I. Einleitung
Das Verb Abduzieren – so ein außergewöhnlicher Terminus für eine geistige Aktion – bezeichnet die Aktivität der Produktion einer neuen Synthese.
Gegen die negative Konnotation vermittelt durch die gewöhnliche Bedeutung von Entführen– aus dem Lateinischen ab [wegnehmen] und ducere [führen] – bezeichnet der Terminus Abduzieren in dem Kontext des Wissens der Künste den Entstehungsprozess vom Neuen, durch dessen Artikulation neue Entdeckungs- und Erfindungsverfahren zu Stande kommen können.
Der Terminus Abduktion wurde von dem Nordamerikanischen Philosophen Charles S. Peirce geprägt. Er bedeutet im Kontext der Philosophie und der Logik, dass unterschiedliche Elemente aus der Wahrnehmung und auch aus verschiedenen kognitiven Bereichen herausgenommen, neu kombiniert und in einem neuen synthetischen, noch nicht dagewesenen Zusammenhang neu arrangiert werden.
Im folgenden Zitat wird es klar, wie Peirce diese geistige Operation bestimmt:
The whole operation of reasoning begins with Abduction […].
Its occasion is a surprise. That is, some belief, active or passive, formulated or unformulated, has just been broken up.
It may be in real experience or it may be equally be in pure mathematics, which has its marvels, as nature has.
The mind seeks to bring the facts, as modified by the new discovery, into order; that is, to form a general conception embracing them.
In some cases, it does this by an act of generalization.
In other cases, no new law is suggested, but only a peculiar state of facts that will “explain” the surprising phenomenon;
and a law already known is recognized as applicable to the suggested hypothesis, so that the phenomenon, under that assumption, would not be surprising, but quite likely, or even would be a necessary result.
This synthesis suggesting a new conception or hypothesis, is the Abduction.
II. Forschungskontext – Das Wissen der Künste
Zunächst einmal möchte ich den Kontext zeigen, aus dem diese spezifische Aktion in der Form dieses Verbs Abduzieren hergeleitet worden ist.
Dieses Verb – Abduzieren– spielte in meiner Dissertation The Logic of Design Process. Invention and Discovery in Light of the Semiotics of Charles S. Peirce eine zentrale Rolle. Die Hauptfrage dieses Werkes lautet: Was ist die Logik bei der Arbeit im Designprozess? Meine Dissertation gibt auf diese Forschungsfrage eine Antwort, indem sie die Logik des Designprozesses untersucht, das heißt der Logik, die in jeder Manifestation von projektiven Aktivitäten, die in Architektur, Design, Ingenieurwesen und auch in den Künsten beobachtet werden kann.
Die Logik, oder Semiotik von Peirce ist in der Lage, mit der Prozessualität der projektiven Tätigkeiten umzugehen. Ferner ist diese spezifische Semiotik aufgrund ihrer Fähigkeit, dynamische Prozesse zu studieren, die sich durch die Entstehung von neuen Elementen und deren Verkörperung und Integration in breitere systematische Kontexte charakterisiert, ausgewählt worden. Semiotik wird insofern verwendet, als in meiner Forschung die Operation nicht-verbaler Sprachen und deren Artikulationsformen als Wissensrepräsentation bzw. -systeme in ihrer Prozesshaftigkeit untersucht werden.
Die führende These der Dissertation lautet: die Logik des Designprozesses ist durch eine Ereignislogik gekennzeichnet, die symbiotische Operationen von Erfindungs-, Entdeckungs-, Formgebungs- und Regelfindungsprozessen aufweisen. Der Begriff des Designprozesses wird hier als äquivalent zum deutschen Konzept von Entwerfen verstanden, denn Letzteres kann im Allgemeinen jede allumfassende projektive Tätigkeit beschreiben, die die Formulierung neuer mentaler Konzepte aus neu strukturierten Ideen, die Herstellung weiterer Konzeptionen und die anschließende Entfaltung der Möglichkeiten für die Verwirklichung dieser Konzepte in verschiedenen Medien einbezieht, die mit einer möglichen oder mit einer bereits etablierten Sprache artikuliert ist.
