Die gemeinsame Arbeit am DFG-Graduiertenkolleg „Das Wissen der Künste“ hört auf, wir blicken zurück. Ein Gespräch über  das Verhältnis von Künsten und Wissenschaften, über Forschung an einer Kunstuniversität, Kritik und Situiertheit von Wissen und über das, was abhanden gekommen ist und wieder aufgefunden wurde. 

aufhören – zurückblicken

Die gemeinsame Arbeit am DFG-Graduiertenkolleg „Das Wissen der Künste“ hört auf, wir blicken zurück. Ein Gespräch über  das Verhältnis von Künsten und Wissenschaften, über Forschung an einer Kunstuniversität, Kritik und Situiertheit von Wissen und über das, was abhanden gekommen ist und wieder aufgefunden wurde.

Kathrin Busch ist Professorin an der UdK Berlin und seit 2015 Teil des Leitungsteams des Graduiertenkollegs. Barbara Gronau ist Professorin für Theorie und Geschichte des Theaters an der UdK Berlin und von 2014 bis 2021 Sprecherin des Graduiertenkollegs. Kathrin Peters ist Professorin für Geschichte und Theorie der visuellen Kultur an der UdK Berlin und seit 2015 stellvertretende Sprecherin des Graduiertenkollegs. Dennis Pohl hat von 2015 bis 2018 am Graduiertenkolleg an seiner Dissertation „Designing Europe. The Architecture of Territory, Politics, and Institutions” gearbeitet, die kürzlich abgeschlossen wurde; er ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der technischen Universität Delft und am Lehrstuhl für Architekturtheorie in Karlsruhe. Verena Melgarejo Weinandt ist Künstlerin, Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Graduiertenkolleg. Sie arbeitet gleichzeitig an einem Projekt gemeinsam mit District* Schule ohne Zentrum an künstlerischen Praktiken rund um Gloria Anzaldúa und einer deutschen Übersetzung ihres Werkes Borderlands / La Frontera: The New Mestiza.

 

Barbara Gronau: Unser Gespräch über die Arbeit des Graduiertenkollegs steht unter dem Stichwort „A bis Z“, „aufhören bis zurückblicken“. Denn nach nunmehr neun Jahren wird das Graduiertenkolleg seine Arbeit an der Universität der Künste Berlin beenden. Damit sind wir eine ziemlich lange Strecke gemeinsam gegangen, die viele interdisziplinäre Tagungen, Symposien und Workshops, Seminare, Ringvorlesungen, eigene Buchreihen, Netzwerke und Allianzen in der Stadt umfasst, und nicht zuletzt 37 Promotionsprojekte gefördert hat. Interdisziplinäres Arbeiten stellt wissenschaftliche Forschung immer auch vor große Herausforderungen, weil es darum geht, über Methoden, Terminologien, auch das Interesse am Gegenstand jeweils für eine andere Disziplin vermitteln zu müssen und vermitteln zu können. Das ist eine gute Übung für die Frage, wie Wissen sich in bestimmten Kontexten situiert und verortet.

Das Graduiertenkolleg hat mit dieser Frage nach dem Wissen der Künste zwei Felder verklammert, die traditionell getrennt waren: die Wissenschaften und die Künste, von denen geglaubt oder angenommen wird, dass beide geradezu gegenteilige Effekte nach sich ziehen, Erkenntnis auf der einen Seite und Erfahrung auf der anderen. Für uns war es wichtig darauf hinzuweisen, dass sich spätestens im 20. Jahrhundert, das ist der Fokus, auf den das Graduiertenkolleg sich konzentriert hat, diese Trennung als unhaltbar erweist, und zwar insofern, als die Wissenschaften und die Künste in strenger Weise aufeinander Bezug nehmen, nicht nur dieselben Methoden teilen, sondern auch dieselben Techniken und dieselben Ziele in sozusagen gegenseitiger Verklammerung anstreben.

Für unsere Forschung war entscheidend, mit einem weiten Wissensbegriff zu operieren, weil die Idee von einem Wissen der Künste eben bei genauerer Betrachtung nicht haltbar ist. Wir haben verschiedene Wissensformen untersucht: diskursives Wissen, körperliches Wissen, habituelles Wissen und situiertes Wissen. Erst in dieser Breite lässt sich abbilden, wie netzwerkartig Wissenschaften und Künste eigentlich immer schon verflochten sind. Vielleicht kannst du, Kathrin Busch, das als die Philosophin unter uns in einen Kontext setzen.

 

