Der Auftritt der Zeit auf der documenta 14

Ausgabe #6
Juli 2017
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Die Zeiten der documenta sind verschoben: In ihrer 14. Ausgabe dauert die Schau nicht nur 163 oder 2 mal (sich zum Teil überschneidende) 100 Tage, sie wendet sich zudem zugunsten der künstlerischen und kuratorischen Erzählung zum Teil von der Gegenwartskunst ab. Auch in den gezeigten Werken werden zeitliche Verschiebungen hergestellt und das Zeiterleben rückt in den Mittelpunkt der Wahrnehmung. Ein Blick auf das Museum für Sepulkralkultur, wo die Zeit besonders deutlich hervortritt.

Zeitliches Unbehagen

Lange schiebe ich es auf meine Profession, die der Theaterwissenschaftlerin, dass sich mir in den drei Tagen auf der documenta 14 in Kassel vor allem Fragen danach stellen, wie lange ich mir für die einzelnen künstlerischen Beiträge nehme, wann ich wohl in einen Flow der Bewegung durch die Ausstellungsorte komme und wie ich mit den verschiedenen Zeitebenen der kuratorischen und künstlerischen Erzählung umgehe. Ich bin es vom Theater gewohnt, dass meine Zeiterfahrung durch Künstler_innen gestaltet wird, ich zerstückelte Rhythmen und die Kombination von Zeichen unterschiedlichster Zeitaspekte wahrnehme. Mir ist aber auch meine Eigenverantwortung für Rhythmus und Dauer in Ausstellungen der Bildenden Kunst wohl bekannt. Allerdings habe ich ein solches zeitliches Unbehagen nie so anhaltend außerhalb des Theaters erfahren wie auf der documenta 14. Um dieses Emergieren der Zeit genauer zu beschreiben, blicke ich auf den Ausstellungsort der Kasseler documenta 14, der sich in documenta-freien Zeiten einem Extrem der menschlichem Zeit widmet: dem Tod. 11Der Tod und die documenta sind keine auf den ersten Blick selbstverständlichen Partner_innen. Die documenta hat sich in ihrem Bestehen seit 1955 immer der Gegenwartskunst und lebenden Künstler_innen gewidmet. In der 14. Ausgabe wird nun auch die Kunst längst oder länger Verstorbener ausgestellt. Die unmittelbare Nähe der documenta-Beiträge zu den Dauerexponaten des Museums für Sepulkralkultur bringt zum Teil eine Irritation hervor, welche Exponate zur documenta und welche zum Museum für Sepulkralkultur gehören. Dies ist auch dem Aspekt geschuldet, dass für die Kasseler documenta 14 eine enge Verbindung zwischen den mit dem Ausstellungsorten verbundenen Themen und Geschichten und den dort gezeigten Werken besteht. Anders als im Kassel Map Booklet beschrieben, richtete sich mein Blick weniger auf den Körper als auf die Zeit. Vgl. documenta 14: Kassel Map Booklet. Hrsg. von Quinn Latimer und Adam Szymczyk. Kassel 2017. S. 18. Anhand der Ausstellung im Museum für Sepulkralkultur werden im Folgenden weitere Aspekte der Zeit betrachtet und in den Zusammenhang mit meinem zeitlichen (Un-)Behagen gebracht.

Rhythmusänderung

Abb. 1
Liz Eve: Prinz Gholam, Installationsansicht, Museum für Sepulkralkultur, documenta 14, Kassel, 2017.
Digitale Fotografie.
© Liz Eve.