Dieser Forschungsansatz entspricht dem Profil des Graduiertenkollegs „Das Wissen der Künste“. Spezifisch betrachtet, liegt meine Forschungsarbeit im dessen Schwerpunkt Wissen und künstlerische Praxisprozesse. Was aber die Dissertation in dem Bereich des Wissens in Bezug auf Praxisprozesse verortet, ist die charakteristische Auseinandersetzung mit Prozessen der Ideenfindung, die Konzeptualisierung von Ideen und deren mögliche Verkörperungen, mögliche Verfahren, die durch neue Konzeptionen ausgelöst werden und die Prozesshaftigkeit des Entstehungs- sowie des Entwurfsprozesses selbst. Diese letzteren werden als unabdingbare Quellen von Wissen, Methoden und Verfahren zur Erkenntnisgewinnung angenommen.
Der Prozess der Entstehung neuer Ideen, die anschließende Konzeptualisierung dieser Idee und ihre sukzessiven Ausführungen sowie das Anwachsen von Projekten in eine ausgereifte und verwirklichte Konzeption wird hier durch das Zusammenspiel der Logik der Abduktion, durch pragmatische Prozesse, durch die Differenzierung von neu gefundenen semiotischen Elementen sowie durch den Prozess der Integration dieser Elemente in eine globale systematische Struktur expliziert.
Das Verb Abduzieren erscheint hier genau als die abgeleitete Prozesshaftigkeit der Logik der Abduktion.
III. Gedankenexperiment: Bring on the Night
Um die Funktionsweise des Verbs Abduzieren zu veranschaulichen und dem experimentellen Charakter der Abduktion als pragmatischen Prozess zu folgen, wie bereits erwähnt, schlage ich hier ein Gedankenexperiment vor. Das Experiment, das ich hier vorschlage, besteht in der Beobachtung eines Prozesses, der vom erfinderischen Spielen einer Jazzimprovisation zu einem bestimmten musikalischen Thema geleitet wird.
Die Improvisation verkörpert alle Aspekte der Schaffung neuer relationalen Beziehungen aus einem musikalischen Thema, der rhythmischen und harmonischen Herstellung neuer musikalischer Beziehungen, der Schaffung neuer Ebenen musikalischer Beziehungen und des Dialogs mit dem musikalischen Thema unter Berücksichtigung seiner Grenzen.
Es erscheint fast paradoxal, dass die Improvisation innerhalb des musikalischen Themas die musikalischen Barrieren erzwingt und dadurch neue, frische und spontane musikalische Beziehungen aufbaut, die äußerst frei und einzigartig in der Komposition wirken.
1985 gründete der Musiker Sting, damals zu Beginn seiner Solokarriere, mit sechs anderen Musikern eine Band, von denen die meisten auf Jazzmusik spezialisierte Musiker waren. Stings Idee war es, einige seiner Songs mit seiner früheren Band The Police, einer Rockband mit Einflüssen von Punkrock, Ska und Reggae, angesichts eines stärkeren Jazz-Einflusses neu zu interpretieren.
Für das Experiment wähle ich zwei Songs:“Bring on the night (1979)” aus dem Album Regatta de Blanc und “When the world is running down, you make the best of what is still around (1980)” aus dem Album Zenyatta Modatta. Diese beiden Songs wurden 1985 als kontinuierliches Musikstück in Stings neuer Band zusammengestellt. Auf diese neue Interpretation von „Bring on the Night/When the world is running down (…)“ werde ich in diesem Experiment Bezug nehmen.
Gegenstand des Experiments ist die Solo-Improvisation von Kenny Kirkland, dem Klavier- und Keyboardspieler von Stings neuer Bandformation.
#1: Link to the first song– Bring on the Night (1985)
https://www.youtube.com/watch?v=dM-_wRBinok
Innerhalb des Songs im Beispiel des ersten Links sind die beiden Songs „Bring on the Night“ erkennbar, die am Anfang die Tonne und die rhythmische Entwicklung dominieren und später, fast am Ende, mit einem stärkeren Puls, das Lied „When the world is running down (…)“. Im ersten Beispiel, das ein Auszug aus dem Beginn von Michael Apteds Dokumentarfilm über die neue Band von Sting ist, wird das Lied „skizzierter“ gespielt und ähnelt eher einer Probenform.
Die Solo-Improvisation, wie sie im zweiten Video gespielt wird, beginnt mit dem zweiten Song „When the world is running down (…)“ und entwickelt sich auf derer Basis und energetischeren musikalischen Dynamik. Von dort aus wird die musikalische Entwicklung unter Verwendung der im Song verfügbaren musikalischen Syntax implementiert und weiter exploriert.