Kathrin Busch: Vielleicht könnte man drei Genealogien für ein Wissen der Künste nennen. Erstens gibt es innerhalb der Künste spätestens seit den 1960er Jahren die Tendenz, immer stärker Wissen in die künstlerische Arbeit einzubeziehen und sich auf Theorien zu stützen, so dass Kunst zu einer Wissenspraxis wird. Wenn seit der konzeptuellen Kunst nicht nur der Begriff von Kunst selbst Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung ist, sondern die künstlerische Reflexivität sich auf die institutionellen Kontexte und die gesellschaftlichen Konditionen öffnet, gewinnt auch die Bezugnahme auf ein außerkünstlerisches Wissen für Kunst an Bedeutung. Zweitens hat die Rationalitätskritik, die im 20. Jahrhundert vor allem in der Philosophie, aber auch in den Wissenschaften formuliert wird, Theorie und künstlerisches Wissen einander angenähert. Ausgehend von Nietzsche wird etwa in der Kritischen Theorie oder französischen Philosophie eine dem Wissen selbst innewohnende Gewalt problematisiert und nach neuen Poetiken und Ästhetiken des Wissens gefragt. Außerdem wird in Psychoanalyse und Phänomenologie eine Kritik an der Bewusstseinsphilosophie und der Zentrierung auf ein bewusstes Wissen laut. Verkörpertes Wissen und unbewusstes Denken sind Konzepte, die Verbindungen zu ästhetischen Sinnbildungsprozessen und einer leiblichen Verankerung von Denken herstellen, wie man sie in den Künsten findet. Als dritter Faktor ist der Zuwachs an Wissen in der heutigen Gesellschaft zu nennen: Mitte der 1960er Jahren wird der Begriff der „Wissensgesellschaft“ geprägt, um zum Ausdruck zu bringen, dass Wissen eine bestimmende ökonomische, soziale und politische Größe darstellt. Die Künste sind in die Wissens- und Bildungsökonomien verstrickt. Das zeigt sich heute auch daran, wie künstlerische Forschung institutionalisiert und gefördert wird.

 

B. G.: Für die Fragen, die die Wissenschaften und die Künste verklammert, scheint mir die von Dir genannte selbstreflexive Veränderung der Künste im 20. Jahrhundert entscheidend, und zwar unter anderem in dem Punkt, dass die Vorstellung von künstlerischer Autorschaft sich ja radikal verschiebt. Dazu gehört vielleicht der Zusammenschluss zu künstlerischen Kollektiven, was die Vorstellung einzelner künstlerischer, genialischer Leistung in Frage stellt, und die Arbeit mit Zufallsoperationen oder auch die Anerkennung der technischen Medien und Materialitäten als Mitschreibende oder Co-Autor*innen im künstlerischen Prozess. Es wäre interessant, diese Frage auch auf die Wissenschaften zu übertragen und uns darüber zu unterhalten, inwiefern bestimmte Methoden auch in den Wissenschaften neu gefunden werden müssen, wenn wir uns mit solchen Praxisprozessen des 20. u. 21. Jahrhunderts beschäftigen. Die klassischen werkimmanenten Analysen greifen hier nicht, wenn sie diese Selbstreflexivität der Künste im 20. und 21. Jahrhundert nicht einlösen können. Welche methodischen Herausforderungen bringt eigentlich die Frage nach einem Wissen der Künste für uns als Wissenschaftler*innen mit?

 

Dennis Pohl: Methodisch wird das Schreiben über die Künste insbesondere durch den Einbezug von Medien, Techniken, Apparaten und auch Normen verändert, die künstlerische Praktiken umgeben. Nicht mehr Intentionen oder Ideen der Künstler*innen stehen im Zentrum der Betrachtung, sondern das Wissen, welches in die Produktion der Werke einfließt oder aus ihnen resultiert. Deshalb erfordert es einen Perspektivwechsel, sich von einer Ideengeschichte wegzubewegen und einer Wissensgeschichte zuzuwenden, welche die Künste und insbesondere die Architektur in einem Macht-Wissens-Komplex situiert. Autorschaft, Materialität und Produktionsbedingungen sind eben keine neutralen Aktanten, die unhinterfragt gegenhegemoniale Praktiken hervorbringen, sondern verlangen nach einer Situierung des kritischen Potentials der Künste. Künstlerische Praktiken können genauso Machtstrukturen in ästhetische Wahrnehmung einschreiben, wie sie epistemische Grundannahmen der Diskriminierung enttarnen können. Dies verlangt dem Schreiben über die Künste umso mehr begriffliche Nuancen ab, um diese Situiertheiten fassen zu können, ohne die eigene Rolle darin zu vernachlässigen.

 

Verena Melgarejo Weinandt: Ja, ich finde, dass die Frage gut anschließt an das, was Kathrin vorher gesagt hat. Es geht dabei auch um einen Blick zurück, wo und wann in der Gesellschaft schon Praktiken oder Wissensformen existieren oder existiert haben, in denen  Kunst und Theorie nicht voneinander getrennt wurden. Aus einer dekolonialen Perspektive würde ich das „Neue“ in der Methode sogar hinterfragen. Es geht gar nicht so sehr darum, die Beziehung zwischen Wissen und Kunst neu zu definieren, sondern etwas auszumachen, was bereits existiert.

Diese Perspektive war für mich naheliegend, weil ich bildende Kunst studiert habe und anschließend Theorie. Ich konnte mein künstlerisches Wissen durch eine andere Wissensform ergänzen. In meiner theoretischen Forschung war der Ausgangspunkt eine Beschäftigung mit der Theoretikerin und Literatin Gloria Anzaldúa. Ich wollte mir ihre Zeichnungen innerhalb ihres Werks anschauen und habe festgestellt, dass das Visuelle und die Wissensproduktion überhaupt nicht zu trennen sind. Ich habe gemerkt, dass ich ihr Schaffen nicht nur als eine künstlerische Arbeit betrachten kann. Eigentlich artikuliert Anzaldúa eine Beziehung zwischen Kunst und Wissen, die sich außerhalb westlicher Wissens- und Kunstdefinitionen bewegt. Dieses Wechselverhältnis, diese Bezugnahmen sind ihrer Arbeit inhärent. Hier liegt das große Potential: Wir wissen eigentlich längst, dass es viele verschiedene Wissensformen gibt und dass die hegemoniale Definition den Wissensbegriff reduziert, verkürzt. Dabei ist der Wissensbegriff  längst aufgebrochen worden, vor allem in zeitgenössischen Kunstpraktiken, die sich nicht nur auf westliche Referenzen beziehen, wird dieser Bruch häufig deutlich.  Aber es fehlt ein institutionalisierter Apparat, dem Raum und Sichtbarkeit zu geben. Das liegt an einer konfliktiven Position gegenüber dem , was akademisches Wissen heißt.

