Die Frage nach dem „Sein“ bei Martin Heidegger fordert die philosophische Lehre des Idealismus heraus. Der Idealismus ist u.a. bei René Descartes zu finden, der als Fundament seiner Erkenntnistheorie das berühmte cogito, ergo sum (ich denke, also bin ich)11Descartes, René: Philosophische Schriften in einem Band, Felix Meiner Verlag Hamburg 1996, S. 45. in den Mittelpunkt stellt. Diese Annahme spitzt sich bei Immanuel Kant zu, der nach der Bedingung der Möglichkeit für Erkenntnis fragt.22Vgl. Walach, Harald: Psychologie Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch, Stuttgart 2009, S. 162. Bei Kant nimmt der Verstand die vermittelnde Instanz zur Erkenntnis ein: Die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist nach Kant begrenzt. Er unterscheidet zwischen dem Ding an sich, das für den Menschen nicht erfahrbar ist; und der Erscheinung, also zwischen der realen Welt und unserem Bewusstsein.33Vgl. Jahraus, Oliver: Martin Heidegger. Eine Einführung. Stuttgart 2004, S. 53. Die Welt zerfällt in erkennende Subjekte und passive Entitäten, die Objekte.
Indem der Verstand im Mittelpunkt der Analyse steht, zentriert der Idealismus das cogito, also das ‚ich denke‘. Versucht das Subjekt sich selbst zu bestimmen, muss es eine Außenperspektive einnehmen und zerfällt in dem Moment zu Subjekt und Objekt.44Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 2006, hier S. 60. Während das Subjekt vorher nur Geist ist, wird es sich plötzlich seiner Materialität bewusst. Das Geist/Materie-Problem entsteht, denn der Mensch ist immer auch ein leibliches Wesen.
Das Subjekt wird zur Letztbegründungsinstanz und alle Entitäten gruppieren sich um das Subjekt. Kant betont, dass das Alleinstellungsmerkmal des Menschen die selbstreflexive Erkenntnis über die Erkenntnis ist und verknüpft diese Annahme mit einer ethischen Dimension.55Vgl. Sitorus, Fitzgerald Kennedy: Das Selbstbewusstsein als Subjekt im Begriff: zu Kants Begriff des Selbstbewusstseins im Lichte der Kritik der Heidelberger Schule, unv. Diss. 2014, S. 60. 192–194. Weil Menschen selbstreflexiv sind, sind sie vernunftbegabt.
Auch Heidegger stellt in seinem fundamentalontologischen Werk Sein und Zeit den Menschen in den Mittelpunkt: Allerdings drängt er das selbstreflexive, kartesianische cogito, also das ‚ich denke‘, aus der Philosophie und stellt das ergo sum, also das ‚ich bin‘, in den Vordergrund.66Vgl. Ciborra, Claudio/Willcocks, Leslie P.: “The mind or the heart? it depends on the (definition of) situation”, in Journal of Information Technology 21 (2006), S. 129–139, hier S. 135. Im Heideggerjargon müsste es lauten das Sein des Daseins, wobei das Dasein der Mensch ist und das Sein die zu bestimmende Kategorie. Heidegger destruiert die kartesianische Annahme, dass es ein erkennendes Subjekt gibt, dass von der Außenwelt getrennt ist. Er ist der Auffassung, dass der Idealismus vom Leben und Alltag entrückt ist. Er hingegen verschränkt den Menschen mit der Welt und bezeichnet diesen Zusammenhang als das In-der-Welt-sein.77Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 2006, S. 56. Bei Heidegger versteht sich der Mensch im Vollzug. Verstehen meint hier alle sinnhaften Bezüge. Begriffe wie Körper und Geist sind nach Heidegger nicht voneinander getrennt denkbar, weshalb er nicht auf die Begriffe der Erkenntnisphilosophie zurückgreift, sondern einen eigenen verworrenen Jargon entwirft. Beispielsweise wird Sein an keiner Stelle definiert, denn er fragt nicht nach dem Sein selbst, sondern nach dem ‚Sinn vom Sein‘. Am ehesten würde ich also das Sein als Leben interpretieren, allerdings haben andere Autor*innen das Sein als Sinnhaftigkeit gedeutet.
Im Modus des In-der-Welt-seins hat der Mensch die Welt bereits verstanden, denn er befindet sich immer schon in sinnhaften Zusammenhängen. Bei Kant hingegen muss die Welt erst erkannt werden und auch nur dann kann der Mensch ein Bewusstsein über die Welt entwickeln, aber nicht die Welt-an-sich verstehen. Diese Trennung aus Bewusstsein über die Welt und die reale Welt entfällt bei Heidegger gänzlich. Mensch und Welt befinden sich in einer indifferenten Struktur und verhalten sich zueinander und sind nicht ohne einander denkbar. Heidegger setzt voraus, dass die Welt sinnhaft strukturiert ist und die Sinnhaftigkeit von Welt und Dasein einen hermeneutischen Anfangspunkt darstellt.88Vgl. Jahraus 2004, S. 91. Der Mensch erschließt sich nur aus diesem alltäglichen Zusammenhang und nicht aus sich selbst heraus, wie wir es aus der Subjektphilosophie kennen.
