Längst ist das Kuratieren nicht mehr nur auf die heiligen Hallen des postbürgerlichen Kunstbetriebs beschränkt, sprich: auf Museen, Kunsthallen oder Galerien. Kuratieren gehört mittlerweile zu den gestalterischen Kernkompetenzen des spätmodernen Kapitalismus. Ein Concept Store, eine Speisekarte, ein Insta-Account – das alles wird zum Gegenstand kuratorischer Ambitionen. Gibt es dann überhaupt noch einen Unterschied zwischen einer Kunstausstellung und der Präsentation wohldesignter IT- Geräte in White Cube-artigen Showrooms, den auf verbogenen Löffeln servierten Schäumchen in der Molekulargastronomie oder der ausgeklügelten Bild-Text-Dramaturgie in sozialen Medien? Anders gefragt: Unter welchen Bedingungen entsteht durch die Zusammenstellung von Dingen, Texten, Bildern und Körpern ein ästhetischer und epistemologischer Mehrwert?
Zur Beantwortung dieser Frage lohnt sich zunächst ein Blick auf die alltäglichen Lebenswelten. Tatsächlich sind wir permanent mit den unterschiedlichsten Ausstellungsformaten konfrontiert. Ob Zuhause, in Shoppingmalls, Stadtparks, Ämtern, Büros oder im digitalen Raum – überall geht es darum, dem unheimlichen Eigenleben der Dinge, Bilder und Zeichen Herr:in zu werden. Dazu müssen wir permanent für Ordnung sorgen: ein- und aussortieren, vergleichen, bewerten, kategorisieren, benennen, präsentieren, verbergen usw.. So lassen sich, um ein Beispiel zu geben, die hochritualisierten Aufräum-Putz- und Dekorationstechniken, mit denen Jeanne Dielman (in dem gleichnamigen Film von Chantal Akerman)11 Akerman, Chantal: Jeanne Dielman, 23, quai du commerce, 1080 Bruxelles, Belgien/Frankreich 1975. ihren Haushalt instand hält, als eine Form kuratorischer Praxis verstehen. Wie das Kuratieren zielt schließlich auch die Haushaltspflege darauf ab, die Dinge in eine Ordnung zu bringen und ihnen ein bestimmtes Erscheinungsbild abzuringen. Die schwarzen Herrenschuhe müssen poliert, die Bettdecke muss glattgestrichen, das Porzellan in der Vitrine abgestaubt und die sorgfältig gespülten Teller auf dem Abtropfgestell ordentlich einsortiert werden. Dass auch Care-Arbeit eine gestalterische Kompetenz erfordert und die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst weitaus fließender sind, als der bürgerliche Autonomiebegriff uns weiß machen will, ist von der feministischen Theorie zu recht betont worden.22 In diesem Sinne schreibt etwa Teresa de Lauretis über Jeanne Dielman: „Take Akerman’s Jeanne Dielman (1975), a film about the routine, daily activities of a Belgian middle-class and middle-aged housewife, and a film where the pre-aesthetic is already fully aesthetic. This is not so, however, because of the beauty of its images […]; but because it is a woman’s actions, gestures, body, and look that define the space of our vision, the temporality and rhythms of perception, the horizon of meaning available to the spectator.” De Lauretis, Teresa. “Aesthetic and Feminist Theory: Rethinking Women’s Cinema”, in: New German Critique 34 (1985), S. 154–175, hier S. 159. Hinsichtlich der eingangs gestellten Frage nach dem Unterschied von ästhetischen und nicht-ästhetischen Konstellationen ist mit dieser Einsicht aber noch nicht viel gewonnen. Denn genauso wenig wie Bilder und Objekte, die in Galerien oder Biennalen präsentiert und verkauft werden, automatisch Kunst sind, lassen sich alltägliche Gestaltungspraktiken per se als ästhetisch definieren.
Daher muss zunächst geklärt werden, was das für gestalterische Ordnungen sind, mit denen wir uns tagtäglich auseinandersetzen, und welche Rolle sie spielen sowohl für unsere Subjektivität als auch für die Reproduktion kollektiver Praxismuster. Dazu sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass nicht wir es sind, die Ordnung in die Dinge bringen. Wir müssen im Gegenteil davon ausgehen, dass die bestehenden Ordnungen uns erst zu dem machen, was wir sind.