Mein Besuch im Museum für Sepulkralkultur findet am Samstagvormittag statt. Der schnelle Rhythmus der anderen documenta 14-Standorte, wo die Besucher_innen Werk zu Werk zu Werk rennen und der Fotoapparat den Rhythmus vorgibt (vor das Werk stellen, zoomen, abdrücken, weiter), 22Manche der documenta-Besucher_innen tricksen quasi die zeitliche Begrenztheit der Schau aus und halten alle Werke mit ihren Handys oder Fotoapparaten fest. Diese Besucher_innengruppe der Fotografierenden sah ich selten vor einem Werk verweilen oder es gar direkt anblicken. Diese Strategie scheint mir eine Gegen-Strategie zu dem zu sein, was ich als zeitliches Unbehagen erlebte: Statt sich den zeitlichen Aufgaben vor Ort zu widmen, entzieht man sich durch das Festhalten der Werke. ist hier nicht zu spüren. Stattdessen beherrscht eine wohltuende, mich anziehende Langsamkeit den ersten Raum, den ich betrete. Endlich ein zeitliches Behagen! Auf zwei großen, direkt nebeneinander hängenden Screens werden die Videoarbeiten Speaking of Pictures (24/29 April) und Speaking of Pictures (30 April) von Prinz Gholam gezeigt: Zwischen alten Grabstelen nehmen zwei Männer verschiedene Posen ein, verharren darin und nehmen langsam eine erneute Pose ein, die stets eine Beziehung zum Ort (scheinbar einem ehemaligen Friedhof), zueinander oder zum Sterben herstellt. Man muss stehen bleiben, um wahrzunehmen, dass Posen geändert werden. Wie Geister umschweben die beiden Performer die Grabstelen, verschwinden aus dem Bild, kehren wieder und nähern sich dem Vergehen von Zeit durch Langsamkeit an. Um die Videoarbeiten herum hängen Grafiken mit wenigen schwarzen Umrissen einzelner stillgestellter Posen der beiden – aus dem Kontext des Friedhofs enthoben. In ihnen wird die langsam vergehende Zeit des Videos angehalten und die Posen endgültig festgehalten und aus der Zeit herausgehoben.

Der Tod der Bewegung

Abb. 2
Mathias Völzke: Collective Exhibition for a Single Body, Installationsansicht, Museum für Sepulkralkultur, documenta 14, Kassel, 2017.
Digitale Fotografie.
© Mathias Völzke.

Fast freischwebend hängt mitten im 1992 entstandenen Neu- und Anbau des Museums für Sepulkralkultur zwischen den Ebenen eine Plattform, auf der die Installation Collective Exhibition for a Single Body 33Für die Installation Collective Exhibition for a Single Body werden „Partituren von Pierre Bal-Blanc, Marie Cool Fabio Balducci, Yael Davids, Maria Eichhorn, Anna Halprin, Maria Hassabi, David Lamelas, Prinz Gholam, Ashley Hans Scheirl, Kostas Tsioukas, Annie Vigier & Franck Apertet (les gens d’Uterpan), Lois Weinberger und Artur Żmijewski (2017)“ auf und um die zwei Tische arrangiert. Wer dieses Arrangement angelegt hat, wird aus keiner der Veröffentlichungen der documenta 14 ersichtlich. http://www.documenta14.de/de/artists/22807/collective-exhibition-for-a-single-body (letzter Zugriff am 25. Juli 2017). zu sehen ist. Sie besteht aus zwei Tischen und darauf und darunter arrangierten Schriftstücken und Screens (alte Röhrenfernseher, iPads etc.), die entweder Performance Art-Aufnahmen wiedergeben oder Scores/Handlungsanweisungen für Performance Art sind. Neben dem kleineren  Tisch liegen Plakate der bereits in der Vergangenheit stattgefundenen gleichnamigen Veranstaltungsreihe auf dem Boden. Stellen die auf den Tischen dargebotenen künstlerischen Werke Dokumente der eigentlichen Performances dar? Sind die durch die Scores vorgegebenen Abläufe bereits für immer verschwunden oder sollen sie in einer nicht bestimmten Zukunft ausgeführt werden? Sollen die Scores in der Gegenwart im Kopf der Besucher_innen entstehen oder von ihnen auf der freien Fläche zwischen Tisch und Plakaten vollzogen werden? Welchen Rhythmus, welche Dauer, welche Pausen beinhalten die Scores? Mitten im Museum für Sepulkralkultur werden Fragen nach Vergangenheit, Zukünftigkeit und Gegenwärtigkeit von Handlungen in den Raum gestellt.

