Die englischen Wörter to situate und site haben beide ihren Ursprung im lateinischen Wort situo, dessen Bedeutung to locate, to place ist. Ich beziehe mich auf diese englischen Vokabeln, da der Ort, die site als Thema seinen Ausgangspunkt in der US-amerikanischen Kunst(geschichte) hat. Aufgrund dieses Ursprungs ist es auch nicht überraschend, wenn stark von der US-amerikanischen Kunstgeschichte beeinflußte, in Deutschland ausgebildete Kunstwissenschaftler_innen das Verb „situieren“ mit site specifity und mit Miwon Kwons kanonischem Text „One Place after Another: Notes on Site Specifity“ (im Jahr 1997, in der Zeitschrift October erschienen) verbinden.11Kwon, Miwon: „One Place after Another. Notes on Site Specificity“, in: October, Bd. 80, 1997, S. 85–110. So ist es sowohl Hanna Magauer wie auch mir bei der Vorbereitung unserer Glossarbeiträge ergangen, was – und hier werden wir in unserem Feld situiert – wohl an unserer geteilten Ausbildungsgeschichte und unserem geteilten Diskursumfeld liegt. Doch schlage ich einen anderen Pfad ein als Hanna Magauers kunsthistorisch angelegter Text: Ich frage nicht nach den Anwendungsmöglichkeiten des Situierungsbegriffes in der kunsthistorischen Methodik, sondern setze umgekehrt mit den kunsthistorischen Erörterungen Kwons auf theoretischem Terrain ein: Wie könnte Kwons These, laut der seit den 1960er Jahren der Ortsbegriff in der Kunst immer weiter ausgedehnt wurde, zum tieferen Verständnis des Begriffes „situieren“ beitragen, wie er in der Wendung „situated knowledges“ von Donna Haraway eingesetzt wird?
Miwon Kwon beschreibt in ihrem Aufsatz den Weg von einer werkzentrierten, autonomen Kunstauffassung zu einer Kunst, die sich selbst durch die Beziehung zu ihrer Umgebung bestimmt sieht. Laut der Autorin hat sich seit dem Aufkommen einer explizit ortspezifischen Arbeitsform in den 1960er Jahren das Verständnis des Ortes immer wieder verändert. Definierte man site specificity zuerst als die Auseinandersetzung der künstlerischen Arbeiten mit ihrer konkreten materiellen Umgebung, also der Landschaft oder dem Raum, in dem sie platziert waren, erweiterte sich das Verständnis von site seit den 1970er Jahren um immer weitere soziale Faktoren, darunter die institutionelle Rahmung oder der sozioökonomische Kontext. Später setzte sich diese Erweiterung bis ins Diskursive und Politische fort, so dass heute sites als Schnittstellen von unterschiedlichsten Arten von Wissen verstanden werden, die vom Körperlichen über das Soziale bis ins Machttechnische oder Juristische reichen können.
In Kwons Text tauchen mehrere Motive auf, welche sich mit der Frage nach situated knowleges und „Wissen“ als Verb, bzw. als Akt verbinden lassen. Ohne die historischen Hintergründe dieser Überschneidungen näher zu erläutern, erwähne ich hier zwei davon: Kwon beschreibt das Aufkommen der site specificity als eine Hinwendung zur ganzkörperlichen, sinnlich unmittelbaren Wahrnehmung und als eine Abkehr von einem „disembodied eye“22Ebd., S. 86. – eine Wendung, die wie ein Zitat von Donna Haraway anmutet. Während des Prozesses der Ausdehnung des Ortsbegriffes von konkreten „physischen Parametern“ auf die (Kunst)institutionen und dann auf die sie umgebende Welt verwandelten sich die künstlerischen Arbeiten selbst (genauso wie die site) – so Kwon weiter – von Objekten, also Substantiven, zu Prozessen und damit zu Verben 33Ebd., S. 91. Der Autorin geht es hier genau um dieselbe Prozesshaftigkeit der zeitgenössischen Kunst, welche dieses Glossar ebenfalls ausarbeiten möchte.
Nach der Beschreibung dessen, was die Kunsthistorikerin als dritte Etappe der Erweiterung des Ortsbegriffes betrachtet und in der die künstlerischen Arbeiten seit den 1980er Jahre nicht nur die Bedingungen von Kunst unter die Lupe nahmen, sondern zunehmend auch die Verhältnisse der sie umgebenden Welt im Allgemeinen, schreitet Kwon zu einer Kritik gegenüber der site-specifity ihrer Zeit fort. Die neue Auffassung von Orten, die nun nicht als vorgegebene Tatbestände, sondern als dynamische, von laufenden Prozessen bestimmten Schnittstellen von Wissen verstanden werden, die von Diskursen durchzogen und nicht einfach faktisch da sind, sondern generiert werden, bringe neue Gefahren mit sich: Einerseits führte die Radikalisierung der These, dass Orte nicht auf ihre physische Eigenheit zu reduzieren seien, zu einer totalen Auflösung und Nomadisierung der sites und zu der Vorstellung, man könne Orte beliebig auf die Reise nehmen und site specific art einfach überall zeigen. Andererseits schlich durch die Verflüssigung des Ortes eine neue Nostalgie nach einer zwar breiter gefassten, doch der Naturalisierung der Landschaft in der frühen site-specificity durchaus ähnlichen Authentizität bzw. identitätsstiftenden Einzigartigkeit des Ortes in die Kunstwelt ein, welche widerum mit großer Begeisterung vom neoliberalen Stadtmarketing aufgenommen werden konnte. Um diesen beiden Fallstricken zu entkommen, schlägt Kwon eine Zwischenposition zwischen der totalen Auflösung und der Essentialisierung der site vor – und eben das ist es, was ihre Postion nicht nur motivisch, sondern auch durch eine strukturelle Ähnlichkeit mit der von Haraway verbindet. Kwon zeigt die Option einer präzisen Ortsverfehlung auf, ein Vorgehen, das sie wie folgt umschreibt: „finding a terrain between mobilization and specificity – to be out of place with punctuality and precision“ 44Ebd., S. 109–110. Um eine solche Zwischenstellung beziehen zu können, sei es notwendig, die Frage des Ortes mit einer „relational sensibility“ anzugehen 55Ebd., S. 110.