In diesem Sinne hat Michel Foucault stets betont, dass das historische Subjekt weder über sich selbst noch über die äußere Welt nach Belieben verfügen kann. Es wird in seinem Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln von den bereits existierenden diskursiven33In Archäologie des Wissen spricht Foucault auch von der „Ökonomie der diskursiven Konstellationen“ (Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, S. 97) und sozio-materiellen Formationen der Dispositive44Zu Foucaults Dispositivbegriff siehe etwa: Foucault, Michel: »Das Spiel des Michel Foucault (Gespräch)« [1977], in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 3: 1976-1979, Frankfurt a. M. 2003, S. 391-429, hier S. 392. bedingt. Wie wir Worte, Dinge, Menschen usw. voneinander unterscheiden, anordnen und zu uns ins Verhältnis setzen, ist davon abhängig, welche Wissens- und Wahrnehmungsmodi, Ich-Ideale und Beziehungsformen uns jeweils zur Verfügung stehen. Diese vorgesehenen Ordnungen sind nicht neutral, sondern stets von Machtverhältnissen und -technologien, d.h. von Bewertungen, Hierarchisierungen und Exklusionen durchzogen – und das beginnt schon bei der Unterscheidung zwischen dem Ich und der (als potentiell beängstigend wahrgenommenen) äußeren Welt.55So heißt es bei Freud: „Das Äußere, das Objekt, das Gehasste wären zu allen Anfang identisch. Erweist sich späterhin das Objekt als Lustquelle, so wird es geliebt, aber auch dem Ich einverleibt“ (Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale [1915], in ders.: Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a. M. 1982, S. 81-102, hier S. 99)
Anders als es den Anschein haben mag, ist Jeanne Dielman also nicht „Herrin im eigenen Haus“, wie man es in Abwandlung von Freuds berühmtem Diktum sagen könnte. Sie scheint vielmehr regiert zu werden: von all den kleineren und größeren Gegenständen, mit deren Pflege sie unentwegt beschäftigt ist. Innerhalb der psychischen Ökonomie der organisierten Moderne verspricht ein „ordentlicher Haushalt“ lediglich die Maskierung des weiblich kodierten Ich, nicht aber die Überwindung von dessen struktureller Ohnmacht. Wie der Film zeigt, sind aber weder die sozio-materiellen Ordnungen, in denen sich Jeanne Dielman eingerichtet hat, noch ihre Subjektivierung, die von diesen Ordnungen abhängt, stabil. Nach dem nachmittäglichen Besuch des Kunden am zweiten Tag beginnen nicht nur ihre Routinepraktiken zu scheitern (die Haare sind nicht ganz so ordentlich gekämmt, die Kartoffeln sind zu weichgekocht, die Schuhbürste fällt auf den Boden, der Kaffee schmeckt nicht, ein Ersatzknopf ist nicht aufzutreiben, ihr Stammplatz im Café ist besetzt usw. …). Sie erlebt auch hinsichtlich ihrer Ich-Grenzen einen Kontrollverlust (die jouissance)66Der Begriff der „Jouissance“, der von Lacan in unterschiedlichen Kontexten immer wieder reformuliert wurde, wird hier verwendet, um das „unaussprechliche Genießen“ zu bezeichnen, das heißt jene Form der Lusterfahrung, die die symbolische Ordnung und damit auch das imaginäre Selbstbild des „je“ übersteigt. Ein solcher „Einbruch des Realen“ ist jedoch nicht nur mit Lustbefriedigung, sondern stets auch mit Schmerz und Leid verknüpft. Schon Freud hatte in Jenseits des Lustprinzips darauf hingewiesen, dass die Befriedigung einer vom Realitätsprinzip verdrängten Lust Unlust hervorrufen kann: „Gelingt es ihnen [den Trieben] dann, was bei den verdrängten Sexualtrieben so leicht geschieht, sich auf Umwegen zu einer direkten oder Ersatzbefriedigung durchzuringen, so wird dieser Erfolg, der sonst eine Lustmöglichkeit gewesen wäre, vom Ich als Unlust empfunden.“ (Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips [1920], in ders.: Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a. M. 1982, S. 213-272, hier S. 220.).
