bilden

Ausgabe #10
Mai 2021
Download PDF

Themen des Texts

bilden

Ausgehend von einem spezifischen Erkenntnispotential künstlerischen Wissens soll die Frage nach den bildenden Möglichkeiten künstlerischer Praktiken gestellt werden. Produktionsästhetisch gewendet, geht es nicht darum, sich durch Künste zu bilden, sondern nach Bildungsprozessen in künstlerischer Praxis zu fragen. 

© Ulrike Hentschel

Das Verb bilden ist in seiner doppelten Bedeutung geeignet im Kontext des Wissens der Künste diskutiert zu werden. Abgeleitet vom althochdeutschen biliden ‘formen, gestalten auch ‚nachahmen’, kann es einerseits auf Materialien bezogen und so als künstlerische Praxis (vor allem der Bildenden Kunst) angesehen werden. Andererseits wird es aber auch auf zu formende oder sich formende Menschen angewandt, die gebildet werden bzw., in der reflexiven Form des Verbs‚ die sich bilden. Um dieses letztgenannte Verständnis von ‚bilden’ wird es im Weiteren gehen. Auch in diesem Kontext wird den Künsten traditionell eine herausragende Funktion zugesprochen. Ich erinnere hier nur an Schillers Briefe Über die Ästhetische Erziehung des Menschen (1795).11Schiller, Friedrich (1989): „Zur ästhetischen Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen.“, in: Sämtliche Werke in 5 Bänden,  G. Fricke (Hg.):  Göpfert, Bd. V: Erzählungen. Theoretische Schriften, 8. Auflage München: Bertelsmann.