Gloria Anzaldúa: Borderlands / La Frontera: The New Mestiza in Maque Pereyra’s hands. Photo: Verena Melgarejo Weinandt

Kathrin Peters: Ja, genau. Auch in den Wissenschaften hat längst ein Reflexionsprozess eingesetzt. Zum Beispiel, wenn mit dem im Begriff der écriture Schrift und Schreiben als gar nicht neutrale Verfahren in den Blick rücken, wie es im Kolleg Annika Haas bei der Philosophin Hélène Cixous untersucht. Wie verhält sich das Schreiben zu dem, was Wissen oder Erkenntnis heißt? Auch die Wissenschaftsforschung und Wissenspoetologie ist in diesem Zusammenhang wichtig. Denn die Wissenschaftsforschung hat deutlich gemacht, dass auch die Naturwissenschaften mit Materialitäten umgehen und deren Eigendynamiken, mit Versuch und Irrtum, mit ästhetischen Anteilen, die in Wissensproduktionen hineinspielen –  auch in solche, die als unhinterfragbar gelten, als selbstevident. Die Pandemie hat uns ja gezeigt, wie prozesshaft naturwissenschaftliches Wissen entsteht. Wir können auch an die Geschichtswissenschaft denken, dass nämlich fiktionale und ästhetische Anteile in jede Historiografie eingebunden sind.

Also, wenn es um das Verhältnis von Künsten und Wissenschaften geht, ist wichtig zu sehen, dass es wissenschaftskritische und methodenreflexive Wissenschaften gibt. Das ist schließlich auch für unsere Arbeiten als Geistes- und Kulturwissenschaftler*innen zentral. Es öffnet den Blick dafür, wie wiederum die verschiedenen Künste mit den eigenen Verfahren reflexiv umgehen. Ich möchte in der Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaften und Künsten diese Binnendifferenzierung betonen. Die Wissenschaft gibt es ja nicht, so wie auch die Künste in sich sehr different sind.

 

B. G.: Ja, das ist unheimlich wichtig, darauf hinzuweisen. Wir hatten im Graduiertenkolleg sehr viele Projekte, die transdisziplinär an ihren Fragestellungen gearbeitet haben und bestrebt waren, die Methoden des eigenen Faches weiterzuentwickeln, zu befragen, oder mit Hilfe anderer Methoden anzureichern. Mir fällt beispielsweise sofort ein, dass in dem Projekt von Christina Dörfling das Bauen von historischen Schwingkreisen, das Nachbauen von elektrischen Musik-Objekten notwendig für den Erkenntnisprozess war – um herauszufinden, welche Entwicklungslinien dieser Schwingkreis überhaupt genommen hat. In dem Projekt von Lisa Großmann zur Theaterprobe ist das Einführen von Methoden der Probenethnografie etwas, das sich im Feld der Theaterwissenschaft gerade erst etabliert, weil das Fach normalerweise auf die Inszenierung und das Werk geguckt hat und nicht auf den Prozess, in dem es überhaupt dazu kommt. Oder auch das Projekt von Robert Patz, der zu Entwürfen in der Architektur mit VR-Technik arbeitet und dafür künstlerische Workshops veranstaltete, in denen es praxisorientiert darum ging, auszuprobieren, welche Formenstellung oder Modularisierung von Raum in 3D überhaupt möglich sind. Das sind ja nicht nur – wie in Geistes- und Kulturwissenschaften üblich – Auseinandersetzungen über Texte oder über Werkanalysen, sondern es sind auch Versuche, die Praxis in die eigene wissenschaftliche Methodik hereinzuholen. Da entstehen transdisziplinär ausgerichtete Forschungen, die sich nicht mehr nur einer Disziplin zuordnen lassen.

Das Graduiertenkolleg kann ein unterstützender Rahmen für eine solche Forschung sein. Das hat auch damit zu tun, dass wir diese Forschung eben an einer Kunsthochschule durchgeführt haben, und das wäre vielleicht die nächste Frage: Wie gestaltet sich Forschung an Kunsthochschulen, wie gestaltet sie sich vielleicht anders als an Universitäten, welche Forschung brauchen die Kunsthochschulen heute und in Zukunft? Wenn wir davon ausgehen, dass es in Deutschland 51 Kunsthochschulen gibt, die seit 1976 den Universitäten gleichgestellt sind, dann haben wir ein großes Forschungspotential, das sich immer in der Auseinandersetzung mit der künstlerischen Praxis entwickelt. Das gilt sowohl für die Wissenschaftler*innen, die an Kunsthochschulen im deutschsprachigen Raum arbeiten, als auch für all jene Künstler*innen, die mit Formen der hybriden Forschung oder des artistic research Fragen der Forschung in ihre künstlerische Praxis hineinholen und damit auch neue Beziehungen zur Gesellschaft und einer Verortung der Künste in der Gesellschaft suchen. Was bietet eine Kunsthochschule für die wissenschaftliche Forschung? Das habt ihr, Verena und Dennis, als Promovierende an der UdK Berlin ganz konkret erlebt.

