poetisieren

Ausgabe #10
Mai 2021
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In diesem Beitrag wird das Phänomen des Transfers untersucht, welcher in und durch Spoken-Word-Aufführungen vollzogen wird: einerseits in Form eines Wissenstransfers, andererseits im Sinne einer affektiven Intra-Aktion. 

© Audio-Ausschnitte aus dem Video Figurationen von Antke A. Engel und Filmfetch Magda Wystub und Tali Tiller für die FernUniversität Hagen 2021, Creative Commons BY-SA 4.0. Mit den Performer_innen Neo Hülcker, Saboura Naqshband und Pasquale Virginie Rotter sowie in ergänzenden Rollen Antke A. Engel und Magda Wystub. Soundkunst von HYENAZ aka Kathryn Fischer und Adrienne Teicher. Zusatzmusik: el-Hadra von Georg Parlow.

Poetisieren des Wissens
– Teilchen, Welle oder etwa beides?

Fuck you Judith Butler“. Diesen Satz schreibt Judith Butler selbst in dem Beitrag:  Le transgenre et les attitudes de révolte11Butler, Judith: „Le transgenre et les attitudes de révolte“, in: David-Ménard, Monique (Hg.): Sexualités, genre et mélancolie, Paris 2009, S. 16–19, hier S. 17. [Hervorhebung im Original]. [Transgender und rebellische Haltungen]. Hier zitiert Butler nur die Worte der Spoken Word Künstlerin Julia Serano bei ihrem Auftritt in der San Francisco Public Library im Herbst 2005. Mit einer weiteren kleinen mise en abyme allerdings: Ich zitiere Butler, die Serano zitiert, die eigentlich die Poetin Carolyn Connelly zitiert22Serano, Julia: Excluded: Making feminist and queer movements more inclusive. Berkeley 2013, S. 22–36. . Dass Judith Butler bei der Spoken Word-Aufführung im Publikum sitzt, ist Julia Serano damals nicht bekannt. „Fuck you Judith Butler“ ist Teil eines Spoken Word-Stückes mit dem Titel On the Outside Looking in. In diesem Stück beschreibt Serano ihre Erfahrungen auf dem Camp Trans im Jahr 2003. Das Camp Trans war eine jährliche Veranstaltung, die außerhalb des Geländes vom Michigan Womyn‘s Music Festival, auch Michfest genannt, stattfand. Das Camp wurde von transgender Frauen und ihren Verbündeten am Rande des Michfests organisiert, um gegen die Womyn-born womyn33Womyn werden als diejenigen verstanden, die als Frauen geboren wurden. Womyn-born womyn werden als eine besondere Untergruppe der breiteren Gruppe Frauen betrachtet, letztere besteht aus allen, die sich als Frauen definieren, einschließlich trans Frauen. Die Begriffe men bzw. man werde in womyn bzw. im Singular womon entfernt, indem das „e“ und „a“ durch „y“ und „o“ ersetzt werden. „Such terms emerged through critiques of men’s linguistic control and the attempt to create a discursive separation.“ Browne, Kath: „Womyn‘s Separatist Spaces: Rethinking Spaces of Difference and Exclusion“, in: Transactions of the Institute of British Geographers New Series, Vol. 34, No. 4 (Oct., 2009), S. 541–556, hier S. 553. policy zu protestieren, d.h. die Entscheidung des Musikfestivals, transgender Frauen vom Besuch des Events auszuschließen. Im Jahr 2003 wurde auf dem Camp Trans eine Benefizshow abgehalten, mit „singers and spoken word artists, drag kings and queens, skits and puppets, even cheerleaders”44Serano 2013, S. 34.. In On the Outside Looking inführt Serano die Poetin Connelly an, die bei der Show ebenso performte55Connelly, Carolyn: Fuck You (A Poem for Monty), in: Serano 2013, S. 303.. Connellys Zitat endet mit folgenden Worten: „Fuck Post Modernism/Fuck Gender Studies/Fuck Judith Butler/Fuck theory that isn’t by and for and speaks to real people.“66Serano 2013, S. 34. „Ein Augenblick, den ich hervorragend überstanden habe“, schreibt Butler. Obwohl das „fuck you“ durchaus brutal klinge, und während die Beschimpfung Butler oder vielmehr Butlers Namen anzusprechen schien, tat dieser Sprechakt nämlich noch etwas anderes.