Die psychische Dynamik, die sich durch diese „Einbrüche“ entfaltet, lässt sich begreifen, wenn man neben dem Dispositivbegriff auch Jacques Lacans Konzept des Symbolischen zu Rate zieht: Demnach ist die symbolische Ordnung, die den alltäglichen Praktiken und imaginären Ich-Idealen zugrunde liegt, an sich defizitär und unbeständig. Diese Unbeständigkeit wird von den Subjekten systematisch negiert, um sich selbst als autonom und handlungsfähig imaginieren zu können. Sobald sich aber das „Reale“ Bahn bricht (z.B. in Form einer außerordentlichen Abweichung vom Gewohnten), lässt sich die Fiktion nicht mehr länger aufrechterhalten – das austarierte Ich-Welt-Verhältnis gerät ins Wanken.77In eine ähnliche Richtung weist auch Judith Butlers gendertheoretischer Iterabilitätsbegriff: Da alle Praktiken und Subjektivierungsweisen für ihr Fortbestehen darauf angewiesen sind, immer wieder aufs Neue aufgeführt zu werden, sind sie stets auch offen für unvorhergesehene (aber auch intendierte) Verschiebungen. So kann es schon reichen, dass sich, wie im Falle von Jeanne Dielman, die Haushaltsgegenstände dem gewohnten Zugriff entziehen, um die imaginären Absicherungs- und Stabilisierungsrituale nachhaltig zu erschüttern.
Zu dem Verhältnis von sozio-materieller Ordnung, Praxis und Subjektivität gäbe es noch eine Menge mehr zu sagen.88Für eine praxistheoretische Auseinandersetzung mit dem Instabilitätsbegriff siehe: Schäfer, Hilmar: Die Instabilität der Praxis. Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie, Weilerswist 2013. Hier aber soll es nur um die Frage gehen, wie die Grundoperationen des Ordnens, Einrichtens und Gestaltens alltäglicher Dinge und Räume mit dem Kuratieren zusammenhängen. Oder wie, anders gefragt, das Ordnen, verstanden als eine Form des imaginären Anarbeitens gegen das Reale, mit der ästhetischen Form der Konstellation in Verbindung steht.
Dispositive geben sich in der Regel nicht so ohne Weiteres zu erkennen, sondern verschwinden hinter ihrer alltäglichen Erscheinung. Die Gestaltungsformen, die uns umgeben, sind somit eher als Medien zu verstehen, durch die sich das Macht-Wissen bzw. die symbolische Ordnung im Raum der Wahrnehmung reproduziert, ohne dabei als solche kenntlich zu werden. Präziser fomuliert: Auch die Alltagsdisplays sind Teil des historisch und kulturell spezifischen „Bild-Schirms (image/ecran)“.99In seiner Theorie des Blicks geht Lacan davon aus, dass unser Sehen durch die symbolische Ordnung des „Blickregimes“ (le regard) vorstrukturiert wird. Auf imaginärer Ebene manifestiert sich das Blickregime im Bild/Schirm (image/ecran) (Lacan) (Lacan, Jacques: Das Seminar. Buch XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim (u.a.) 1987, S. 73-126). Während Lacan offen lässt, woraus genau sich der imaginäre Bild/Schirm zusammensetzt, schlägt Kaja Silverman in ihrer Lacan-Interpretation vor, ihn mit dem kulturellen Bildrepertoire einer Zeit gleichzusetzen (Silverman, Kaja: The Treshold of the Visible World, New York 1996, S. 197). Im Anschluss daran wird hier angenommen, dass neben dem Bildrepertoire auch das Formen- und