 

D. P.: Du hast bereits Beispiele von Promotionsprojekten genannt, die sich mit Mischformen, mit neuen Experimentalanordnungen auseinandersetzen. Ein anderer Vorteil, an einer Kunsthochschule zu promovieren, war die Möglichkeit, Experimente anzustellen, um die Grenzen von Theorien zu untersuchen. Ich erinnere mich an ein Seminar, das ich zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Georg Dickmann gemacht habe, zu fiktionalen Formen der Biopolitik, in denen wir Science-Fiction und Architektur untersucht haben. Wir haben mit diesen Beispielen Theorien von Michel Foucault über unter anderen Donna Haraway und Gilles Deleuze zu Biopolitik hinterfragt. Was steuern die künstlerischen Praktiken an Reflektionen und Wissensformen eigentlich bei? Welche Theoriebildung findet in Praktiken beispielsweise aus der Popkultur statt?

 

V. M. W.: Ich kann mich da nur anschließen. Als bildende Künstlerin, als Kuratorin und mit meiner wissenschaftlichen Arbeit bin ich in den Grenzbereichen zwischen diesen Praktiken und Wissensformen verortet. Es gibt wenig Kontexte, in denen ich dem nachgehen kann. Auch die Frage der Verfahren halte ich für zentral. Die Kunstuniversitäten – vielleicht auch speziell die UdK – haben eine Möglichkeit, Zugang zu schaffen, weil die Definitionen von artistic research oder künstlerischer Forschung darüber bestimmen, wer mitmachen darf. Es müsste ein Raum geschaffen werden, in dem Positionen Platz haben, die zum Beispiel nicht dem westlichen Kunstverständnis und einem westlichen Theorieverständnis entsprechen, aber deren Wissens- und Kunstproduktion nichtsdestotrotz extrem relevant sind. Es könnte eine Öffnung stattfinden für marginalisierte Wissensformen, die es sonst schwer haben, in einen vom Kanon geprägten Kontext hineinzufinden. Für mich war es ein großes Glück, hier arbeiten zu können, aber ich habe auch gesehen, was noch alles fehlt.

Photoperformance Interfaces_Entretelas I, Verena Melgarejo Weinandt, 2017 Photo: Manuel Carreon Lopez und Verena Melgarejo Weinandt
Filmstill aus Trenzación, Verena Melgarejo Weinandt und Maque Pereyra 2017

B. G.: Ich meine, das ist auch, was der Wissenschaftsrat in seiner Stellungnahme im Frühjahr diesen Jahres für die deutschen Kunsthochschulen ausgesprochen hat: nämlich stärker Forschung in den Kunsthochschulen zu implementieren und zwar sowohl auf einem wissenschaftlich hohen und exzellenten Niveau, als auch in dem artistic research-Feld. Es kann dabei durchaus zu Synergien kommen, die wichtig sind für die Frage, welche Wissensformen eigentlich marginalisiert werden. Wir haben mit unserer Forschung versucht zu zeigen, wie relevant die Frage nach Wissensformen der Künste ist und wie viele Felder darin noch unentdeckt sind.

Kathrin Busch, Du hast Dich ja sehr viel mit artistic research beschäftigt. Was würdest Du zu den Grabenkämpfen zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung sagen?

 

K. B.: Ich würde die derzeitige Situation vielleicht ein bisschen anders beschreiben, nämlich dass sich die Weise, wie Kunst produziert und rezipiert wird, schon längst in Richtung auf das Epistemische verschoben hat. Jacques Rancière hatte für die Moderne von einem ästhetischen Regime der Künste gesprochen – Kunst werde im Hinblick auf das Ästhetische und die Aufteilungen des Sinnlichen beurteilt. Für die Kunst seit den 1960er Jahre haben sich die Kriterien hin zu denen des Wissens verschoben. Man könnte von einer Neuaufteilung des Wissbaren sprechen, in die die Künste involviert sind. Man geht heute mit einer veränderten Haltung in Ausstellungen oder Theateraufführungen, nämlich mit dem Anspruch, Erkenntnisse zu gewinnen. Kunst ist mit dem Anspruch eines kritischen Wissens verbunden. Es haben sich epistemische Kriterien in der Produktion und Rezeption von Kunst durchgesetzt. Deshalb sind Ausstellungen häufig thematisch ausgerichtet und verfahren – wie am Haus der Kulturen der Welt in Berlin – essayistisch. Mit dieser Verschiebung vom Ästhetischen zum Epistemischen kommen neue Maßstäbe in der Beurteilung von Kunst zum Zuge. Wie konform oder deviant ist das künstlerische Wissen? Findet eine Arbeit an den Grenzen des Wissens statt? Kommen andere, nicht-westliche oder queer-feministische Epistemologien zum Zuge? Diese Fragen gewinnen innerhalb der Kunst immer mehr an Bedeutung.

 

K.P.: Darf ich kurz nachfragen, weil du das Haus der Kulturen der Welt genannt hast als Beispiel: Ist das HKW nicht ein sehr spezieller Ort, zu dem es sicherlich viele Anknüpfungspunkte gibt aus unserer Arbeit heraus, aber kann er für den Kunstbetrieb einstehen? Daher eine Rückfrage: Von welcher Form des Wissens sprichst du?