Wenn die Künste – wie in der Theaterpädagogik – im pädagogischen Kontext thematisiert werden, spielt die zugrunde liegenden Vorstellung vom sich Bilden eine zentrale Rolle. Sie formatiert sowohl theoretische Überlegungen als auch die praktische Arbeit. Ein kurzer und notwendig unvollständiger Blick auf die historische Entwicklung dieser Vorstellungen mag das verdeutlichen.
Bilden wurde in der Tradition der neuhumanistischen Pädagogik seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer pädagogischen Leitvorstellung. In seinem Textfragment Theorie der Bildung des Menschen (1794/95) legt Wilhelm von Humboldt die Grundlage für dieses Ideal. Er bestimmt Bildung als einen Prozess der allmählichen Vervollkommnung des Einzelnen und auf diesem Weg der Menschheit. Dieser Prozess geschieht, Humboldt zufolge, immer in der selbsttätigen Auseinandersetzung mit Welt, mit anderem und anderen sowie im reflexiven Bezug auf sich selbst. In Humboldts Worten: „allein durch die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung.“22Wilhelm von Humboldt: „Theorie der Bildung des Menschen.“, in: Lauer, Gerhard (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Schriften zur Bildung. Stuttgart 2017: Reclam, S. 7. In dieser Vorstellung gipfelt bilden im Ideal eines mit sich selbst identischen Menschen. 
Diese aufklärerische, auf Vernunft und Mündigkeit des Menschen beruhende Vorstellung von Bildung hat im Laufe der Geschichte vielfältige Umdeutungen und Kritik erfahren. Bildung wird dabei diskurskritisch als ein kulturelles ‚Deutungsmuster’ problematisiert, das in einem je spezifischen historisch-kulturellen Kontext und unter den Bedingungen konkreter Wissensordnungen und Machtverhältnisse, die Beziehung des Einzelnen zu sich selbst und zum gesellschaftlichen Kontext formatiert.33Vgl. u.a. Bollenbeck, Georg: Kultur und Bildung. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M./Leipzig 1994: Insel.
Im Bewusstsein dieser Kritik lässt sich seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts ein verstärktes Interesse an neuen bildungstheoretischen Positionen und einer Reformulierung des vieldeutigen Begriffs verzeichnen. Solche Neuformulierungen setzen sich zum einen kritisch mit der klassischen Vorstellung vom sich Bilden als einem teleologischen und überhistorischen Prozess der Vervollkommnung des Subjekts (und mit ihm der Gesellschaft) auseinander. Zeitgenössische Bildungsprozesstheorien konzipieren sich bilden entsprechend als unabschließbar und nicht vorhersehbar und verweisen auf die Kontingenz dieses Prozesses.44Vgl. u.a. Koller, Hans-Christoph: Bildung anders denken, Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 2012: Kohlhammer. Aus Sicht dieser Konzepte wird bilden und lernen von einander unterschieden. Lernen gilt als Aneignungsprozess, als Erweiterung von Wissen und Können, der innerhalb eines bestehenden Horizontes von Erkenntnissen und Erfahrung stattfindet. Im Unterschied dazu geht es in Bildungsprozessen um Irritationen eben dieses Horizontes und um Fremdheitserfahrungen in Wahrnehmungs- und Gestaltungsvollzügen. Diese werden insofern als bildend angesehen, als sie zu Destabilisierungen und Transformationen des Selbst- und Weltverhältnisses führen.55Vgl. Ebd., S. 43. 
Zum anderen setzen sich aktuelle bildungstheoretische Ansätze mit dem emphatischen Subjektbegriff auseinander, der dem klassischen Bildungsverständnis zugrunde liegt und das Subjekt als ein souveränes, intentional Handelndes vorausgesetzt.66Vgl. u.a. Ricken, Norbert: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden 2006: VS. ders.: „Bildung und Subjektivierung. Bemerkung zum Verhältnis zweier Theorieperspektiven.“, in: Ricken/Casale/Thompson (Hg.): Subjektivierung. Erziehungswissenschaftliche Theorieperspektiven. Weinheim/Basel 2019: Beltz. Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla/Feist, Dagmar (Hg.): Selbstbildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013: transcript.
Unter dem Einfluss poststrukturalistischer Theoriediskussion wird das mit diesem Subjektbegriff einhergehende Bildungsverständnis problematisiert. In den Fokus rücken vielmehr Vorstellungen der „Formationen von Subjektivität“77Meyer –Drawe, Käte: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München 1990: Kirchheim, S. 36ff., bzw. „Selbst-Bildungen“ 88Vgl. Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla, Feist, Dagmar (Hg.) 2013., die – im Anschluss an Foucault – danach fragen, wie jemand zum Subjekt gemacht wird und sich gleichzeitig selbst zum Subjekt macht.99Vgl. Ricken/Casale/Thompson (Hg.) 2019.  Diese Konzepte eines ‚doing subject’ beinhalten eine explizite „Dezentrierung“ des sich bildenden Subjekts. Anknüpfend an praxistheoretische Überlegungen wird dieser Prozess als Subjektivierung konzipiert.
Demzufolge wird das Subjekt durch soziale Praktiken und die ihnen zugrunde liegenden Wissensordnungen – sowie unter den jeweils herrschenden Bedingungen von Macht und Verteilung von Ressourcen – hervorgebracht und geformt.1010Vgl. Reckwitz, Andreas: Subjekt. Bielefeld 2008: transcript. Eine solche top-down Perspektive läuft jedoch Gefahr, den Prozess des sich Bildens zur Seite des geformt Werdens hin zu verkürzen. Aus kultursoziologischer Sicht plädieren Thomas Alkemeyer u.a. in ihrem Konzept der Selbst-Bildung für eine „Subjektivierungstheoretische Erweiterung der Praxistheorien“.1111Alkemeyer, Thomas/ Buschmann, Nikolaus/ Michaeler, Matthias: „Kritik der Praxis. Plädoyer für eine subjektivierungstheoretische Erweiterung der Praxistheorien.“, in: Alkemeyer/Schürmann/Volbers (Hg.): Praxis denken. Konzepte und Kritik, Wiesbaden 2015: Springer VS, S. 25-50. Dadurch könne die Möglichkeit eines kritisch-reflexiven Verhältnisses zu kulturellen Praktiken ebenso berücksichtigt werden, wie deren Überschreitung und Transformation. Sich bilden findet in diesem Verständnis im körperlichen Vollzug kultureller Praktiken und immer in Bezug zu und in Auseinandersetzung mit konkreten Objekten, Räumen und Kontexten statt. Dabei handelt es sich zum überwiegenden Teil um ein routiniertes Aus- und Aufführen von kulturellen Handlungsmustern (des Gehens, des Lesens, Schreibens, Telefonierens u.ä.). Insofern trifft die Rede von der Subjektkonstruktion im Vollzug dieser Praktiken zu. Auf der anderen Seite entstehen Praktiken erst durch ihr Wiederaufführen in unterschiedlichen Kontexten und durch verschiedene Personen. Das führt notwendigerweise zu Verschiebungen und Unbestimmtheiten. Alkemeyer u.a. sprechen in diesem Zusammenhang von „Leerstellen“ oder „Spielräumen“ und sehen darin das Potential neue, unerwartete Wahrnehmungserfahrungen zu machen und sich auf diesem Wege zu bilden.1212Vgl. Alkemeyer u.a. 2013, S. 41. Entscheidend dabei ist, dass die auftretenden Leerstellen auch zu einer Reflexion der jeweiligen Praktiken und zur Selbstreflexion des eigenen Tuns in dieser Praktik herausfordern.1313Ebd., S. 57. 