Gestaltungsrepertorie von Dingen, Räumen und Displays zum Bild/Schirm gezählt werden können. Sie dienen als eine Art Filter, durch den hindurch die Welt den Charakter eines bildhaft-erstarrten „Tableau“ annimmt. In dieses Tableau wiederum muss sich das Subjekt performativ integrieren, um gesellschaftlich anerkannt oder „sichtbar“ zu werden. Wir lernen also notgedrungen, unsere Welt und auch uns selbst nach Maßgabe der jeweils vorherrschenden gestalterischen Ordnungen zu betrachten. Die hellgelb glänzenden Kacheln, der Haushaltskittel, die in Wellen gelegten Haare, die geputzten Herrenschuhe, das zusammenklappbare Bettsofa, das auf der Tagesdecke ausgebreitete weiße Handtuch und die floral bemalte Suppenterrine — all diese Elemente sind Bestandteile des patriachal-modernistischen „Bild/Schirms“. Ihre Erscheinung und Komposition erfordern nicht nur Jeanne Dielmanns unentwegte perzeptive Aufmerksamkeit und Pflege. Sie verlangen ihr auch eine ganz bestimmte Choreographie von Gesten und Bewegungen ab. Dass diese Performanz scheitern muss, ist, wie schon angedeutet, dem imaginären Konstrukt von vornherein eingeschrieben.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich nun klären, was genau eine ästhetische Konstellation auszeichnet. Anders als die alltäglichen Gestaltungsformate arbeitet eine ästhetische Konstellation den bestehenden Tableaus nicht zu. Das heißt nicht, dass sie außerhalb der Dispositive steht – das wäre auch gar nicht möglich. Die ästhetische Praxis macht sich vielmehr die fundamentale Instabilität der sozio-materiellen Ordnungen zunutze, um bestimmte Elemente aus ihren konventionellen Positionen herauszulösen und anders, das heißt in anderer Form zueinander ins Verhältnis zu setzen.1010Diese Interpretation der ästhetischen Konstellation orientiert sich an Theodor W. Adornos Charakterisierung des Essays als Form, in der das Nichtidentische durch die Konfiguration von Begriffen aufscheinen kann (Adorno, Theodor W.: „Der Essay als Form“ [1958], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 9-33), sowie an seiner Überlegung, dass sich die Formen und Konfigurationen des Kunstwerks aus den „empirischen“ Elementen der Gesellschaft speisen; „Die Konfiguration der Elemente des Kunstwerks zu dessen Ganzem gehorcht immanent Gesetzten, die denen der Gesellschaft draußen verwandt sind. Gesellschaftliche Produktivkräfte sowohl wie Produktionsverhälnisse kehren der bloßen Form nach, ihrer Faktizität entäußert, in den Kunstwerken wieder, weil künstlerische Arbeit gesellschaftliche Arbeit ist […]“ (Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970, S. 350). Wie Juliane Rebentisch in ihrer Theorie der Installation herausgearbeitet hat, bietet dieser Zwischenraum, der durch solche Neu-Konstellationen entsteht, potentiell Platz für Assoziationen, Einsichten und Beziehungsformen, die aus dem vorherrschenden Macht-Wissen ausgeschlossen oder verdrängt werden.1111Siehe etwa: Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a. M. 2003, S. 276-289; Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg 2013, insbesondere Kapitel IV.