 

K. B.: Ich meine ein künstlerisches Wissen, nicht ein Wissen über Kunst, sondern Kunst, die selbst mit und an Wissen arbeitet. Ich denke, das unterscheidet die künstlerische Forschung von der Selbstreflexivität, wie sie für die moderne Kunst kennzeichnend ist. Die heutige Kunst bezieht ein außerkünstlerisches Wissen in ihre Praxis mit ein und zielt auf Erkenntnisse, die über das Feld der Kunst hinausgehen. Damit verändert sich auch das Verhältnis zu den kunstbezogenen Wissenschaften. Wenn Kunst selbst zu einer Wissenspraxis wird, dann muss sich auch das Wissen über Kunst, das seinen Ort in Kunsttheorie oder Kunstkritik hat, verändern. Das berührt die Frage, die Barbara eben schon angesprochen hat, und die wir uns im Kolleg immer wieder gestellt haben: Was bedeutet es in Bezug auf die eigene Wissenspraxis, dass die Künste selbst Wissen produzieren? Du hattest, Kathrin Peters, eben schon erwähnt, dass die ästhetischen Bedingungen der Wissenschaften in neueren Epistemologien untersucht werden. An einer Kunsthochschule kann man darauf reagieren, indem man die Grenzen zwischen Wissenschaft und Künsten porös werden lässt.

 

K. P.: Im Verlauf der gemeinsamen Arbeit hat sich für mich deutlich herausgestellt, dass es immer um verschiedenen Bereiche des Wissens geht: um das Wissen über etwas, das außerhalb der Kunst liegt, aber immer auch um eine Reflektion des Gemacht- und Geworden-Seins, also immer auch eine Reflektion des Ästhetischen. Das gilt für die Künste, aber auch in der Kunstwissenschaft oder Theaterwissenschaft ist der Fokus nicht so sehr, über etwas zu arbeiten, als mit und durch zum Beispiel Theorien oder Kunst zu arbeitet.

Wir haben immer darauf geachtet, dass in der Rede vom Wissen der Künste oder der künstlerischen Forschung nicht plötzlich ein Zerrbild von Wissenschaft entsteht, die nur noch und seit jeher objektivistisch und positivistisch unterwegs wäre. Das stimmt ja nicht. Insofern ist es wichtig, diese Querverbindung zwischen kritischen Wissenschaften und kritischen Künsten herzustellen.

 

K. B.: Du hast selbst auch eine künstlerische Praxis, Barbara, wie verbindet sie sich mit der wissenschaftlichen Praxis? Wir haben hauptsächlich darüber gesprochen, dass Wissen und Theorie für die Künste relevant werden, und vielleicht könnten wir den Blick einmal umkehren und danach fragen, welche künstlerischen Praktiken für uns wissensrelevant werden.

 

B. G.: Das kann ich vielleicht nur allgemein beschreiben. An einer wissenschaftlichen Universität bedeutete die Position als Lehrende, mich ausschließlich innerhalb des Systems der Geisteswissenschaften zu  verorten, auf die immanenten Diskurse Bezug zu nehmen und innerhalb dieser nach Anerkennung zu suchen. Das sind die Stufen, in denen Wissenschaft funktioniert. In einem künstlerischen Lehr- und Forschungskontext verändern sich die Umgebung, das Ziel und die Partner*innen von Lehre und Forschung; da treffen verschiedene Wissensformen aufeinander und es ist wichtig, eine Verbindung zwischen beiden Bereichen zu entwickeln. Gemeinsame Interessen und Praktiken können da ein Schlüssel sein. Nicht umsonst hat mich das zu der Frage nach dem „Üben“ geführt, weil das Üben eine genuin künstlerische Wissenspraxis ist, die aber zu wenig diskursiviert und reflektiert wird. 

 

K. B.: Aber du beginnst nicht darüber nachzudenken, inwiefern Übung Grundlage des wissenschaftlichen Arbeitens ist?

 

B. G.: Doch, interessant wäre es ausgehend von dem Feld der Künste eine Schleife in die Wissenschaften zu machen, weil die natürlich selbst diskursive Übungen sind. Das eine sind artistische oder auch ästhetische Praktiken, das andere sind diskursive Praktiken, in denen wir als Wissenschaftler*innen geschult wurden. Die Frage ist, wie können wir das verbinden und welche Veränderungen auch in der Vorstellung von diskursiven Praktiken können wir erreichen, wenn wir auf künstlerische Praktiken gucken…

 

V. M. W.: Ergänzend zur HKW-Debatte eben wollte ich noch sagen, dass ich nicht den Eindruck habe, dass viele Künstler*innen allein im Feld der zeitgenössischen Kunst tätig sind oder sein können. Die meisten Ausstellungskontexte sind themenorientiert. Es geht darum, ein Thema zu erarbeiten, sich mit einem Thema zu beschäftigen. Diese Ausstellungen haben oft Settings, die dazu führen, dass Menschen im künstlerischen Bereich unterschiedlichsten Tätigkeiten nachgehen. Wir werden an Universitäten eingeladen, um über unsere Arbeit zu sprechen, wir werden eingeladen, an Publikationen teilzunehmen. Es gibt viel Vermittlungsarbeit. Die künstlerische Praxis kann nicht mehr isoliert betrachtet werden, als eine, die nur im Atelier stattfindet, sondern es ist ein komplexes, sich überschneidendes Tätigkeitsfeld geworden. Die meisten Personen, die im künstlerischen Kontext tätig sind, müssen vielfältig aktiv sein, um davon leben zu können.

