahren in sich. Wenn etwa verbal gefasstes Wissen ins Sichtbare, ins Hörbare oder auch ins Körperliche transformiert wird, so ist diese Transformation immer mit Gewinnen und Verlusten verbunden: Aspekte des Ausgangsmaterials gehen verloren, andere kommen hinzu.

Bezogen auf die Thematik der Wissensgenerierung ergeben sich besondere Chancen dort, wo der Medienwechsel auch mit einem Wechsel des Wissens-Modus verbunden ist, wo also etwa der Modus des Sagens in einen Modus des Zeigens umgewandelt wird. Ästhetische Transformationen basieren oft auf der Verknüpfung verschiedener Medien und verschiedener Modi des Wissens. Welche Prozesse diese Transformationen – oftmals unbewusst und im Hintergrund – begleiten und welche spezifischen neue Möglichkeiten der Wissensgenerierung sich dadurch ergeben, wird nun anhand ausgewählter Beispiele aus künstlerisch gestalteten Kinderbüchern zu zeigen sein.

4. Transformieren der Wahrnehmung
 

Beispiel 1: Anne Bertier: Dessine-moi und lettre. Éditions MeMo, Nantes 2004.
Une feuille. © Éditions MeMo 2021.

Das aus dem ABC-Buch der französischen Illustratorin Anne Bertier entnommene Bild zeigt „une feuille“, also ein Blatt. Entsprechend der Tradition der ABCdarien, die es seit dem 16.Jahrhundert gibt und deren zentrales Ziel es ist, Kinder in die Zeichen der Schrift über den Weg der Präsentation des Alphabets einzuführen, wird der Buchstabe F durch das Bild eines Wortes präsentiert, dessen erster Buchstabe das F ist. Mit Hilfe des Bildes soll der Buchstabe verankert werden.

Das Bild ist auf den ersten Blick als das Bild eines Blattes zu identifizieren: Die Form des Blattes, die Konturen des Blattes, seine „Zähnung“, der Blattstiel und die angedeuteten Blattadern – alle diese Merkmale lassen das Blatt eindeutig als solches erkennen. Freilich überrascht die gewählte Farbe, das Blau, das sich bei genauerem Hinsehen als fein schattiert vom dunkleren Lilablauzum helleren Lichtblau entpuppt.

Welche Prozesse stehen hinter dieser Abbildung eines Blattes? Zum einen werden Kategorien der visuellen Wahrnehmung übernommen und in die zweidimensionale Fläche übersetzt: die Kategorie der Form, der Farbe, der Konturen. Es handelt sich hier um Kategorien, die bei der menschlichen Wahrnehmung von realen Objekten eine zentrale Rolle spielen – die Kognitionsphysiologie konnte unterschiedliche Verarbeitungsstränge nachweisen, die genau diesen Kategorien entsprechen. Insofern kann eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der Wahrnehmung eines realen Blattes und der Wahrnehmung des gemalten Blattes hergestellt werdenund auf dieser Basis eine Ähnlichkeitsbeziehung bezogen auf ausgewählte Merkmale eines Blattes. Im Sinne einer ikonischen Abbildung zeigt das Bild ein Blatt. Das Bild steht also für den Modus des Zeigens.

Ein reales Blatt weist allerdings wesentlich mehr Merkmale auf als das hier gemalte Blatt. Was nicht gezeigt wird, ist die möglicherweise nicht ganz so perfekte Form des Blattes, die reale Größe, die reale Farbe, die Beschaffenheit der Oberfläche, die räumliche Ausdehnung, insgesamt die spezifische Materialität. Eine Abbildung trifft also eine Auswahl aus möglichen darstellbaren Merkmalen. Die Selektion der Merkmale führt zu einer Reduktion der Komplexität – in diesem Sinne abstrahieren Bilder von der wahrgenommenen Wirklichkeit. Gleichzeitig lässt sich am vorliegenden Bild auch das Phänomen der bewussten Verfremdung beobachten. Diese betrifft nicht nur die spezifische Farbigkeit des gemalten Blattes, sondern auch seine Größe und seine gewissermaßen idealisierte Oberfläche und Form.

Auswahl von darzustellenden Merkmalen, Reduktion und Abstraktion, Verfremdung – das alles sind Prozesse, die es nahelegen, das Malen eines Bildes als Transformationsprozess zu charakterisieren. Bilder können aus dieser Perspektive als Transformationen der visuellen Wahrnehmung gesehen werden.