Doch das Ästhetische erschöpft sich nicht in einem „anderen Sehen“ oder „anderen Wissen“, das durch Irritationen der inkorporierten Praxis- und Wahrnehmungsschemata ausgelöst wird. Ästhetische Konstellationen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie die Funktionsweise der sozio-materiellen Tableaus mitausstellen. Sie machen somit das implizite Wahrnehmungswissen, das unseren Ordnungspraktiken zugrunde liegt, selbst augenscheinlich. Im Fall von Jeanne Dielman ist das „Andere“ nicht in dem Mord zu suchen, den sie am Nachmittag des dritten Tags an ihrem Kunden begeht. Denn diese außerordentliche Tat zielt ja gerade darauf, die gewohnte Ordnung samt der unangetasteten Ich-Grenzen, die durch den ungewollten Orgasmus destabilisiert wurden, wiederherzustellen.1212 Auch Chantal Akerman versteht den Mord als Versuch, einer vollständigen patriachalen Entfremdung zu entkommen: „My point of view was that in fact this was her one strength, the space she had kept for herself. The fact that she was frigid was almost a protection of the one place where she was not alienated. lt’s supposed to be the opposite, but I really think that if so many women are frigid it’s because they feel deep inside that that will be the last point of alienation.” (Akerman, Chantal: “Chantal Akerman on Jeanne Dielman – Excerpts from an interview with Camera Obscura, November 1976,” in: Camera Obscura: A Journal of Feminism and Film Theory, 2 (1976), S. 118-121, hier S. 120. Ästhetischer Mehrwert entsteht vielmehr in dem Zusammenspiel der schauspielerischen Leistung von Delphine Seyrig, der Dramaturgie, der Kameraeinstellung und dem Schnitt. Indem die unendlich geduldige und disziplinierte Kamera selbst zur Komplizin von Dielmans streng choreographierten Bewegungen, Gesten und Alltagsroutinen wird, respektiert sie nicht nur die von der Protagonistin gewünschte Distanz.1313So heißt es in demselben Interview: „I let her live her life in the middle of the frame. I didn’t go in too close, but I was not very far away. I let her be in her space. lt’s not uncontrolled. But the camera was not voyeuristic in the commercial way because you always knew where l was. You know, it wasn’t shot through the keyhole.lt was the only way to shoot that scene and to shoot that film-to avoid cutting the woman into a hundred pieces, to avoid cutting the action in a hundred places, to look carefully and to be respectful the framing was meant to respect the space, her, and her gestures within it.” (Akerman 1976, S. 119). Die perfekt komponierten Bilder machen zudem den Gestaltungszwang und die starre Bildhaftigkeit des patriachalen Tableaus für die Zuschauer leiblich nachvollziehbar.
Die alltäglichen Displays bedürfen jedoch nicht unbedingt der Übertragung in ein anderes Medium, um die Parameter des gesellschaftlichen Tableaus zu verschieben. Auch Wohnräume können die Form einer ästhetischen Konstellation annehmen. Ein Beispiel dafür ist das 1929 fertiggestellte Haus E.1027, das die Architektin und Designerin Eileen Gray für sich und Jean Badovici entworfen hat. Dabei bedient sich Gray zwar zentraler Elemente des architektonischen Modernismus – wie etwa Corbusiers „cinq points de l’architecture moderne“– , setzt diese gestalterischen Prinzipien aber so ein, dass die damit verknüpften biopolitischen Rationalisierungs- und Reinheitsimperative aufgehoben oder unterlaufen werden. So kombiniert sie nicht nur die abstrakten modernistischen Formeln mit Materialien, Farben und Accessoires, die dem moralisch verpönten „Sensualismus“ des 19. Jahrhunderts angehören (dicke Teppiche, Divane mit Kissen, Fellüberwürfe). Sie löst auch die „funktionale Differenzierung“ und geschlechtliche Kodifizierung von Wohn-, Arbeits- und Schlafbereich bzw. Produktion und Reproduktion auf (alle Zimmer sind mit opulenten Möbeln zum Entspannen, Ablagetischen und Lese- bzw. Arbeitslampen ausgestattet). Mehr noch: Das von Gray im zentralen Wohnraum platzierte Zitat „Invitation au voyage“, das Charles Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ entnommen ist, kann neben der Einladung zur Raumnahme auch als Hommage an homosexuelle Begehrensformen gelesen werden.1414Rault, Jasmin: Eileen Gray and the Design of Sapphic Modernity, Surrey/Burlington 2011, S. 45ff. In E.1027 werden die Versatzstücke des modernistischen Paradigmas also auf eine Weise rekombiniert, die die Möglichkeit einer anderen Moderne erfahrbar macht – eine, die im Sinne Sara Ahmeds queere Orientierungen zulässt.1515Ahmed, Sara: Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others, Durham/London 2006.