Und zur verallgemeinernden Vorstellung von dem, was Wissenschaft ist: Es könnte helfen, den Begriff der epistemischen Gewalt hineinzubringen, weil es ja nicht um die Wissenschaft per se geht, sondern um die Verfahrenheit von Wissensproduktion –  also wie wird Wissen hergestellt. In dieser Verfahrenheit existieren verschiedene Gewaltelemente, die von unterschiedlichsten Positionen adressiert und behandelt wurden. Für unseren Kontext im Kolleg war zum Beispiel eine feministische Kritik wichtig: Hinter einer normalisierten, hegemonialen Form von Wissensproduktion kann sich eine patriarchale Struktur verstecken und erhalten, indem sie universelle Annahmen postuliert, „objektiv“ ist und dabei den eigenen Standpunkt nicht sichtbar macht. Das ist die Kritik von Donna Haraway, als eine unserer wichtigsten Referenzen. Diese Kritik macht deutlich, dass es wichtig ist, den eigenen Standpunkt mitzuartikulieren oder mitzudenken in der eigenen Wissensproduktion, weil sich sonst eine unsichtbar gemachte Gewaltstruktur fortsetzen kann.

Eine Gewaltebene, mit der ich mich viel auseinandersetze, ist, wie in Wissensformen Gewalt an indigenen Menschen impliziert ist und sich durch diese fortsetzen kann. Das Wissen indigener Communities wird angeeignet, gleichzeitig wird die Urheber*innenschaft unsichtbar gemacht. Das  Wissen indigener Menschen fließt zwar in den akademischen Kontext ein, gleichzeitig verbessern sich deren Realitäten und Kämpfe überhaupt nicht. Die Wissenschaft hatte einen Anteil daran, das Wissen indigener Menschen kategorisch zu delegitimieren, wie zum Beispiel spirituelles Wissen, das einem rationalen Wissen untergeordnet wird, wodurch auch indigene Menschen an sich delegitimiert wurden.

Es ist essentiell, die Pluralität von Wissen hervorzuheben. Wenn wir uns den Wissensbegriff noch einmal anschauen, dann haben wir auch die Chance zu überlegen: Wo sind hier Wissensformen, die marginalisiert und unsichtbar gemacht worden sind, die aber strukturell dazu beitragen, dass ein dominantes Machtverhältnis aufrechterhalten wird? Da geht es um die Kolonialität des Wissens, also um ein koloniales Erbe, das sich weiterträgt und durch Wissen aufrechterhalten und etabliert wird.

 

K. P.: Ja, das ist  wichtig. Es sind ja Fragen, die uns gerade in der letzten Phase des Kollegs sehr beschäftigt haben. Wir haben immer wieder über den Begriff des Verlernens und unlearning oder delinking gesprochen. Verena, du hast ja auch einen Workshop mitkonzipiert zu dem Thema, sharing/learning [teilen/lernen: Methoden des Kollektiven in Kunst, Wissenschaft und Aktivismus, Juni 2019], bei District, hier in Berlin. Was verbindet sich damit ?

 

V. M. W.: Ich hab ja diesen Begriff verlernen ausgesucht [für das Glossar], war dann aber nicht mehr so glücklich damit, weil ich glaube, dieses Verlernen funktioniert eigentlich nicht. Es geht nicht darum, ein bestimmtes Lernen in einer Negativbewegung wieder zu entfernen …

 

K. P.: … aber es heißt ja nicht ent-lernen, es heißt ver-lernen, so wie ver-knoten …

 

V. M. W.: … genau, das finde ich total wichtig, dass es nicht darum geht, die verschiedenen Wissensformen voneinander zu trennen, sondern darum, ein Miteinander zu denken. Die Konferenz, die wir bei District* Schule ohne Zentrum organisiert haben, war ein Versuch, ein Ausprobieren. Was die Künste – für mich zumindest – leisten können und oft geleistet haben, ist, andere Methoden in der Hand haben zu haben, um andere Formen von Wissen zu produzieren, die mit dieser epistemischen Gewalt brechen können, ihr etwas entgegen setzen oder sie anders sichtbar machen können. Wir haben zum Beispiel die AWO-Theaterlinge zu sharing/learning eingeladen, eine Theatergruppe von Menschen mit Behinderungen. Wenn ich mich auf deren Formen von Wissensproduktion einlasse, sehe ich, wie viel ich verlernen muss, weil ich selber schon einen Begriff habe von dem, was Lernen bedeutet. Da entsteht schnell ein Unwohlsein, vor allem, wenn Menschen aus vielen verschiedenen Disziplinen zusammenkommen, und dann auf einmal Theaterübungen machen. Wir sollten uns zum Beispiel öffnen und über unser Privatleben reden, oder Bewegungen machen miteinander, die wir in einem wissenschaftlichen Kontext, wenn wir in den Räumlichkeiten des Graduiertenkollegs sitzen, nie machen müssten. Da entsteht ein Rütteln an dem, was eigentlich Normalität ist für uns im Hinblick auf Wissensproduktion, und da gibt es extrem viel zu verlernen.