Donna Haraways Aufsatz „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective‘‘ stammt aus dem Jahr 1988 und ist damit neun Jahre älter als der von Kwon.66Haraway, Donna: „Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies, Bd. 14, Herbst 1988, S. 575–599. Haraway bezieht darin ebenfalls eine Zwischenposition, allerdings nicht zwischen Nomadismus und der Ortsgebundenheit künstlerischer Arbeiten, sondern zwischen den Polen des Relativismus und des Objektivismus in der Wissenschaftstheorie. Sie kritisiert in ihrem viel zitierten Text scharf die Vorstellung von einer wissenschaftlichen Objektivität, welche in Form eines allsehenden, körperlosen, männlichen Blickes auf die Welt alles von nirgendwo aus zu sehen behauptet. Doch anstatt den Objektivitätsbegriff in Gänze über Bord zu werfen – wie dies in ihrer Lesart der radikale Konstruktivismus tut – verzichtet sie nicht auf den Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität, sondern fordert diese auch für verkörperte, partielle Perspektiven, also für situated knowleges ein. Dabei streben die genauen Analysen der Konstruiertheit von Körpern und Bedeutungen nicht an, diese zu leugnen und komplett zu verflüssigen, sondern die Möglichkeit von Neukonstruktionen zu eröffnen, welche es vermögen, die Welt lebbarer zu machen. Feministische Objektivität verfolge das Ziel, verschiedene partielle Perspektiven nachzuvollziehen, indem sie sich in Relation zu ihnen setzt (hier klingt Kwons „relational sensibility“ an), wobei sie sie weder vergegenständlicht und dadurch auf Distanz setzt, noch sich mit ihnen überidentifiziert und sie dadurch vereinnahmt. Gehe man von einer multidimensionalen Subjektivität aus, könne man sich eine partielle – sich je nach einer der vielen Dimensionen des Subjektes ausrichtende – Objektivität vorstellen. Aus dieser Relationalität folgt, dass man sich beim Sprechen immer positionieren müsse, um die eigene Nähe oder Entfernung zum Gegenstand in Betracht ziehen zu können. Das Sich-Positionieren ist für Haraway ein Vorgang, der eine Spaltung („splitting“), Partialität und Unabschließbarkeit impliziert. Er setzt eine „partielle Verbindung“ („partial connection“) anstelle einer Identität voraus und geht immer mit Markierung, Verkörperung sowie Vermittlung einher, sowie mit der Bereitschaft, einen Austausch mit dem einzugehen, was uns 77Ebd., S. 586.
Mit einer solchen Umschreibung erreicht Haraway, dass das Sich-Positionieren, das alltagssprachlich eine Einschränkung der Verbindungen bedeutet (sich einordnen und dadurch sich vor bestimmten Assoziationen verschließen), zu einer Multiplikation und Verkomplizierung von Konnexen wird. Sich zu situieren, sich in einen Zusammenhang zu stellen ist bei Haraway keine Einschränkung der Kontexte, sondern eine Erweiterung der eigenen Verbindungsfähigkeit. Es ist ein dynamischer Prozess, der immer mit einem Bewusstsein für die Relationen, in den das Subjekt und das Objekt verstrickt sind, vollzogen werden soll. Der Ort, an dem man sich befindet, die Stellung, die man bezieht, sind keine eindimensional fassbaren, konkreten Gegebenheiten, sondern Schnittstellen von verschiedensten Wissensformen, die je nach konkreter Situation des Austausches eingesetzt und erwähnt werden, oder ausgeklammert und unerwähnt bleiben können. Genauso wie bei Kwon der Ort, die site, gleichzeitig dynamisch aber nicht vollkommen nomadisch, konkret aber nicht einfach authentisch ist, ist für Haraway die Position, die man bezieht, zugleich objektiv und partiell, mit einem Wahrheitsanspruch verbunden und relational. Gegensätze, die sich durch das vergleichende Lesen von einem Text über die Kunstgeschichte der zweiten Häfte des 20. Jahrhunderts und Haraways Aufsatz gezeigt werden konnten, und Gegensätze, die in künstlerischen Formulierungen vielleicht deutlicher zutage treten und ausgehalten werden können, als in rein wissenschaftlichen.
- 1Kwon, Miwon: „One Place after Another. Notes on Site Specificity“, in: October, Bd. 80, 1997, S. 85–110.
- 2Ebd., S. 86.
- 3Ebd., S. 91
- 4Ebd., S. 109–110
- 5Ebd., S. 110
- 6Haraway, Donna: „Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies, Bd. 14, Herbst 1988, S. 575–599.
- 7Ebd., S. 586