Von der alternativen Modernität des E.1027 ist es nicht mehr weit zu einer weiteren Form ästhetischer Konstellationen, die hier abschließend zumindest kurz angerissen werden soll: die postkonzeptuelle Ausstellung. So wie das Interieur kann auch der Ausstellungsraum als Konstellation heterogener Elemente und Gestaltungsformen verstanden werden, die die Wahrnehmungsweisen, Bewegungen und Praktiken ihrer Besucher:innen auf eine „vorgesehene“ Weise choreographiert.1616Auch für Beatrice von Bismarck ist der Konstellationsbegriff zentral, um „das Kuratorische“ zu denken. Vgl. von Bismarck, Beatrice: Das Kuratorische, Leipzig 2021, S. 99-147. Ausstellungen sind jedoch nicht per se ästhetisch – im Gegenteil: Das Layout der meisten westlichen Museen mit enzyklopädischen Sammlungen folgt nach wie vor dem museologischen Imaginären des 19. Jahrhunderts. Das bedeutet, dass die Exponate in eine streng hierarchisch gegliederte Taxonomie eingeordnet werden, die zwischen Kunst und Nicht-Kunst, europäisch und außereuropäisch oder zeitgenössisch, modern und vormodern unterscheidet. Nicht nur haben diese Kategorien ihre epistemologische Geltung längst eingebüßt. Die Episteme selbst ist untrennbar verbunden mit einer eurozentrischen Weltordnung, mit Kolonialismus und Sklaverei. Kurzum, für die zentrale Herausforderung der Gegenwart, eine Welt jenseits der westlichen Hegemonie vorzustellen, ist die althergebrachte Museumsordnung ungeeignet.
Die zeitgenössische Ausstellung bedarf einer Gestaltungsform, die sowohl die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit von Lebenswelten als auch die genuine Mehrdeutigkeit der Exponate zu berücksichtigen vermag. Sie muss, mit anderen Worten, ästhetisch werden.
Eine Inspirationsquelle dafür bietet die postkonzeptuelle Installationskunst. Gemeint sind mit diesem Begriff künstlerische Praktiken, die sich die wichtigsten Einsichten und Methoden der Konzeptkunst und Institutionskritik zu eigen gemacht haben (wie u.a. das notwendige Ineinandergreifen von Konzeptualität und Form, die Unbegrenztheit künstlerischer Medien und die performative Qualität von Wissensordnungen), um die Herkünfte und komplexen Verflechtungen der globalen Gegenwart analytisch zu durchdringen.1717Vgl. Dazu Rebentisch 2003 sowie Osborne, Peter: Anywhere or not at all. Philosophy of contemporary art, London New York 2013, S. 48. Zu dieser Durchdringung gehört nicht nur, die Kontingenz und Einseitigkeit westlicher Metanarrative und Kategorisierungen sowie die damit verbundenen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse offenzulegen. Viele Werke zeigen zudem auf, dass eine andere Version von Modernität denkbar wäre – eine, die die Diversität lokaler Subjektivierungsweisen, Wissensformen und Praktiken miteinbezieht. Dazu ist die Form der ästhetischen Konstellation entscheidend, denn es kann bei alternativen Historiographien und Modernitätsentwürfen nicht darum gehen, das alte Tableau durch ein neues, ebenso rigides Weltbild zu ersetzen. Stattdessen setzt die Installation die einzelnen Bilder, historischen „Realitätsstücke“ und Texte so miteinander ins Verhältnis, dass sich zwar assoziative Brücken schlagen lassen, dass aber nie eine kohärente Einheit entsteht. Aufgrund ihrer produktiven Leerstellen bleiben die künstlerischen Arbeiten stets auf die interpretative Aktivität ihrer Betrachter:innen angewiesen. Diese müssen mithilfe ihres impliziten Wahrnehmungswissens einen je eigenen Zugang zu den einzelnen Elementen und Bedeutungsschichten finden. In der Unabgeschlossenheit der Installation ist also formal eine (politische) Vielstimmigkeit und Multiperspektivität angelegt. Eine solche Form der Gestaltung ließe sich auch auf das Museum als Ganzes übertragen. Auch hier gilt es mithilfe nicht vorgesehener Konstellationen und Assoziationen andere Perspektiven auf das scheinbar Bekannte zu ermöglichen.1818 Das Ausstellungsprojekt „Mobile Welten“ am MK&G Hamburg war ein solcher Versuch, die Methode der postkonzeptuellen Installation auf eine bestehende enzyklopädische Sammlung zu übertragen. (www.mobile-welten.org) Erst so können strukturelle Zusammenhänge einsichtig werden (zum Beispiel zwischen Moderne und Kolonialisierung), die unsere Gegenwart prägen, die aber systematisch aus dem kollektiven Bild/Schirm ausgeklammert werden.