 

K. P.: Es geht auch darum, Qualitätsmaßstäbe durcheinander zu bringen, das ästhetische Urteil, das ja in aller Regel intuitiv erfolgt, zu verlernen. Mir erscheint es auch wichtig zu betonen, dass es nicht darum geht, auf irgendwelche Ursprünge zurückzugehen. Dann wären wir schnell bei einem essentialistischen Begriff vom Wissen bestimmter Gruppen. Ich finde den Begriff der Provinzialisierung von Dipesh Chakrabarty anregend. Mit ihm lassen sich Hegemonie- und Dominanzverhältnisse befragen und auch verkehren und verwickeln.

 

V. W. M.: Genau. Was ich von den AWO-Theaterlingen gelernt habe, ist ein Hinterfragen von Zeitlichkeit. Sie haben andere Zeitmaßstäbe, in dem was sie tun und wie sie es  tun. Das hat bei mir ein Hinterfragen von Produktivitätsbegriffen ausgelöst: Wo positioniere ich mein Bedürfnis nach kollektivem Schaffen im Maßstab zu dieser Produktivität? Bei der Theatergruppe von Menschen mit Behinderungen heißt Kollektivität in erster Linie: alles muss gemeinsam gemacht werden, alle müssen mitkommen können, alle müssen die Übung machen können. Das ist schon eine große Verschiebung. Was mache ich jetzt mit diesem Wissen, das ich da erlernt habe? Es geht nicht darum, das Eine zu verwerfen, sondern zu fragen, was die Zeitlichkeit und Kollektivität für die Kontexte, in denen ich agiere, für mein Schaffen, für mein Schreiben, für meine künstlerische Praxis bedeutet. Kann ich überhaupt etwas verändern? Also diese Hin- und-Her-Bewegung  kann nur aus einer situierten Position heraus stattfinden.

 

B. G.: Es ist gut, noch einmal über sharing/learning zu sprechen. Ich erinnere mich, dass ich am Ende der Tagung das Gefühl hatte, dass das für unsere wissenschaftliche Forschung – ich sage mal – so mittel ertragreich war. Es gab ja eigentlich nur Panels und Workshops und keine Vorträge.  Aber als ich später mit jemandem über den Kunstraum District sprach, habe ich bemerkt, dass sharing/learning eine der Veranstaltungen war, von der ich am meisten erinnern konnte. Wenn wissenschaftliche Tagungen immer auch eine Form von Ritual bilden, in die wir alle hinein habitualisiert sind, dann ist es interessant, diesen Rahmen zu erweitern oder aufzulösen, um andere Erfahrungsdimensionen zu ermöglichen. Ich hab daraus gelernt, dass für bestimmte Fragestellungen wissenschaftliche Formate nur ganz bedingt tauglich sind. Wenn ich marginalisierte Positionen oder Formen des Verlernens adressieren möchte, sind praktische Begegnungen tauglicher als das an Fußnoten reiche Referat.

 

K. P.: Ich würde gerne bei der Frage der Situiertheit bleiben. Es gibt bei Donna Haraway eine Passage, in der sie sagt, wir sollten nicht denken, dass, sobald wir eine Perspektive von unten einnehmen und uns mit marginalisierten Gruppen solidarisieren, wir dadurch auf der ‚richtigen’ Seite stehen würde. Das finde ich eine wichtige Warnung. Es gilt, jede einzelne Perspektive zu betrachten, mit anderen ins Verhältnis zu setzen und als kritikwürdig zu verstehen. Da schließt die Frage an, die uns auch immer wieder beschäftigt hat im Kolleg, nämlich, ob die Künste immer schon mit einer Position der Kritik verbunden sind. Oder gibt es nicht vielmehr auch künstlerische und ästhetische Praktiken, die Machtzusammenhänge eher herstellen. Dennis, könntest du aus der Perspektive deines Projekts zur Architektur der EU dazu etwas sagen?

Offizieller Empfangsraum der Europäischen Kommission. © Foto vom Autor, 2018.

D. P.: Ich habe mich in meiner Dissertation mit der Frage beschäftigt, welchen Beitrag Architektur zum europäischen Regieren geleistet hat. Da gab es an ganz vielen Stellen diese direkte Verbindung zur Stabilisierung von in gewisser Weise hegemonialen Machtzuständen durch Architektur. Architektur spielte historisch eine entscheidende Rolle dabei, die Vorstellung und Funktionsweise von Europa zu definieren, als ein von hoher Dynamik geprägtes, kulturtechnisches Ensemble aus Infrastrukturen, überlagerten Netzwerken und verdichteten, technischen Apparaturen. Ein Beispiel, das das besonders verdeutlicht, ist, wie die europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft in den 1950er Jahren versucht hat, die Bauindustrie an die Stahlproduktion zu koppeln, indem man Architekten eingeladen hat, sich mit partizipativen Projekten auseinanderzusetzen. Man hat also Stahlarbeiter einbezogen in die Planung dieser Stahlgebäude, die aber am Ende industrialisiert werden sollten. Diese Bauweise unter massivem Stahleinsatz sollte nicht nur die Blaupause künftiger Regierungsarchitektur und ihrer Materialien sein, sondern präsentierte sich gleichsam als Massenmedium, um die migrierenden Stahlarbeiter in Europa zu beheimaten. Da würde ich auch sagen, dass es künstlerische Praktiken sind, die, auch wenn sie mit einer partizipativen Gegenöffentlichkeit operieren, nicht zwingenderweise kritisch sind gegenüber dem, was einen Wissens-Macht-Komplex ausmacht.

