üben

Ausgabe #10
Mai 2021
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Künstlerische Praxis ist in hohem Maße durch komplexe Übungsformen konfiguriert, durch die implizites und explizites Wissen ausgebildet, tradiert und kanonisiert wird. Das Üben ist ein Schlüssel in der Geschichte und Gegenwart der Akademisierung der Künste und sollte Teil ihrer institutionellen Selbstreflexion sein. 

Im Deutschen geht der Begriff üben auf die indogermanische Form op zurück und steht damit für das Erarbeiten oder Erwerben von etwas. Das Wort bezeichnet eine Tätigkeit, durch die etwas in Bewegung kommt. In seinen frühsten Verwendungen von „den Boden bearbeiten“ oder „eine religiöse Handlung durchführen“ zeigt sich im Wort op/üben die tiefe Verwurzelung des Übens mit der menschlichen Kultur.11Grimm, Jacob und Wilhelm: „üben“, in: dies. Deutsches Wörterbuch, Band 23, München 1984, Spalte 55-72, hier Sp.56. Im heutigen Sprachgebrauch umfasst der Begriff ein weites Feld von Handlungsvollzügen: Wenn wir zum Beispiel Gnade üben, einen Beruf ausüben, oder einen Mord verüben stellen wir performativ Wirklichkeit her. Im Einüben von Vorträgen oder Musikstücken widmen wir uns dagegen der Arbeit an einer Form.
Aber das Üben ist nicht nur Praxis, sondern auch Prozess. Denn interessanterweise steckt in der Etymologie des Wortes die zeitliche Dimension der Wiederholung, ja der Herausbildung von Routinen durch Iteration. Erst im wiederholenden Üben wird aus einer einfachen Handlung etwas, das über sie hinausgeht: die Ausbildung eines Vermögens oder die Optimierung einer Fähigkeit. Das ist (wie wir alle wissen) gar nicht so einfach und so haftet dem Üben von jeher die Dimension der Mühe, des Fleißes, im schlimmsten Fall der Qual an. Der Widerstand, das Scheitern und das Vergessen sind permanente Begleiterscheinungen des Übens.
 
Für unsere Frage nach einem Wissen der Künste ist das Üben von zentraler Bedeutung. Und zwar – wie ich meine – aus mindestens zwei Gründen:
(a) Zum einen, weil künstlerische Praxisprozesse in hohem Maße Ergebnis von komplexen Übungsformen sind. Nicht selten wird im Geübtsein die Differenz zwischen Impuls und Können oder die zwischen Kunst und Nichtkunst verortet. Dabei ist es wichtig, das Üben nicht bloß als mechanische Vorstufe der Kunst zu verstehen, sondern einüben und ausübensind zwei Weisen desselben Vorgangs, so hat das der Philosoph Otto Friedrich Bollnow gekennzeichnet.22Bollnow, Otto Friedrich: Vom Geist des Übens. Eine Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrungen. Freiburg 1978, S. 20-21. Im Üben haben wir es mit einem tendenziell unabgeschlossenen, selbstreflexiven Prozess zu tun. Üben ist eher ein Zustand als eine Intention.
(b) Zum zweiten verknüpft der Begriff des Übens Kunst mit spezifischen Vorstellungen von Subjektivität. Diskurse und Praktiken des Übens verhandeln immer implizit, was ein Subjekt ist oder zu sein vermag. Dieser Konnex findet sich bereits in einer der Gründungsschriften der Kunsttheorie – nämlich Gottfried Alexander Baumgartens „Aesthetica“ von 1750.33Baumgarten, Alexander Gottfried: Aesthetica. Teil 1, hrsg. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, vgl. besonders §47 „Execitatio Aesthetica/Die ästhetische Übung“, S. 39-48. Dort wird in grundlegender Weise mit der Übung bzw. dem übenden Subjekt argumentiert, denn sinnliche Vollzüge (und damit sind hier Produktion und Rezeption von Kunst gemeint) sind eben nicht rational-logisches Schließen, sondern ein durch „Übung, Gewohnheit und häufigen Gebrauch“44Menke, Christoph: „Die Übung des Subjekts“ in: ders. Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, FfM 2008, S. 25-45, hier S. 31. erworbenes Vermögen. Üben ist für Baumgarten zugleich ein „Etwas-ausführen und ein Sich-führen-können“55Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, 2008 (wie Anm. 4), S. 34.. Und nicht umsonst hat Christoph Menke diese Denkfigur als Vorbild moderner Selbsttechniken im Sinne Foucaults gekennzeichnet.66Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, 2008 (wie Anm. 4), S. 34.
 