Was bewirkt dieser Akt des Transformierens? Das Bild zeigt nicht ein einzelnes, spezifisches Blatt, sondern verweist auf das grundsätzliche Phänomen des Blattseins: seine Ebenmäßigkeit, die Balance der Formen (etwa die Balance zwischen Stiel und Blattadern), die Zartheit. Insofern funktioniert das Bild des Blattes ähnlich wie der Begriff „Blatt“: in beiden Fällen findet ein Akt der Generalisierung statt, der vom Einzelphänomen eines spezifischen Blattes absieht. Und doch gibt es einen grundlegenden Unterschied in der Wirkweise eines Bildes gegenüber der Funktionsweise eines Begriffs. Während im Modus des Zeigens die dargestellten Merkmale direkt auf das sinnliche Phänomen verweisen, dieses in gewisser Weise materiell verkörpern und damit sinnlich erfahrbar machen, sind im Modus des Sagens Begriffe nicht primär sinnlich wirksam, Begriffe bezeichnen (denotieren) Phänomene, ohne selbst unbedingt als sinnlich erfahrbarer Laut- oder Schriftkörper wahrgenommen werden zu müssen.

Doch zurück zum gemalten Bild des Blattes. Ähnlich wie die Sprache abstrahiert es von der einmaligen Erfahrung eines Blattes, aber es nimmt in seiner ikonischen Zeichenhaftigkeit Merkmale von Blättern auf, die sinnlich erfahren werden können. Auf diese Weise können ausgewählte allgemeine Aspekte des Blattseins nachvollzogen werden, möglicherweise intensiver, jedenfalls fokussierter, als wenn uns ein reales Blatt vorgelegt werden würde. Die Transformation der visuellen Wahrnehmung ins Bildnerische führt zu Wahrnehmungserkenntnissen.

5. Transformieren zwischen Zeigen und Sagen

Beispiel 2: Anne Bertier: Dessine-moi un lettre. Éditions MeMo, Nantes 2004. F – une feuille. 
© Éditions MeMo 2021

Das ABC von Anne Bertier sieht für jeden Buchstaben des Alphabets nicht nur ein Bild vor, sondern es präsentiert jeweils auf der gegenüberliegenden Buchseite auch den Buchstaben, um den es geht. Durch die Gegenüberstellung von Buchstabe und Bild ergeben sich neue Ansätze der Interpretation und der Reflexion.

Durch die spezifische Art und Weise, wie Anne Bertier den Buchstaben F präsentiert, nämlich weniger als typografisches Element einer Schrift, sondern vielmehr selbst als Bild, gerät die zuvor ausgeführte Gegenüberstellung zwischen Bild und Sprache bzw. zwischen Zeigen und Sagen ins Wanken. Auffallend ist, dass der Buchstabe und das Bild des Blattes durch eine formale Korrespondenz miteinander verknüpft sind. In der visuellen Gestalt des Buchstabens findet sich die Äderung des Blattes wieder, freilich nicht einfach kopiert, sondern abgewandelt in der Größe, in der Farbe und auch in der konkreten Ausarbeitung. Diese transformativen Differenzen halten – im Sinne einer ästhetischen Erfahrung, die uns das intensive Betrachten des Buches ermöglicht – unsere Wahrnehmung in Bewegung.

Faszinierend ist der Umschlag des typografischen Zeichens F in ein Bild. Plötzlich steht vor uns – in abstrahierter Form – ein Baum, der seine Blätter fallen ließ. Die angedeuteten Äste scheinen sich im Wind zu bewegen. Die bildnerische Form in Kombination mit dem Laut F legt auch eine akustische Assoziation nahe: das sanfte Pfeifen des Windes. Und plötzlich erhält auch das Wort „feuille“ eine zusätzliche onomatopoetische Dimension: Der Anlaut F wird zum akustischen Bild des Windes, der durch den Baum fährt und die Blätter zu Boden segeln lässt.

Umgekehrt entdeckt man nun möglicherweise im Bild des Blattes den Buchstaben F – die angedeutete Äderung des Blattes kann auch als Anspielung auf den Buchstaben gelesen werden. Was Anne Bertier hier auf gekonnte Weise vorführt, sind wechselseitige Transformationen zwischen Buchstabe und Bild, zwischen Schrift und Bild, aber auch zwischen Wort und Bild sowie zwischen Sprache und Bild. Anne Bertier löst die scheinbar starren systematischen Grenzen zwischen Sagen und Zeigen auf und führt uns vor Augen, dass die Grenzen zwischen den Zeichenmodi durchlässig sind. Mit diesem Phänomen der Durchlässigkeit zwischen Diskursivität und Ikonizität hat sich die Philosophin Sybille Krämer intensiv beschäftigt, sie charakterisiert es als „Schriftbildlichkeit“33Krämer 2003, S.157-176 sowie Krämer 2005, S. 23-60..