Was bedeutet nun dieses veränderte Konzept des sich Bildens für das Nachdenken über Künste im Bildungskontext?
Zunächst ist festzuhalten, dass unter einer solchen praxistheoretischen Prämisse die Frage nach dem Wie des sich Bildens ins Zentrum rückt. Allgemeine, von konkreten künstlerischen Praktiken absehende Zielsetzungen einer Bildung durch die Künste, wie beispielsweise Integrations- und Partizipationsfähigkeit, werden damit in Frage gestellt.  
Stattdessen rücken die konkreten Materialen, Dinge, Räume sowie die körperlichen Formen des Umgangs mit ihnen – in den Blick. Bezogen auf künstlerische Erfahrungen heißt das: bildende Erfahrungen ereignen sich mit und im performativen Vollzug von künstlerischen Praktiken. Der Berliner Kunst- und Theaterpädagoge Müller-Poland hat diese Einsicht bereits 1990 pointiert formuliert: „Der Erkenntnisprozeß ist der Arbeitsprozeß selbst“.1414Müller-Poland, Rudi: „Inszenierung als zentrale Aufgabe im Fach Darstellendes Spiel.“, in: Ritter, Hans-Martin (Hg.): Spiel- und Theaterpädagogik. Ein Modell. Berlin 1990: Hochschule der Künste 1990, S. 52-61, hier S. 53. Entscheidend in diesem Prozess ist, so meine These, die Erfahrung der Differenzzwischen den unterschiedlichen Wissensordnungen, zwischen künstlerischer und sozialer Wirklichkeit.1515Vgl. Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung, Milow: Schibri (3. Auflage) 2010. Erst durch das Spiel mit den Routinen alltäglicher Praktiken, durch ihr Verschieben und Verfremden im Prozess künstlerischer Arbeit ( zum Beispiel durch Neu- und Umstrukturierung, De- und Rekontextualisierung), können – im Sinne des Wortes – Spielräume entstehen, die bildende Erfahrungen im Vollzug künstlerischer Praktiken ermöglichen.