Wenn wir Üben als Wissensform der Praxis untersuchen wollen, scheint es deshalb sinnvoll, drei Dimensionen in den Blick zu nehmen:
(1) die habituelle Dimension, also das implizite, körperliche und situative Wissen das in Übungen erworben wird. Von welchen physischen oder energetischen Vorstellungen wird ausgegangen? Welchen situativen Bedingungen unterliegt es? Wie werden Routinen ausgebildet? Welches Ziel wird mit dem Ein- oder Ausüben verbunden? Wie wird Übungswissen in kollektiven, partizipativen Vollzügen erworben und kommuniziert?77Vgl. Mahlert, Ulrich (Hg.): Handbuch Üben. Grundlagen, Konzepte, Methoden, Wiesbaden, Leipzig, Paris 2006.
(2) die diskursive Dimension: Welche Theorien des Übens existieren zu welcher Zeit? Wie treten sie in Vorschriften, Anleitungen, Handbüchern oder Lehrplänen auf? Welche Konzepte von Subjektivität, Körperlichkeit oder Kunst werden darin adressiert?Wie unterscheiden sich die Konzepte Übung, Lernen, Training, Drill und „Exercise“88Wie nah sich künstlerische und gouvernementale Praxis im Üben kommen, kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Hingewiesen sei darauf, dass sich Baumgartens Analogie von Kunst und exerzierenden Soldaten bis in die Konzeptionen regelmäßiger „exercises“ im modernen Bühnentanz gehalten haben.
Brandstetter, Gabriele: „Der Körper als Ornament. Zwischen Exerzitium und Exercise. Die Ästhetisierung der Askese“, in: Krüger-Fürhoff, Irmela Marei / Nusser, Tanja (Hg.): Askese. Geschlecht und Geschichte der Selbstdisziplinierung, Bielefeld 2005, S.133-144.
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(3) und schließlich wäre die institutionelle Dimensionkünstlerischen Übens in den Blick zu nehmen. Seit mehreren hundert Jahren werden künstlerische Ausbildungen an kanonisierte Übungsformen gebunden, die als Ausweis der Professionalisierung und der modernen Berufsförmigkeit gelten. Theorien und Praktiken des Übens sind ein genuiner Bestandteil der Geschichte und der Gegenwart der Akademisierung der Künste und (ich denke) sie sollten Teil ihrer institutionellen Selbstreflexion sein.
 
Diese letzte Dimension möchte ich herausgreifen und an einem kurzen Beispiel aus dem Theater skizzieren. Die Darstellenden Künste, und insbesondere das Schauspiel, sind sehr spät – nämlich erst Ende des 19. Jahrhunderts – Gegenstand akademischer Ausbildung geworden. Entscheidenden Anteil daran hatte der russische Theatermacher Konstantin Stanislawski, der im Umbruch vom 19. zum 20. Jahrhundert gemeinsam mit dem Autor Anton Cechov und dem Ensemble des „Moskauer Künstlertheaters“ daran arbeitete, eine moderne Schauspielkunst zu entwickeln, deren Kern ein regelgeleitetes Üben bildete. Schauspielen – so seine These – ist weder reines Handwerk, noch bloße Inspiration. Es ist vielmehr die Anwendung von konkreten Methoden. Erst in der Reflexion auf diese Methoden kann sich eine wissenschaftlich fundierte und den Herausforderungen der Zeit entsprechende Kunstausbildung entwickeln. Und in der Tat gehört Stanislawskis System, der sogenannte psychologische Realismus, noch heute zu den wichtigsten Einflüssen in der zeitgenössischen Schauspielausbildung.99Stegemann, Bernd: Stanislawski Reader. Leipzig 2011, S. 9-18.
 