J’aurais sans doute tort de ne pas voir qu’il y avait un „tu“ auquel était adressée cette colère brutale, de ne pas voir que, même là, dans cette furieuse prise de parole publique qui semblait couper court à toute relation, il y avait malgré tout une offre de relation, un „parler haut et fort“ [ou „dire son fait“], mais aussi un „parler à“ [Es wäre zweifelsohne falsch, zu übersehen, dass es ein ‚Du‘ gibt, an das sich diese Wut richtete, zu übersehen, dass es selbst da in dieser wütenden öffentlichen Rede, die jede Beziehung zu unterbinden schien, immer noch ein Angebot zu einer Beziehung gab, ein ‚die eigene Stimme erheben‘, aber auch ein ‚jemanden an/sprechen‘]77Butler 2019, S. 17. [Meine Übersetzung].
 

In meiner Forschung zu den Ästhetiken und Politiken von queerem Spoken Word gehe ich ausführlicher auf Julia Seranos Performance ein, sowie auf die Frage, was es bedeutet, dass Serano bzw. Connelly eigentlich nicht Fuck you gesagt haben, sondern lediglich Fuck.
Heute möchte ich ein kleines Gedankenexperiment machen, das uns gleich in das Gebiet der Quantenphysik führt. Meine These ist, dass bei der Beschreibung und Analyse von Spoken Word die klassischen Literatur- und Sprachwissenschaften an ihre Grenzen stoßen. Für dieses Experiment brauchen wir ein bisschen poetische Freiheit. Die Art poetischer Freiheit, die die Sprache sich selbst nimmt, wenn sie in der Metrik den Terminus Jambus trochäisch und den Begriff Trochäus jambisch gestaltet. Gemäß Karen Barad ermöglicht Quantenphysik, das am weitesten verbreiteten Teilchen, nämlich das Atom, zu queeren. Barad bezeichnet das Atom „in seinem radikal dekonstruktiven Dasein“ als „ultraqueer“. Atome sind, laut Barad, nicht nur ultraqueer, sondern „[t]hese „ultraqueer” critters with their quantum quotidian qualities queer queerness itself”88Barad, Karen: Nature‘s Queer Performativity. In: Qui Parle 19, no. 2 (2011): S. 121–158, hier S. 121. Accessed April 15, 2021. URL: doi:10.5250/quiparle.19.2.0121. (letzter Zugriff am 10. April 2021). [Meine Hervorhebung].
Also stellen wir uns erst einmal die Sprache vor: zuerst das Morphem – von manchen Linguist_innen als das Atom der Sprache bezeichnet. Anschließend das Phonem: mal Neutron, mal Proton, mal Elektron der Sprache – die Erfüllung der bedeutungsunterscheidenden Funktion des Klangs. In der deutschen Lautsprache z.B. sind lange und kurze Vokale Phoneme. Auf Französisch dagegen wird die semantische Unterscheidung zwischen langen und kurzen Vokalen ausgeblendet. So bestellte ich einmal in der Bäckerei statt Brot mit Saat und Schrot ein Brott mit satt und Schrott.
 