Zusammenfassend handelt es sich also um eine dreifache Verschiebung der Perspektive:
Erstens, wird der Fokus von den bildenden Wirkungen künstlersicher Erfahrung hin zur Materialität und den Modi künstlerischer Produktion und Rezeption verschoben. Im Zentrum stehen dann die Erfahrungen, die in diesen Prozessen zu gewinnen sind und mögliche durch diese Erfahrungen evozierte Bildungsprozesse. Damit tritt zweitens an die Stelle eines individualtheoretisch fundierten Konzepts von Bildung eine relationale Vorstellung, die den Vorgang des sich Bildens grundsätzlich kontextualisiert und situiert begreift und seine Kontingenz mitdenkt.1616Vgl. Ricken, Norbert: „Subjektivität und Kontingenz. Pädagogische Anmerkungen zum Diskurs menschlicher Selbstbeschreibungen.“, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 75 (2) (1999), S. 208-237.  Drittens schließlich verschiebt sich die Frage danach, was das Wesen des sich Bildens in den Künsten sei, hin zur Frage danach, wie solche Bildungsprozesse möglich werden können.
Durch den Blick auf das Wie, also auf die je besonderen Modi der Produktion in ihren jeweiligen Wissenszusammenhängen, können sich neue, bisher wenig beachtete Fragestellungen für die Thematisierung der Künste im Bildungskontext eröffnen.

    Fußnoten

  • 1Schiller, Friedrich (1989): „Zur ästhetischen Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen.“, in: Sämtliche Werke in 5 Bänden,  G. Fricke (Hg.):  Göpfert, Bd. V: Erzählungen. Theoretische Schriften, 8. Auflage München: Bertelsmann.
  • 2Wilhelm von Humboldt: „Theorie der Bildung des Menschen.“, in: Lauer, Gerhard (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Schriften zur Bildung. Stuttgart 2017: Reclam, S. 7.
  • 3Vgl. u.a. Bollenbeck, Georg: Kultur und Bildung. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M./Leipzig 1994: Insel.
  • 4Vgl. u.a. Koller, Hans-Christoph: Bildung anders denken, Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 2012: Kohlhammer.
  • 5Vgl. Ebd., S. 43.
  • 6Vgl. u.a. Ricken, Norbert: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden 2006: VS. ders.: „Bildung und Subjektivierung. Bemerkung zum Verhältnis zweier Theorieperspektiven.“, in: Ricken/Casale/Thompson (Hg.): Subjektivierung. Erziehungswissenschaftliche Theorieperspektiven. Weinheim/Basel 2019: Beltz. Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla/Feist, Dagmar (Hg.): Selbstbildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013: transcript.
  • 7Meyer –Drawe, Käte: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München 1990: Kirchheim, S. 36ff.
  • 8Vgl. Alkemeyer, Thomas/Budde, Gunilla, Feist, Dagmar (Hg.) 2013.
  • 9Vgl. Ricken/Casale/Thompson (Hg.) 2019.
  • 10Vgl. Reckwitz, Andreas: Subjekt. Bielefeld 2008: transcript.
  • 11Alkemeyer, Thomas/ Buschmann, Nikolaus/ Michaeler, Matthias: „Kritik der Praxis. Plädoyer für eine subjektivierungstheoretische Erweiterung der Praxistheorien.“, in: Alkemeyer/Schürmann/Volbers (Hg.): Praxis denken. Konzepte und Kritik, Wiesbaden 2015: Springer VS, S. 25-50.
  • 12Vgl. Alkemeyer u.a. 2013, S. 41.
  • 13Ebd., S. 57.
  • 14Müller-Poland, Rudi: „Inszenierung als zentrale Aufgabe im Fach Darstellendes Spiel.“, in: Ritter, Hans-Martin (Hg.): Spiel- und Theaterpädagogik. Ein Modell. Berlin 1990: Hochschule der Künste 1990, S. 52-61, hier S. 53.
  • 15Vgl. Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung, Milow: Schibri (3. Auflage) 2010.
  • 16Vgl. Ricken, Norbert: „Subjektivität und Kontingenz. Pädagogische Anmerkungen zum Diskurs menschlicher Selbstbeschreibungen.“, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 75 (2) (1999), S. 208-237.
/2364/
Index von Ausgabe #10