Im zweiten Link zum Video stellt der Musiker die Solo-Improvisation von Kenny Kirkland nach. Diese Aufführung von Sting und seiner neuen Band wurde 1985 aufgenommen und registriert die derzeit einzigartige musikalische Entwicklung mit all ihrer Spontanität. Woher wissen wir, dass diese Solo-Improvisation wirklich eine Improvisation ist? Wir können dies aufgrund der Tatsache annehmen, dass Kenny Kirkland ein Jazzmusiker ist, der an solche Improvisationen gewöhnt ist, und auch, weil sich diese spezifische Solo-Improvisation nie wieder mit derselben Entwicklung wiederholt. Es wurde nur registriert, als es von dieser spezifischen Aufnahme durchgeführt wurde.
#2: Link to the solo as performed by Kenny Kirkland in 1985
https://www.youtube.com/watch?v=3Bt9NFJj8LM
Diese Improvisation, betrachtet aus der Perspektive der Semiose, zeigt die möglichen Variationen in der Interpretation des Hauptleitmotivs auf, das heißt wie dasselbe Motiv während der Entwicklung der Musikkomposition signifikant modifiziert werden kann. Und dennoch ist das Motiv anhand seiner grundlegenden harmonischen Eigenschaften identifizierbar. Dieser besondere Aspekt der Semiose impliziert, dass die Interpretation des musikalischen Konzepts durch mehrere allgemeine Interpretationsweisen sowie durch eine Vielzahl von Richtlinien darüber, wie Informationen über diese Interpretanten organisiert und geschichtet werden sollten, verteilt wird.
Der wichtigste Aspekt dieser höchst abduktiven Operation – ich meine hier die Improvisation – ist jedoch ihre Fähigkeit, die Integration oder Wiedereingliederung eines neu isolierten oder entdeckten Elements – also Notenkombinationen, musikalische Phrasen, Temposubdivisionen, die innerhalb der Hauptharmonie der Musik möglich sind – in einen globalen, allgemeineren Kontext vorzuschlagen.
Nachdem das betreffende musikalische Motiv in den Prozess der Semiose eingetreten ist und in der Vielzahl möglicher Interpretationskontexte in Fragmente zerlegt wurde, können diese Fragmente frei miteinander und mit anderen Teilfragmenten aus früheren musikalischen Passagen korreliert werden. Der integrative Charakter der Semiotik ermöglicht das Auftreten dieser Korrelationen, und dies ermöglicht wiederum das Entstehen systemischer Verknüpfungen zwischen den musikalischen Fragmenten. Diese Verknüpfungen enthüllen dann potenzielle neue Ausdrücke bei der Komposition. Diese neuen musikalischen Ausdrücke waren in den ersten Schritten des ersten Repräsentationsprozesses verborgen und nur durch Verbindungen möglicher musikalischen Korrelationen enthüllt, die durch die Entdeckung von Analogien und die Übertragung von Strukturschichten hergestellt worden sind.
Wichtig ist zu betonen, dass die Grenzlinie zwischen der Wahrnehmung der bereits entwickelten musikalischen Elemente, der Repräsentation dieser Elemente von dem Musiker und der Komposition weiterer improvisatorischen Entwicklung sehr dünn ist: Der Musiker wird kontinuierlich von seinen eigenen gespielten und erfundenen neuen Elementen konfrontiert, auf deren Basis neue spontane und eher durch ästhetische Gefühle gestalteten Kompositionen unmittelbar gespielt werden.
Diese abduktive Operation beim Improvisieren rekonstruiert daher lokale Interpretationen durch die Übertragung differenzierter Darstellungen und die Integration der zuvor differenzierten Fragmente in neue, allgemeine und globale musik-relationale Systeme.
Die Betrachtung der Solo-Improvisation des Songs ermöglicht die Betrachtung eines dynamischen Ereignisses innerhalb der Musiksprache, mit spezifischen Syntaxen von Jazz und Rock and Roll– und dieses Ereignis aus der Improvisation stellt die Operation des Abduzierens dar.
(Im dritten Link findet man die gesamte gespielte Komposition „Bring on the Night/When the world is running down, you make the best of what is still around“ mit der Solo-Improvisation von Kenny Kirkland).
#3: Link to the whole song Bring on the Night/When the world is running down, you make the best of what is still around, as executed in France, in 1985.
https://www.youtube.com/watch?v=iXviYxufvOg&list=OLAK5uy_nRnuo09_iHa1lbPM-4RTZ223d-YKhMTxA