Ähnlich ihrer subatomaren Analogien sind sprachliche Einheiten neutral, positiv und/oder negativ geladen – bis hin zu der Grund- und Nebenbedeutung, der sog. Denotation und Konnotation, von Begriffen. Richard Lazarus und Robert McCleary haben Proband_innen zehn sinnlose Silben vorgespielt, fünf davon mit leichten Elektroschocks gepaart. Nach einer Weile lösen die Schock-Silben signifikant stärkere Reaktionen der elektrodermalen Aktivität aus, auch wenn diese Silben nicht mehr mit Elektroschocks gekoppelt sind und nur kurz dargeboten werden, d.h. zu kurz, um als diese Silben identifiziert zu werden.99Lazarus, Richard S./McCleary Robert A.: „Autonomic discrimination without awareness. A study of subception“, in: Psychol Rev. 1951 March 58(2), S. 113–122.  Man könnte sagen, der Schock hat sich in die Bedeutung der Silben verwandelt. Ferner hat sich der Schmerz dem Sinn dieser Silben gefügt. Diese Art der Subception nennt Michael Polanyi die semantische Funktion des impliziten Wissens. So u.a. funktionieren Schimpfwörter. „Die oppressive Sprache repräsentiert nicht nur Gewalt; sie ist Gewalt“ schreibt Tony Morrison1010Morrison, Tony zit. in Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 2006, hier S. 17.. Oder in Judith Butlers Worten: „Wenn behauptet wird, dass ‚Sprache verletzt’ oder […] daß ‚Wörter verwunden’, so verknüpfen sich hier ein sprachliches und ein physisches Wortfeld“1111Butler 2006, S. 13.. Hergestellt wird eine Verbindung zwischen Sprache und Körper, zwischen Sprechakt und körperlichem Wohlbefinden. Wenn die somatische Dimension der Sprache Sprechhandlungen dazu befähigt, physisch einzuwirken und zu verwunden, kann im Umkehrschuss die Verknüpfung von Sprache und Körper Wunden genesen.
Meine Wunden wundern sich – und freuen sich. How poetry can change your heart, schreibt dier Spoken Word Künstler_in Andrea Gibson.1212Gibson, Andrea: How poetry can change your heart, San Francisco 2019. Poesie lässt die Stofflichkeit der Sprache erklingen. Poesie entfaltet das Lautliche in seiner ganzen Pracht. Poesie kann sich gar ganz von der semantischen Ebene verabschieden und sich auf den Klang der Laute und Silbenbegrenzen, das „Rauschen der Sprache“1313Barthes, Roland: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt am Main 2005., um es mit Roland Barthes auszudrücken.
 

Poetik des Wissens I

Wie artikulieren sich die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Poesie? Ähnlich der Ethnographie, die von Clifford und Marcus als Fiktion bezeichnet wird, kann jede Form der Wissensgenerierung als Fiktion betrachtet werden, und ferner als teils inspirierte teils mimetische Dichtung. Beide Autoren postulieren, dass

the poetic and the political are inseparable, that science is in, not above, historical and linguistic processes, […] that academic and literary genres interpenetrate [and that] ethnographic truths are thus inherently partial–committed and incomplete.1414Clifford, James / Marcus, George E. (Hg.): Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley 2008, S. 2–7 [Hervorhebung im Original].

Alexander Tzonis und Liane Lefaivre befassen sich mit der Poetik der klassischen Architektur und bedienen sich hierfür eines architektonischen Skandierens. Ebenso wie bei einem Gedicht könne das Skandieren bei einem Gebäude zu einer Vielzahl von Interpretationen führen.1515Tzonis, Alexander/ Lefaivre, Liane: Das Klassische in der Architektur. Die Poetik der Ordnung. Braunschweig 1987, hier S. 133. Poetologisch wird durch das Skandieren ein Gedicht Versfuß um Versfuß nach seinen poetischen Rhythmen abgeklopft, welche durch graphische Zeichen zum Zwecke der metrischen Analyse dargestellt werden. In der Architektur wird das Skandieren verwendet als „eine äußerst genaue Untersuchung eines anscheinend nahtlosen Gebäudeentwurfes […], eine Untersuchung, die das Ziel verfolgt, dessen morphologische Struktur zu erkennen, die darin eingeschlossenen Schemata zu bemerken und zu enthüllen und seine formale Qualität zu genießen.“1616Tzonis/ Lefaivre 1987, S. 133. Das Poetisieren kann ein hermeneutisches Modell bieten, um künstlerische, ethnographische, anthropologische oder gar theologische Konstellationen begreifbar zu machen.