Die kuratorischen Betätigungsfelder im Spätkapitalismus, das als Schlusssatz zu meinen Überlegungen, haben hingegen nichts mit Ästhetik zu tun, auch wenn immer wieder von einer allgemeinen Ästhetisierung der Lebenswelt die Rede ist. Zwar unterscheiden sie sich von den rigiden Ordnungsschemata der organisierten Moderne. Sie folgen letztlich aber derselben Begehrenslogik, die darauf abzielt, das eigene Ich im sozio-materiellen Tableau zu verankern. Ganz anders die ästhetische Konstellation: sie kultiviert Beziehungsformen, die sich gegenüber identitären Fixierungen sperren und sich der Offenheit und Wandelbarkeit von Bedeutung, Subjektivität und Gesellschaft stellen.
- 1 Akerman, Chantal: Jeanne Dielman, 23, quai du commerce, 1080 Bruxelles, Belgien/Frankreich 1975.
- 2 In diesem Sinne schreibt etwa Teresa de Lauretis über Jeanne Dielman: „Take Akerman’s Jeanne Dielman (1975), a film about the routine, daily activities of a Belgian middle-class and middle-aged housewife, and a film where the pre-aesthetic is already fully aesthetic. This is not so, however, because of the beauty of its images […]; but because it is a woman’s actions, gestures, body, and look that define the space of our vision, the temporality and rhythms of perception, the horizon of meaning available to the spectator.” De Lauretis, Teresa. “Aesthetic and Feminist Theory: Rethinking Women’s Cinema”, in: New German Critique 34 (1985), S. 154–175, hier S. 159.
- 3In Archäologie des Wissen spricht Foucault auch von der „Ökonomie der diskursiven Konstellationen“ (Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, S. 97)
- 4Zu Foucaults Dispositivbegriff siehe etwa: Foucault, Michel: »Das Spiel des Michel Foucault (Gespräch)« [1977], in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 3: 1976-1979, Frankfurt a. M. 2003, S. 391-429, hier S. 392.
- 5So heißt es bei Freud: „Das Äußere, das Objekt, das Gehasste wären zu allen Anfang identisch. Erweist sich späterhin das Objekt als Lustquelle, so wird es geliebt, aber auch dem Ich einverleibt“ (Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale [1915], in ders.: Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a. M. 1982, S. 81-102, hier S. 99)
- 6Der Begriff der „Jouissance“, der von Lacan in unterschiedlichen Kontexten immer wieder reformuliert wurde, wird hier verwendet, um das „unaussprechliche Genießen“ zu bezeichnen, das heißt jene Form der Lusterfahrung, die die symbolische Ordnung und damit auch das imaginäre Selbstbild des „je“ übersteigt. Ein solcher „Einbruch des Realen“ ist jedoch nicht nur mit Lustbefriedigung, sondern stets auch mit Schmerz und Leid verknüpft. Schon Freud hatte in Jenseits des Lustprinzips darauf hingewiesen, dass die Befriedigung einer vom Realitätsprinzip verdrängten Lust Unlust hervorrufen kann: „Gelingt es ihnen [den Trieben] dann, was bei den verdrängten Sexualtrieben so leicht geschieht, sich auf Umwegen zu einer direkten oder Ersatzbefriedigung durchzuringen, so wird dieser Erfolg, der sonst eine Lustmöglichkeit gewesen wäre, vom Ich als Unlust empfunden.“ (Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips [1920], in ders.: Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt a. M. 1982, S. 213-272, hier S. 220.)
- 7In eine ähnliche Richtung weist auch Judith Butlers gendertheoretischer Iterabilitätsbegriff: Da alle Praktiken und Subjektivierungsweisen für ihr Fortbestehen darauf angewiesen sind, immer wieder aufs Neue aufgeführt zu werden, sind sie stets auch offen für unvorhergesehene (aber auch intendierte) Verschiebungen.
- 8Für eine praxistheoretische Auseinandersetzung mit dem Instabilitätsbegriff siehe: Schäfer, Hilmar: Die Instabilität der Praxis. Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie, Weilerswist 2013.