Paul Henri Spaak, First President of the Parliamentary Assembly from 1949 to 1951 / Paul Henri Spaak, Premier Président de l’Assemblée parlementaire de 1949 à 1951
Einweihung der TV Studios durch die CEC Mitglieder. Photograph: Christian Lambiotte © European Communities, 1984.

K. P.: Barbara, magst du ergänzen? Zum Theater als Ort der Öffentlichkeit oder eben Gegenöffentlichkeit?

 

B. G.: Natürlich gibt es immer noch ganz gouvernementale und kulturindustrielle Formen von Ästhetik in den Künsten im 21. Jahrhundert. Die jüngeren Diskussionen um Machtmissbrauch in den Stadt- und Staatstheatern zeigen außerdem, wie sich diese Probleme  auch sechzig Jahre nach der Erneuerung der Künste und Institutionen fortschreiben und dass sie den Strukturen selbst inhärent sind. Warum gibt es fast keine Frauen oder Personen of Colour als Theaterintendant*innen? Weshalb sind Darsteller*innen sexualisierenden oder rassifizierenden Handlungen ausgesetzt? Was ist da eigentlich immer noch los in diesem Medium?

Umgekehrt lässt sich aber für die darstellenden Künste auch daran erinnern, dass in den letzten Jahrzehnten Fragen der Partizipation, der Dekolonialität und Diversität immer stärker adressiert wurden. Wem gehört die Bühne? Was wird durch wen auf welche Weise dargestellt? Gerade Fragen der Repräsentation werden im zeitgenössischen Theater – auch weil es eine kollektive öffentliche Kunstform ist – intensiv diskutiert.

 

K. P.: Ich würde zuletzt gerne an Kathrin Busch die Frage nach einem affektiven Wissen richten. Auch das ein Konzept, das in den letzten Phasen des Kollegs wichtig geworden ist, besonders ausgehend von Paul B. Preciados Texten. Die Frage des Körperwissens, der embodied knowledges, spielt hier hinein. Das sind Wissensformen, die sich aus der Opposition Fakt versus Fiktion, die in Wissensfragen oft verhandelt wird, herausnehmen, und Praktiken wie die der Fabulation aufgreifen. Die Texte von Preciado stellen selbst schon eine hybride Form dar, die für wissenschaftliches Schreiben, für Theoriebildung ungemein interessant ist.

 

K. B.: Ja, Affekt und Wissen stehen sich nicht mehr als unvereinbar gegenüber. Zum einen ließe sich affektives Wissen mit Situiertheit verbinden: nicht, wie situiere ich mich, sondern wie werde ich durch die Ansprüche anderer situiert. Das berührt den epistemischen Stellenwert von Affizierungen, die zur Wissensproduktion aufrufen, und von Verletzlichkeit als sensibler Kondition des Wissens. So verstanden steht künstlerische Wissensproduktion in ethischen oder auch politischen Kontexten – das betrifft die Frage, die Verena angesprochen hat, nämlich: Wem dient die Berücksichtigung von marginalisiertem Wissen?

Zum anderen entstehen ausgehend vom affektiven Denken oder affizierten Wissen andere Schreibweisen. Parallel zum Theoretisch-Werden der Kunst vollzieht sich ein Künstlerisch-Werden der Theorie. Dies findet man in Preciados Testo Junkie in einer Schreibweise realisiert, die er selbst als Körper-Essay bezeichnet. Er schreibt nicht nur essayistisch, sondern greift in den Körper selbst experimentierend ein, um sein Denken zu transformieren. Er macht das mit den Mitteln und ausgehend von den Machtformen, die er für die Gegenwart diagnostiziert. Er spricht von einem pharmapornografischen Regime und führt in sein autofiktionales Schreiben mit der Einnahme von Testosteron pharmazeutische Stoffe ein, ebenso wie er seine Sexualität Teil der Schreibszene sein lässt. Das ist sehr interessant, weil das, was er als theoretisches Wissen produziert, zugleich auch eine körperlich-affektive Ebene hat und über die pornografischen Beschreibungen auch die Lesenden affiziert.

 

B. G.: Würdet ihr nicht auch sagen, dass wir vielleicht in einem institutionellen Sinne aufhören, aber trotzdem weiter nach vorne gehen? Ich könnte für mich selber nicht sagen, dass das Aufhören, das sich jetzt institutionell mit dem Ende des Graduiertenkollegs verknüpft, bedeutet, dass hier Dinge zur Ruhe oder zur völligen Klärung gekommen sind. Die Unruhe ist so groß geworden, dass sie noch für die nächsten Jahre reicht und es sind eher mehr Unbekannte im Raum als Antworten, die etwas erledigt haben. Im Zurückblicken stecken Fragen der Zukunft und für die Zukunft.

 

K. P.: Ja, es ist etwas entstanden und verloren gegangen. Das „Das“ aus „Das Wissen der Künste“ haben wir verloren, aber wir verlieren letztlich auch den Begriff des Wissens …

 

B. G.: Ja, vielleicht ersetzen wir den …

 

K. P.: … jedenfalls können wir ihn nicht mehr aussprechen, ohne Wissenskritik und Rationalitätskritik im selben Atemzug zu nennen, und ohne über das Nicht-Wissen, das Unwissen, die Ignoranz zu sprechen. Ich würde das als Forschungsertrag beschreiben.

 

B. G.: Das klingt gut!

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Index von Ausgabe #10