Anne Bertiers ABC macht auf künstlerische Weise erfahrbar, dass Schrift zu Bildern transformiert werden kann und umgekehrt, dass Bilder als Schrift gelesen werden können. Die Bildlichkeit von Schrift und die Schriftlichkeit von Bildern bringen das Sagen und das Zeigen in einen wechselseitigen Dialog. Es handelt sich hier um einen offenen Dialog, der keinen definierten Anfang und kein definiertes Ende aufweist, sondern der in steter– reziproker – Bewegung bleibt und auf diese Weise unser Wahrnehmen und Denken in Bewegung hält (vgl. hierzu die Überlegungen vom Anfang des Beitrags zu ästhetischen Transformationsprozessen, die zwar als irreversibel zu charakterisieren sind, die aber gleichzeitig ein offenes, wechselseitig wirksames Beziehungs- und Bedeutungsgefüge konstituieren).

6. Transformieren durch Kontextverschiebung
 

Beispiel 3: Stephen T.Johnson: Alphabet City. Puffin Books, New York 1995, Ausgabe 1999.
X – Y – Z. © St. T. Johnson 2021.£

Betrachtet man die ausgewählten, im Fotorealismus gemalten Bilder, ohne den Kontext zu kennen, so wird man sie als konkrete technologische bzw. städtebauliche Objekte identifizieren: ein Strommasten, Straßenbeleuchtung, die Außentreppe eines Hauses. Erfährt man hingegen, dass es sich hier ebenfalls um Bilder aus einem ABC-Buch handelt, so verändert sich vermutlich der Fokus des Blickes. Der identifizierende Blick wird über die konkrete Gegenständlichkeit hinaus Buchstaben erkennen: im konkreten Fall ein X, eine Reihe von Y und zuletzt ein Z. Der Autor dieses Buches zeigt auf seinen Bildern ausschnitthaft architektonische Situationen in New York, die eine Umdeutung der konkreten Objekte in abstrakte Buchstaben ermöglichen.

Ein und dasselbe formale Gebilde kann also doppelt gelesen und verstanden werden. Dabei wird deutlich, dass unsere Wahrnehmung immer von übergeordneten Kategorien gesteuert wird. Die visuellen Reize, die auf unser Auge treffen, erhalten ihre Bedeutung durch Einbettung in übergeordnete Kontexte, die den Rahmen für die Bedeutungszuweisung bilden. Die Bedeutung ist also nicht durch das visuelle Objekt selbst ein für allemal festgelegt, sondern sie wird im Kopf der wahrnehmenden Person generiert.

Kunst spielt oft mit dem Wandel der Kontexte. Vertrautes wird in fremde Kontexte eingebettet und bekommt dadurch neue Bedeutungen, sowohl in denotativer wie in konnotativer Hinsicht. Am vorliegenden Beispiel wird das Ineinander-Spiel beider Kontexte deutlich: der Transformationsprozess wirkt in beide Richtungen und bewirkt ein Oszillieren zwischen verschiedenen Sichtweisen und den damit verbundenen Bedeutungen. Dieses Wechselspiel steht für eine Form der Erkenntnis, die keinen endgültigen Zielpunkt erreicht, sondern die offen und in Bewegung bleibt.

7. Transformieren in die Evidenz

Beispiel 4: Anne Bertier: J’additionne. Éditions MeMo, Nantes 2012.
© Éditions MeMo 2021.

Der Band „J’additionne“ (ich addiere) ist Teil einer Serie von Büchern, die sich mit den grundlegenden Rechenoperationen des Addierens, Subtrahierens, Multiplizierens und Dividierens sowie mit der Idee von Gleichheit beschäftigen (La collection signes-jeux d’Anne Bertier). Ziel ist es, Kindern die Grundidee von Rechenoperationen auf anschauliche und spielerische Weise näher zu bringen.