Nach Heidegger versteht der Mensch die Welt auch im Modus seiner Stimmung und seines Befindens.99Vgl. Bulka, Thomas: Stimmung, Emotion, Atmosphäre: Phänomenologische Untersuchungen zur Struktur der menschlichen Affektivität, Münster 2015, S. 151. Diesen Modus des Welterschließens nennt er Befindlichkeit. Im Englischen wird der Begriff Befindlichkeit mehrdeutig übersetzt mit „state of mind“, „being in the mood”, „attunement” und zuletzt „situatedness“.1010Ciborra 2006, S. 130. Während situatedness eher einen räumlichen Charakter aufweist, verweist der deutsche Befindlichkeitsbegriff auf einen räumlichen und sinnlichen Charakter. Insofern ist der Mensch nicht nur räumlich und sondern auch in seiner Stimmung situiert. „Befindlichkeit“ ist ein mehrdeutiger Begriff, der sowohl das sinnliche Innenleben als auch die räumliche Außenwelt miteinander verschränkt.1111Vgl. Ebd., S. 20.
Donna Haraway bezieht sich nicht direkt auf Heidegger und seinen Begriff der Situiertheit. Nur durch ihre Lektüre von Jacques Derrida, Bruno Latour und Giorgio Agamben, die sich auf Heidegger beziehen und ihn kritisieren, entsteht eine indirekte Verbindung.1212Vgl. Rae, Gavin.: “The Philosophical Roots of Donna Haraway’s Cyborg Imagery: Descartes and. Heidegger through Latour, Derrida, and Agamben”, in Human Studies 37 (2014), Heft 4, S. 505-528, hier S. 507.
Aber von vorn: Auch Haraway löst sich in ihren Schriften vom kartesianischen Denken. Im Text „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg der parteilichen Perspektive“, im englischen Original 1988 erschienen, macht sie sich für die Verkörperung und Verortung von Wissen stark.1313Vgl. Haraway, Donna: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“ [1996, aus dem Engl. übersetzt 1988], in: Hark, Sabine (Hg.): Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie, Opladen 2001, S. 281–298, hier S. 287. Haraway verweist damit auf den Geist/Materie- und Subjekt/Objekt-Dualismus, den auch sie versucht zu überwinden. So hinterfragt sie die Beziehung zwischen Körper und Sprache. Sie kritisiert den Universalismus, denn sie fortan im Text als Reduktionismus bezeichnet.1414Vgl. Ebd., S. 285. Der Universalismus, der sich im Idealismus findet, verstellt unsere Perspektive auf die Welt und lässt unmarkiert, wer spricht, denkt und Wissen produziert. Sie bezeichnet diesen männlich weißen Blick als „god trick“, also als göttlichen Trick, der verspricht, eine universelle Perspektive einzunehmen.1515Vgl. Ebd., S. 288. Dieser Blick von oben ist körperlos, ohne Standpunkt, scheinbar neutral, während er gleichzeitig „die Anderen“ markiert. Dieser scheinbare Blick von Außen suggeriert „Objektivität“. Haraway möchte aber keineswegs Objektivität abschaffen. Sie plädiert für eine feministische Objektivität, die von „begrenzter Verortung und situiertem Wissen [handelt]“1616Ebd., S. 286.. Im englischen Originaltext heißt es auch „situated knowlegdes“, also der Plural von Wissen. Haraway spricht sich also für ein plurales, partiales, verortbares, verkörpertes und verantwortungsbewusstes kritisches Wissen aus.1717Vgl. Gramlich, Naomie/Haas, Annika: „Situiertes Schreiben mit Haraway, Cixous und grauen Quellen“, in Zeitschrift für Medienwissenschaft 11 (2019), Heft 1, S. 39–52, hier S. 39.