Gedankenexperiment

Dieses Experiment lehnt sich an das Doppelspalt-Experiment an. Das Doppelspalt-Experiment wurde erstmals im Jahr 1802 von Thomas Young durchgeführt, um die wellenförmige Natur des Lichtes zu beweisen. Hier wollen wir die wellenförmige Natur des Schalls heranziehen. Nun mögen wir uns eine Wand vor Augen führen. Diese Wand hat in ihrer Mitte zwei schmale parallele Spalten. Dahinter, ein Schirm. Wenn Bälle durch die zwei Spalten geschickt werden, sind dahinter auf dem Schirm ein Muster von zwei Balken zu sehen. Bälle / Balken. Wird dagegen Licht durch die Spalten geschickt, ergibt sich auf dem Schirm ein sog. Interferenzmuster. Die Lichtwellen treten in beide Spalten zugleich und überlagern sich nach dem Diffraktionsprinzip. Bälle und Licht, d.h. Teilchen und Wellen, verhalten sich in der klassischen Physik anders. Es ist der sog. Welle-Teilchen-Dualismus. Der Welle-Teilchen-Dualismus wird allerdings durch die Quantenphysik ins Wanken gebracht. Denn: wenn Elektronen durch die Anordnung geschickt werden, ergeben sie auf dem Schirm nämlich keine Balken, wie man es von Teilchen erwarten würde, sondern bilden sie in der Tat ein Interferenzmuster, welches auf Wellen schließen ließe. Als würde jedes Teilchen förmlich wellenförmig durch die beiden Spalten zugleich treten. Noch kurioser: Karen Barad beschreibt, dass ein Elektron sein Verhalten verändert, wenn man versucht, durch eine which-path device-Anordnung experimentell zu beobachten, durch welche Spalte genau dieses Elektron tritt.

Bohr argued that if we were to perform a two-slit experiment with a which-path device (which can be used to determine which slit each electron goes through on its way to the detecting screen), we would find that the interference pattern is destroyed. That is, if a measurement is made that identifies the electron as a particle, as is the case when we use a which-path detector, then the result will be a particle pattern, not the wave pattern that results when the original unmodified two-slit apparatus is used. But this result makes the situation even more confusing than ever – is the electron a particle or a wave? How can we get different results using different experimental apparatuses?1717Barad 2007, S. 104.

Mit anderen Worten: Die Beobachtung zerstört, oder zumindest verändert, verschiebt das Verhalten des Elektrons1818An der Stelle sei noch erwähnt, dass sich der Terminus „Elektron“ akzentual dynamisch verhält, da die Betonung durch jede Silbe wandern kann: es kann mal das erste E, mal die Silbe -lek- und mal die letzte Silbe -tron betont werden. Jede dieser drei Varianten ist korrekt und spiegelt auf eine Art die elektronische Fluidität wider.. Poetologisch könnte man das etwa mit folgendem Phänomen vergleichen:

Turn your attention on a word you have spoken; repeat it several times, attending carefully to the sound you produce and to the motion of your tongue and lips, and the word will regain its sensuous body and lose its meaning.1919Polanyi, Michael: The Logic of Tacit Inference, in: Philosophy 41, no. 155 (1966): 1–18. Accessed April 15, 2021. URL: http://www.jstor.org/stable/3749034. (letzter Zugriff am 15. März 2021)

Das, was Michael Polanyi hier beschreibt, erfolgt ebenso in bestimmten lyrischen Formen, etwa bei abstrakten Silbenfolgen von transrationalen Zaum-Gedichten der russischen Avantgarde, bei rhythmischen Klangstrukturen in Lautgedichten der Dadaist_innen, in der konkreten Poesie oder in syllabischen Dekompositionen der Wiener Gruppe. Oder einfach, wenn man eine Fremdsprache hört, die man nicht versteht. Laut Polanyi können die subsidiären Daten, die als Mittel dienen, um das fokale Objekt herzustellen bzw. zu erreichen, nicht fokal bewusst gemacht werden dürfen, da sonst eine Störung resultieren würde. Subliminal treten poetische Strukturen auch in nicht-literarischen Sprachverwendungen auf, zum Teil unwillkürlich.2020Jakobson, Roman: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt am Main 1979, hier S. 311. Die Frage stellt sich, was geschieht, wenn wir Sprache in ihrer Stofflichkeit, wenn wir Morpheme und Phoneme, Silben und Klänge in deren wellenförmigen Materialität, durch die beiden Spalten – Ohren, Augen – schicken. Welches Muster entsteht auf dem Hirn?
F         a          k         i           u          F   a  k  i  u 
Fuck you Ästhetik.