1 + 1 = 2

Ausgangspunkt für das gesamte Additionsbuch ist die Einheit 1, die durch ein rotes Dreieck dargestellt wird. Mit diesem Dreieck werden sämtliche Rechenoperationen durchgeführt, von 1 + 1 bis 11 + 1. Zu einer bestehenden Grundsumme (das jeweilige Ergebnis der vorangegangenen Rechnung) wird die Einheit 1 hinzuaddiert.

Von Interesse ist nun der Vergleich der Operation, die mit Ziffern durchgeführt wird, mit derselben Operation, die auf der Addition von Flächen (den roten Dreiecken) beruht. Schon das erste Beispiel öffnet die Augen dafür, was die Visualisierung von Zahlen zu leisten imstande ist. Das in abstrakte Zahlen gefasste Wissen wird in konkret sichtbare Flächen übergeführt: die beiden voneinander unabhängigen Dreiecke werden zu einem Quadrat zusammengefügt.

Die Transformation der Addition von Ziffern in eine Addition von Flächen führt zu einem vielleicht überraschenden Ergebnis, aus zwei Dreiecken wird ein Quadrat. Damit ereignet sich ein Kategoriensprung, der an das berühmte Diktum von Aristoteles denken lässt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Man könnte auch von der Emergenz neuer Eigenschaften sprechen.

2 + 1 = 3

Noch deutlicher wird der Kategoriensprung bei der darauffolgenden Operation. Das Quadrat und das Dreieck ergeben nach dem Vorgang der Zusammenfügung ein Haus. Hier ist überraschend, dass aus zwei abstrakten, geometrischen Formen ein konkretes Zeichen für ein konkretes Objekt, das Haus wird. Das Beispiel könnte zum Anlass genommen werden, um über die Unterscheidung zwischen abstrakten und konkreten Zeichen nachzudenken. Ist ein Dreieck tatsächlich ein abstraktes Zeichen? Kann man es sich nicht auch als konkretes Objekt (etwa aus Holz) vorstellen? Und wie verhält es sich mit dem hier präsentierten Zeichen für ein Haus? Im Grunde stellt dieses Zeichen eine extreme Abstraktion dar. Aus der Fülle der Merkmale, die ein Haus ausmachen, werden hier im Wesentlichen zwei herausgefiltert: das Merkmal der Kontur (auf sehr vereinfachte Weise) und das Merkmal der Proportion zwischen Hauskörper und Dach. Die Unterscheidung zwischen abstrakt und konkret ist also keineswegs eindeutig zu vollziehen, sie beruht auf willkürlichen, konventionalisierten Setzungen.

Für beide Beispiele gilt jedoch, dass eine abstrakte Rechenoperation in die Anschaulichkeit übergeführt und transformiert wird. Das Ergebnis der Operation wird im wahrsten Sinne des Wortes „augenfällig“.  Der Prozess des Addierens wird evident. Genau diese Überführung in die Evidenz ist es, die so manche ästhetische Transformation ausmacht. Damit ist eine Einbettung der Thematik in die Wissens- und Erkenntnistheorie gegeben. Denn Evidenz bezeichnet das Phänomen, dass durch Augenschein oder zwingende Schlussfolgerung etwas unbezweifelbar erkannt wird und darauf aufbauend sich eine unmittelbare Einsicht ergibt.

Ästhetische Transformationen können aufgrund ihrer Bezugnahme auf materielle, sinnlich erfahrbare Zeichen Wissen und Erkenntnis in die Evidenz überführen.

8. Ästhetisches Transformieren als Wechselspiel

Die vorangehenden Beispiele beleuchteten ästhetische Schaffensprozesse und die daraus resultierenden ästhetischen Produkte unter dem Aspekt der Transformation, also der Verwandlung von Phänomenen. Aus der Fülle an möglichen ästhetischen Transformationen wurden exemplarisch einige wenige ausgewählt, um sie und die dahinter liegenden Prozesse näher zu beleuchten. Im Fokus standen Transformationen zwischen visueller Wahrnehmung und Bild, zwischen Schriftzeichen und Bildzeichen, zwischen Zahlenzeichen und Bildzeichen bzw. von einer übergeordneten Ebene aus gesehen: zwischen Abstraktion und Konkretion, zwischen Sagen und Zeigen, zwischen verschiedenen Medien und Modi des Wissens.