In drei Bänden hat der Künstler ab 1906 diese Erkenntnisse im Stil eines Entwicklungsromans verschriftlich, in dem er den fiktiven Schauspielstudenten Naswanow durch alle Phasen eines Studiums gehen und dabei frustrierende, beglückende aber auch existentielle Erfahrungen durchleben lässt. In unzähligen Etüden, Spielproben und Diskussionen lernen die Schauspielschüler*innen, was es heißt, auf der Bühne zu stehen. Dass diese Arbeit nicht einfach gleichzusetzen ist mit engagiertem Tun und praktischem Ausprobieren, zeigt das erste Kapitel des ersten Bandes, also der Einstieg in die gesamte Theorie. Es trägt den Titel „Dilettantismus“1010Stanislawski, Konstantin: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers, Teil 1, Berlin 1983, Seite 15-24.– oder man könnte auch sagen: falsches Üben.
 
Naswanow und seine Mitschüler*innen werden aufgefordert eine Szene allein einzustudieren, um diese in voller Ausstattung auf der großen Bühne des Theaters den Lehrenden vorzuspielen. Die Wahl fällt auf Shakespeares Drama Othellound im Laufe von wenigen Tagen absolvieren die Schauspielschüler*innen selbständig alle Stufen der Theaterarbeit: vom Lesen und Einstudieren des Rollentextes über erste improvisierte Spielszenen, die eigentlichen Bühnenproben, das Hinzukommen von Bühnenbild und Kostümen bis hin zur eigentlichen Aufführung.
Ich zitiere eine gekürzte Passage aus der Beschreibung Naswanows in Stanislawskis Text (gelesen von Maximilian Diehle):

„Morgen soll die erste Probe stattfinden. Zu Hause schloss im mich in meinem Zimmer ein, holte den „Othello“ hervor, setzte mich behaglich auf das Sofa, schlug das Buch ehrfürchtig auf und begann eifrig zu lesen.
Schon auf der zweiten Seite drängte es mich zum Spielen. Wider Willen begannen Hände, Füße, Gesicht zu zucken, ich konnte mir das Deklamieren nicht länger verkneifen, und schon kam mir ein großer elfenbeinerner Brieföffner zwischen die Finger, den ich als Dolch am Gürtel befestigte. Ein Frottierhandtuch war der Turban, mit der bunten Kordel vom Vorhang wurde er umwunden, aus Laken und Bettdecke fabrizierte ich ein hemdartiges Obergewand, der Regenschirm wurde zum Schwert. […] Dann wagte ich einen Ausfall. In meiner Ausrüstung fühlte ich mich als stolzer Krieger, majestätisch und schön. Doch im Ganzen war ich eben doch nur ein moderner Mitteleuropäer, aber Othello ist Afrikaner! Er muß etwas von einem Tiger haben. Um die charakteristischen Bewegungen eines Tigers herauszufinden, probierte ich allerlei aus: ich ging schleichenden, gleitenden Schrittes durch das Zimmer […] sprang mit einem Satz aus dem Hinterhalt auf den Gegner los, den mir ein großes Kissen ersetzte; ich erwürgte es, packte es „tigerhaft“ mit den „Klauen“. […] Vieles gelang mir ausgezeichnet.
Ohne es zu merken, hatte ich fast fünf Stunden gearbeitet. Unter Zwang schafft man das nicht. Nur im schöpferischen Rausch werden Stunden zu Minuten. Ein Beweis, dass der durchlebte Zustand echt war.“1111Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst,
1983 (wie Anm. 5) S. 16.