Poetik des Wissens II

Bei Fragen des künstlerischen Wissens scheinen heutzutage Verbindungslinien zur Ästhestik evident. Anders verhält es sich hingegen mit der Poetik. Und doch ist die Ästhetik ursprünglich aus der Poetik entsprungen, welche erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts ihr angestammtes Recht verlor, um der Ästhetik Platz zu machen. An die Stelle poetologischer Regularien und Muster trat damals das Geschmacksurteil. Im 19. Jahrhundert, und zwar nach der Trennung der Sprach- von der Literaturwissenschaft, rückte die traditionelle Poetik noch mehr in den Hintergrund zugunsten des Kernbereichs Literaturgeschichte.2121Jung, Werner: Kleine Geschichte der Poetik. Hamburg 1997, hier S. 200–201. Daher mein Plädoyer für die Rückkehr der Poetik ins epistemische Blickfeld. Poetik des Wissens nennt Jacques Rancière „die Untersuchung aller literarischen Verfahren, durch die ein Diskurs sich den Status einer Wissenschaft gibt“2222Rancière, Jacques: Die Namen der Geschichte: Versuch einer Poetik des Wissens. Frankfurt am Main 1994, hier S. 17. (aus dem Französischen von Eva Moldenhauer). Angelehnt an Aristoteles könnte man sagen, dass Poesie und Wissenschaft zwei literarische Genres sind, die teils durch Mimesis teils durch Inspiration auf deskriptive und präskriptive Art Wissen generieren. Obwohl Aristoteles der Meinung ist, dass es nicht Aufgabe von Dichter_innen sei mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte – im Gegensatz zu Historiker_innen2323Aristoteles 2004, S. 16–17., zeigt der Spoken Word Text von Julia Serano, dass Poesie sehr wohl das wirklich Geschehene mitteilen kann. Zum anderen beweist die oben von Barad angeführte which-path device-Anordnung, dass Wissenschaftler_innen wohl auch mitteilen, was geschehen könnte.

Let’s pause for a moment to take in the fact that although this „experimental result” [regarding the electron changing its behaviour] is what often gets reported as a simple matter of fact in both pedagogical and popular accounts, the fact is that we’ve been talking about a gedanken experiment, not an actual experiment. So what’s going on here? What’s being reported is not actual data but a prediction based on theoretical arguments. The reported result is Bohr’s prediction for what would occur if we were (able) to perform the experiment.2424Barad, Karen: Meeting the universe halfway. Durham 2007, hier S. 104–105.

Lyrik und Wissenschaft unterscheiden sich voneinander womöglich wie von der Epik und der Dramatik sowie — größtenteils — vom Flöten in dreifacher Hinsicht: „durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen.“2525Aristoteles. Poetik: Griechisch/Deutsch. Stuttgart 2014, hier S. 1. (aus dem von Manfred Fuhrmann). Genauso wichtig wie die Frage, was Poesie ist, d.h. wie die Bestimmung des Gegenstandsgebiets ausfällt, ist die Frage nach dem Wozu: wozu braucht die Wissenschaft Poesie? Welches Potenzial entfaltet Poesie für die Produktion von Wissen?

Poetry can compress vast acreages of meaning into a small compass or perform the kind of bold linkages that it would take reams of academic argument to plot; it can widen the aperture of our gaze or deposit us on the brink of transformation.2626Farrier, David. Anthropocene poetics: deep time, sacrifice zones, and extinction. Posthumanities 50. Minneapolis 2019, hier S. 5.

Poesie und Epistemie können beide als symbiopoetische Projekte der Welterzeugung betrachtet werden. Beide nutzen Tropen wie Metapher oder Zitate, beide beinhalten eine Wendung oder einen Paukenschlag, die neue Assoziationen in Gang setzen, beide brauchen „an apocalyptic imaginary: one that can envision deep futures of world-making and world-unmaking”.2727Farrier 2019, S. 13. Poetisieren ermöglicht zum einen einen phänomenologischen Zugang zur Welt und zum anderen die Auflösung von Binaritäten, wodurch das Wissen der Künste als Teilchen und Welle zugleich konzipiert werden kann – ganz im Sinne einer queerer Tradition.