Situiertheit beschreibt bei Haraway den Zugriff auf die Welt: Situiertheit bedeutet aber nicht einfach ein Ort, sondern eher einen Modus, der Akteure oder Agenten erfordert. Sie betont Verbindungen und Netzwerke, also unerwartetes, dynamisches und prozesshaftes Wissen, das miteinander verknüpft werden kann und nicht statisch ist. Auch für Haraway gibt es wie bei Heidegger keine „wirkliche“ Welt.1818Vgl. Haraway 2001, S. 282. Auch bei ihr ist Welt immer schon erschlossen. Die Welt muss also nicht mehr entdeckt werden. Gemeinsamkeiten bei Haraway und Heidegger bestehen also im Verständnis von Welt und In-der-Welt-sei‘, Wissen wird eben nicht nur reflexiv, sondern immer im Vollzug erfahren mit einer körperlichen wie räumlichen Dimension. Bei Haraway zeigt sich die Welt allerdings in machtgeladenen sozialen Beziehungen. Wissenschaft, Politik und Ethik sind bei ihr miteinander verflochten. Während Heidegger explizit ethische Implikationen in seiner Fundamentalontologie ausspart, führt Haraway den Begriff der verantwortlichen Positionierung ein.1919Vgl. Ebd., S. 292. Haraway und Heidegger stehen sich hier diametral entgegen. Auf Affekte, Empfindungen und Stimmungen nimmt Haraway keinen Bezug, ob diese Konnotation bei Haraway überhaupt eine Rolle spielt, ist unklar. Ich würde sagen, dass ihr Begriff der Situiertheit in Bezug auf Heideggers Befindlichkeit zumindest kompatibel ist, auch wenn es keine Erwähnung findet. Ihr Begriff der Verkörperung, der weit mehr ist als eine fixierte Lokalisierung, sondern bei ihr eher als Knotenpunkt, Wendepunkt und Ausrichtung gedacht wird, verweist zumindest vage auf das, was Heidegger unter Befindlichkeit versteht.2020Vgl. Ebd., S. 291.
Heidegger und Haraway können nicht einfach als konkurrierende Denker*innen verglichen werden. Beide können auch nicht ahistorisch gelesen werden, denn Heidegger war ein Nationalsozialist und Haraway ist sozialistische Feministin. Es handelt sich hier nicht einfach um praxisferne Ideen.
Was kann also Situiertheit für uns als Wissenschaftler*innen bedeuteten? Denn es reicht bei Weitem nicht zu sagen, ich bin weiß, weiblich und Akademikerin. Diese Positionierung ist wichtig, damit Genoss*innen wissen, aus welcher Position heraus ich argumentiere und gegebenenfalls intervenieren können und auf blinde Flecken aufmerksam machen, aber diese reine Standortpositionierung, hat keine Praxis. Bei Haraway ist Theorie untrennbar mit einer politischen Praxis verbunden. Haraway lehrt uns jede Praxis sollte nach Solidarität, Verbindungen, Diskussionszusammenhängen und Bündnissen suchen.2121Vgl. Ebd., S. 287.
- 1Descartes, René: Philosophische Schriften in einem Band, Felix Meiner Verlag Hamburg 1996, S. 45.
- 2Vgl. Walach, Harald: Psychologie Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch, Stuttgart 2009, S. 162.
- 3Vgl. Jahraus, Oliver: Martin Heidegger. Eine Einführung. Stuttgart 2004, S. 53.
- 4Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 2006, hier S. 60.
- 5Vgl. Sitorus, Fitzgerald Kennedy: Das Selbstbewusstsein als Subjekt im Begriff: zu Kants Begriff des Selbstbewusstseins im Lichte der Kritik der Heidelberger Schule, unv. Diss. 2014, S. 60. 192–194.
- 6Vgl. Ciborra, Claudio/Willcocks, Leslie P.: “The mind or the heart? it depends on the (definition of) situation”, in Journal of Information Technology 21 (2006), S. 129–139, hier S. 135.
- 7Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 2006, S. 56.
- 8Vgl. Jahraus 2004, S. 91.
- 9Vgl. Bulka, Thomas: Stimmung, Emotion, Atmosphäre: Phänomenologische Untersuchungen zur Struktur der menschlichen Affektivität, Münster 2015, S. 151.
- 10Ciborra 2006, S. 130.
- 11Vgl. Ebd., S. 20.
- 12Vgl. Rae, Gavin.: “The Philosophical Roots of Donna Haraway’s Cyborg Imagery: Descartes and. Heidegger through Latour, Derrida, and Agamben”, in Human Studies 37 (2014), Heft 4, S. 505-528, hier S. 507.
- 13Vgl. Haraway, Donna: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“ [1996, aus dem Engl. übersetzt 1988], in: Hark, Sabine (Hg.): Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie, Opladen 2001, S. 281–298, hier S. 287.
- 14Vgl. Ebd., S. 285.
- 15Vgl. Ebd., S. 288.
- 16Ebd., S. 286.
- 17Vgl. Gramlich, Naomie/Haas, Annika: „Situiertes Schreiben mit Haraway, Cixous und grauen Quellen“, in Zeitschrift für Medienwissenschaft 11 (2019), Heft 1, S. 39–52, hier S. 39.
- 18Vgl. Haraway 2001, S. 282.
- 19Vgl. Ebd., S. 292.
- 20Vgl. Ebd., S. 291.
- 21Vgl. Ebd., S. 287.