Auf der Suche nach der Figur an sich – ihrem allgemeinen Charakter – fällt der Schüler in eine Stereotypisierung, die an die Stelle einer dramatischen Figur das Abbild rassistischer Zuschreibungen setzt. Ausgangspunkt für sein Üben ist der Impuls zu spielen, der hier (ohne innere Fragen oder Anleitungen) in den Zustand eines Rausches übergeht, an den der Schüler sich später kaum erinnern kann. Er kann auch nicht mehr an ihn anknüpfen, denn der Zustand ist nachher auf der Bühne gar nicht reproduzierbar. Durch Kostüme, Schminke und Dekoration versucht er stützende Elemente in seine Darstellung einzubauen, die als Rettungsanker gegen seine Überforderung mit der Hauptrolle helfen sollen. Als Naswanow am Ende im Zustand äußersten Hingerissenseins die Vorstellung auf der großen Bühne spielt, ist er von seinem eigenen Talent vollkommen überzeugt.
 
Erst in der vernichtenden Kritik durch den Lehrer Torzow alias Stanislawski wird deutlich, dass diese Performance das Gegenteil von Kunst ist. Sie enthält vielmehr alle Elemente, die es im Probenprozess zu vermeiden gilt. Falsches Üben – so die Lektion – besteht in einem Handeln ohne Regeln und ohne Bewusstsein. Hier wird allgemein herumgefuchtelt, anstatt konkret gehandelt. So entsteht eine Effekthascherei, die nach außen verblüffen will ohne selbst zu erleben. Darsteller*innen die solche Hilfsmittel schematisch anwenden, degradieren ihre Figuren zu theatralen Schablonen, denen keine Realität, oder noch schlimmer: nur eine Lüge, entspricht.
Anstelle des falschen Übens – so die Kritik – muss deshalb ein immer wieder ein Erforschen treten. Der Schlüssel künstlerischen Tuns liegt für Stanislawski deshalb im Probieren, ja genaugenommen konstituiert er eine Systematik der Theaterproben, die bis dahin gar nicht existiert hat. Üben im Theater ist immer ein kollektives Probieren. Es ist Entwerfen und Verwerfen,Wiederholen, Scheitern und Reflektieren. Das damit verbundene Wissen bleibt prekär.

    Fußnoten

  • 1Grimm, Jacob und Wilhelm: „üben“, in: dies. Deutsches Wörterbuch, Band 23, München 1984, Spalte 55-72, hier Sp.56.
  • 2Bollnow, Otto Friedrich: Vom Geist des Übens. Eine Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrungen. Freiburg 1978, S. 20-21.
  • 3Baumgarten, Alexander Gottfried: Aesthetica. Teil 1, hrsg. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, vgl. besonders §47 „Execitatio Aesthetica/Die ästhetische Übung“, S. 39-48.
  • 4Menke, Christoph: „Die Übung des Subjekts“ in: ders. Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, FfM 2008, S. 25-45, hier S. 31.
  • 5Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, 2008 (wie Anm. 4), S. 34.
  • 6Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, 2008 (wie Anm. 4), S. 34.
  • 7Vgl. Mahlert, Ulrich (Hg.): Handbuch Üben. Grundlagen, Konzepte, Methoden, Wiesbaden, Leipzig, Paris 2006.
  • 8Wie nah sich künstlerische und gouvernementale Praxis im Üben kommen, kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Hingewiesen sei darauf, dass sich Baumgartens Analogie von Kunst und exerzierenden Soldaten bis in die Konzeptionen regelmäßiger „exercises“ im modernen Bühnentanz gehalten haben.
    Brandstetter, Gabriele: „Der Körper als Ornament. Zwischen Exerzitium und Exercise. Die Ästhetisierung der Askese“, in: Krüger-Fürhoff, Irmela Marei / Nusser, Tanja (Hg.): Askese. Geschlecht und Geschichte der Selbstdisziplinierung, Bielefeld 2005, S.133-144.
  • 9Stegemann, Bernd: Stanislawski Reader. Leipzig 2011, S. 9-18.
  • 10Stanislawski, Konstantin: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers, Teil 1, Berlin 1983, Seite 15-24.
  • 11Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst,
    1983 (wie Anm. 5) S. 16.
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