    Fußnoten

  • 1Butler, Judith: „Le transgenre et les attitudes de révolte“, in: David-Ménard, Monique (Hg.): Sexualités, genre et mélancolie, Paris 2009, S. 16–19, hier S. 17. [Hervorhebung im Original].
  • 2Serano, Julia: Excluded: Making feminist and queer movements more inclusive. Berkeley 2013, S. 22–36.
  • 3Womyn werden als diejenigen verstanden, die als Frauen geboren wurden. Womyn-born womyn werden als eine besondere Untergruppe der breiteren Gruppe Frauen betrachtet, letztere besteht aus allen, die sich als Frauen definieren, einschließlich trans Frauen. Die Begriffe men bzw. man werde in womyn bzw. im Singular womon entfernt, indem das „e“ und „a“ durch „y“ und „o“ ersetzt werden. „Such terms emerged through critiques of men’s linguistic control and the attempt to create a discursive separation.“ Browne, Kath: „Womyn‘s Separatist Spaces: Rethinking Spaces of Difference and Exclusion“, in: Transactions of the Institute of British Geographers New Series, Vol. 34, No. 4 (Oct., 2009), S. 541–556, hier S. 553.
  • 4Serano 2013, S. 34.
  • 5Connelly, Carolyn: Fuck You (A Poem for Monty), in: Serano 2013, S. 303.
  • 6Serano 2013, S. 34.
  • 7Butler 2019, S. 17. [Meine Übersetzung].
  • 8Barad, Karen: Nature‘s Queer Performativity. In: Qui Parle 19, no. 2 (2011): S. 121–158, hier S. 121. Accessed April 15, 2021. URL: doi:10.5250/quiparle.19.2.0121. (letzter Zugriff am 10. April 2021). [Meine Hervorhebung].
  • 9Lazarus, Richard S./McCleary Robert A.: „Autonomic discrimination without awareness. A study of subception“, in: Psychol Rev. 1951 March 58(2), S. 113–122.
  • 10Morrison, Tony zit. in Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 2006, hier S. 17.
  • 11Butler 2006, S. 13.
  • 12Gibson, Andrea: How poetry can change your heart, San Francisco 2019.
  • 13Barthes, Roland: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt am Main 2005.
  • 14Clifford, James / Marcus, George E. (Hg.): Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley 2008, S. 2–7 [Hervorhebung im Original].
  • 15Tzonis, Alexander/ Lefaivre, Liane: Das Klassische in der Architektur. Die Poetik der Ordnung. Braunschweig 1987, hier S. 133.
  • 16Tzonis/ Lefaivre 1987, S. 133.
  • 17Barad 2007, S. 104.
  • 18An der Stelle sei noch erwähnt, dass sich der Terminus „Elektron“ akzentual dynamisch verhält, da die Betonung durch jede Silbe wandern kann: es kann mal das erste E, mal die Silbe -lek- und mal die letzte Silbe -tron betont werden. Jede dieser drei Varianten ist korrekt und spiegelt auf eine Art die elektronische Fluidität wider.
  • 19Polanyi, Michael: The Logic of Tacit Inference, in: Philosophy 41, no. 155 (1966): 1–18. Accessed April 15, 2021. URL: http://www.jstor.org/stable/3749034. (letzter Zugriff am 15. März 2021)
  • 20Jakobson, Roman: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt am Main 1979, hier S. 311.
  • 21Jung, Werner: Kleine Geschichte der Poetik. Hamburg 1997, hier S. 200–201.
  • 22Rancière, Jacques: Die Namen der Geschichte: Versuch einer Poetik des Wissens. Frankfurt am Main 1994, hier S. 17. (aus dem Französischen von Eva Moldenhauer)
  • 23Aristoteles 2004, S. 16–17.
  • 24Barad, Karen: Meeting the universe halfway. Durham 2007, hier S. 104–105.
  • 25Aristoteles. Poetik: Griechisch/Deutsch. Stuttgart 2014, hier S. 1. (aus dem von Manfred Fuhrmann).
  • 26Farrier, David. Anthropocene poetics: deep time, sacrifice zones, and extinction. Posthumanities 50. Minneapolis 2019, hier S. 5.
  • 27Farrier 2019, S. 13.
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