- 9In seiner Theorie des Blicks geht Lacan davon aus, dass unser Sehen durch die symbolische Ordnung des „Blickregimes“ (le regard) vorstrukturiert wird. Auf imaginärer Ebene manifestiert sich das Blickregime im Bild/Schirm (image/ecran) (Lacan) (Lacan, Jacques: Das Seminar. Buch XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim (u.a.) 1987, S. 73-126). Während Lacan offen lässt, woraus genau sich der imaginäre Bild/Schirm zusammensetzt, schlägt Kaja Silverman in ihrer Lacan-Interpretation vor, ihn mit dem kulturellen Bildrepertoire einer Zeit gleichzusetzen (Silverman, Kaja: The Treshold of the Visible World, New York 1996, S. 197). Im Anschluss daran wird hier angenommen, dass neben dem Bildrepertoire auch das Formen- und Gestaltungsrepertorie von Dingen, Räumen und Displays zum Bild/Schirm gezählt werden können.
- 10Diese Interpretation der ästhetischen Konstellation orientiert sich an Theodor W. Adornos Charakterisierung des Essays als Form, in der das Nichtidentische durch die Konfiguration von Begriffen aufscheinen kann (Adorno, Theodor W.: „Der Essay als Form“ [1958], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 9-33), sowie an seiner Überlegung, dass sich die Formen und Konfigurationen des Kunstwerks aus den „empirischen“ Elementen der Gesellschaft speisen; „Die Konfiguration der Elemente des Kunstwerks zu dessen Ganzem gehorcht immanent Gesetzten, die denen der Gesellschaft draußen verwandt sind. Gesellschaftliche Produktivkräfte sowohl wie Produktionsverhälnisse kehren der bloßen Form nach, ihrer Faktizität entäußert, in den Kunstwerken wieder, weil künstlerische Arbeit gesellschaftliche Arbeit ist […]“ (Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970, S. 350).
- 11Siehe etwa: Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation, Frankfurt a. M. 2003, S. 276-289; Rebentisch, Juliane: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg 2013, insbesondere Kapitel IV.
- 12 Auch Chantal Akerman versteht den Mord als Versuch, einer vollständigen patriachalen Entfremdung zu entkommen: „My point of view was that in fact this was her one strength, the space she had kept for herself. The fact that she was frigid was almost a protection of the one place where she was not alienated. lt’s supposed to be the opposite, but I really think that if so many women are frigid it’s because they feel deep inside that that will be the last point of alienation.” (Akerman, Chantal: “Chantal Akerman on Jeanne Dielman – Excerpts from an interview with Camera Obscura, November 1976,” in: Camera Obscura: A Journal of Feminism and Film Theory, 2 (1976), S. 118-121, hier S. 120.
- 13So heißt es in demselben Interview: „I let her live her life in the middle of the frame. I didn’t go in too close, but I was not very far away. I let her be in her space. lt’s not uncontrolled. But the camera was not voyeuristic in the commercial way because you always knew where l was. You know, it wasn’t shot through the keyhole.lt was the only way to shoot that scene and to shoot that film-to avoid cutting the woman into a hundred pieces, to avoid cutting the action in a hundred places, to look carefully and to be respectful the framing was meant to respect the space, her, and her gestures within it.” (Akerman 1976, S. 119).
- 14Rault, Jasmin: Eileen Gray and the Design of Sapphic Modernity, Surrey/Burlington 2011, S. 45ff.
- 15Ahmed, Sara: Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others, Durham/London 2006.
- 16Auch für Beatrice von Bismarck ist der Konstellationsbegriff zentral, um „das Kuratorische“ zu denken. Vgl. von Bismarck, Beatrice: Das Kuratorische, Leipzig 2021, S. 99-147.
- 17Vgl. Dazu Rebentisch 2003 sowie Osborne, Peter: Anywhere or not at all. Philosophy of contemporary art, London New York 2013, S. 48.
- 18 Das Ausstellungsprojekt „Mobile Welten“ am MK&G Hamburg war ein solcher Versuch, die Methode der postkonzeptuellen Installation auf eine bestehende enzyklopädische Sammlung zu übertragen. (www.mobile-welten.org)