Das Spezifische an ästhetischen Transformationen liegt darin, dass das Ergebnis des Transformationsprozesses immer wieder auch auf das Ausgangsphänomen zurückverweist. Es gibt nicht nur eine Richtung, in die der Transformationsprozess wirkt. Was uns Anne Bertier in ihrer Gegenüberstellung des künstlerisch gestalteten Buchstabens F und der Darstellung des Blattes direkt vor Augen führt oder auch Stephen T. Johnson in seiner „Alphabet City“– die wechselseitige Bezugnahme zwischen den verschiedenen Zeichenmodi –, gilt für viele ästhetische Transformationen, auch wenn sie die reziproke Bezugnahme nicht explizit thematisieren. Das Ausgangsphänomen bleibt in gewisser Weise im transformierten Zielphänomen sichtbar. Im dargestellten Blatt sind vergangene visuelle Wahrnehmungen von Blättern eingefangen sowie man umgekehrt vor dem Hintergrund des „blauen“ Blattes mit seiner feinen asymmetrischen Äderung möglicherweise reale Blätter in Zukunft anders wahrnehmen wird. Auf das Wechselverhältnis zwischen Ausgangsphänomen und Zielphänomen hat Walter Benjamin bereits 1923 in einem ganz anderen Kontext, nämlich in seiner Auseinandersetzung mit der Thematik des Übersetzens hingewiesen. Original und Übersetzung befänden sich eben nicht in einem eindeutigen Verhältnis von Primärem und Sekundärem, sondern in einem Verhältnis der Reziprozität.44Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. Gesammelte Schriften IV.1. Hrsg. Von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1972. S.12. 

Ästhetische Transformationsbeziehungen können vielfach als reziproke Beziehungen charakterisiert werden. Das Faszinierende besteht oft gerade darin, dass der Prozess der Bezugnahme gewissermaßen sichtbar bleibt, dass er manchmal selbst thematisiert wird. Das in Bewegung bleibende Wechselspiel zwischen verschiedenen Medien und den damit verbundenen verschiedenen Modi des Wahrnehmens, Wissens und Erkennens stellt dabei ein wesentliches Merkmal von ästhetischen Transformationsprozessen dar.

9. Epistemologische Potenziale ästhetischen Transformierens

Im Folgenden will ich die besonderen Potenziale ästhetischer Transformationen nochmals thesenhaft zusammenfassen. Diese Thesen sind nicht als essentialistische Aussagen von „so ist es“ gedacht, sondern sie sind vielmehr als Zwischenstationen in einem Prozess des Nachdenkens zu verstehen und dienen somit als Ausgangspunkt für eine weitere diskursive Auseinandersetzung.

Ästhetische Transformationen nutzen sinnlich erfahrbare Medien, sie generieren und vermitteln verkörpertes Wissen, sie machen Wissen augen- und ohrenfällig, sie schaffen Evidenzen.

Ästhetische Transformationen arbeiten mit dem Prinzip der Kontextverschiebung. Vertraute Phänomene (Objekte, Personen, Situationen, Materialien, Darstellungsweisen etc.) werden in einen neuen Kontext gestellt, damit ergeben sich neue Möglichkeiten der Wahrnehmung, der Bedeutungszuweisung, also auch neue Möglichkeiten der Erkenntnis.

Ästhetische Transformationen schaffen Beziehungen zwischen verschiedenen Medien und verschiedenen Modi der Generierung, Darstellung und Vermittlung von Wissen. Die besondere Chance ästhetischer Transformationen besteht in ihrer Intermedialität und Intermodalität.

Ästhetische Transformationen durchbrechen in ihrer Intermedialität und Intermodalität Automatismen der Wahrnehmung und des Denkens. Die dadurch ausgelösten Störungen und Irritationen führen zu neuen Perspektiven, neuen Wahrnehmungen, neuen Denkmustern und damit zu einem neuen Wissen.

Ästhetische Transformationen generieren nicht nur neues Wissen, sondern – von einer Metaebene aus betrachtet – sie schaffen neue Zugänge zum Wissen und tragen somit zu einem neuen Verständnis von Wissen bei.

    Fußnoten

  • 1Genauere Überlegungen zur Thematik der Transformation im Allgemeinen bzw. zur ästhetischen Transformation in: Ursula Brandstätter: Erkenntnis durch Kunst. Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation. Wien, Köln, Weimar 2013, S.87 ff.
  • 2Goodman 1984, S. 19.
  • 3Krämer 2003, S.157-176 sowie Krämer 2005, S. 23-60.
  • 4Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. Gesammelte Schriften IV.1. Hrsg. Von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main 1972. S.12.
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