Aus der Zeit in die Zeit

Abb. 3
Liz Eve: Thomas Dick, John Heath, Installation mit zwanzig Schwarz-Weiß-Fotografien (1910) und Archivmaterialien aus der Sammlung Thomas Dick, Australian Museum, Sydney; Identifizierung von Personen auf den Fotos von Thomas Dick durch John Heath; Birrpai—Beyond the Lens of Thomas Dick (1974, Doktorarbeit) von John Heath; und Marcel Mauss, Techniques, Technology and Civilisation (Durkheim Press/Berghahn Books, 2006), Sammlung Thomas Dick, Australian Museum, Sydney, Museum für Sepulkralkultur, documenta 14, Kassel, 2017.
Digitale Fotografie.
© Liz Eve.

Die titellose, in einer unscheinbaren Ecke eingerichtete Installation für die documenta 14 von John Heath vereinigt Schwarzweißfotografien von Aborigines des verstorbenen weißen Hobbyfotografen Thomas Dick aus den 1910er Jahren an einer Wand mit einem Schaukasten, in dem Marcel Mauss’ Buch Techniques, Technology and Civilisation, Erläuterungen zu den Abgebildeten und weitere Dokumente angeordnet sind. Würde die Installation nicht durch ihre Beschriftung als Teil der documenta 14 ausgewiesen, könnte man sie leicht mit Exponaten des Museums für Sepulkralkultur verwechseln. Heaths Arbeit besteht nicht nur in der Installation, sondern vor allem – und das ist der Clou der Arbeit – in der langwierigen Recherche der Namen der mittlerweile verstorbenen Dargestellten, die von Dick inszeniert – in von ihm gewählten Kleidungsstücken (Lendenschurz), Werkzeugen und Booten – als „primitiv“ lebendes Volk bei verschiedenen „primitiven“ Tätigkeiten wie dem Jagen gezeigt werden. Heath gibt ihnen nun ihre Identität zurück, die ihnen Dick nahm, als er sie zu Beispielen einer primitiven Lebensweise machte. Heath holt dabei die Fotografien aus dem temporalen Regime des Primitiven. Das Bezeichnen von kolonisierten Menschen als Primitive enthebt sie, so beschreibt es Walter D. Mignolo in seinem Buch Epistemischer Ungehorsam, aus der modernen Zeit in ein ,vormodernes‘ Stadium. 44Vgl. Mignolo, Walter D.: Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien 2012, S. 122. Sowohl die kuratorische Erzählung als auch andere künstlerische Beiträge der documenta 14 problematisieren das Herausheben von als „primitiv“ gesetzten Menschen/Künstler_innen und versuchen diese Setzung mit verschiedenen Taktiken (z.B. durch das Ausstellen von ehemals ausgeschlossenen künstlerischen Positionen) aufzuheben und die Gleichzeitigkeit zu betonen. Allerdings bringt Heath die zeitliche Kritik besonders deutlich auf den Punkt, indem er mit den verschiedenen Teilen der Installation auf verschiedene Diskurse und Perspektiven verweist, und eröffnet damit auf kleinstem Raum und sehr leise die wichtige Frage der Zeitgenossenschaft in und vor der postkolonialen Gegenwart. Aber nicht nur die Verortung in einer Zeit steht hier zur Debatte, sondern auch wie ich als Besucherin damit umgehe: Wie lang nehme ich mir als Besucherin Zeit für das Projekt und die Fotografien, nachdem Heath jahrelang recherchierte? Hierbei wird deutlich: mein zeitliches Unbehagen ist ein ethisches Unbehagen. Als Besucher_in Zeit zu geben, bezeugt Respekt und erkennt die Werke wie auch die Zeitgenossenschaften an. Die von den Besucher_innen den Kunstwerken gewidmete Zeit wird auf der documenta 14 zur Geste für die Künstler_innen und ihre zahlreichen politischen Themen und Anliegen. Mein Unbehagen ist produktiv.

    Fußnoten

  • 1Der Tod und die documenta sind keine auf den ersten Blick selbstverständlichen Partner_innen. Die documenta hat sich in ihrem Bestehen seit 1955 immer der Gegenwartskunst und lebenden Künstler_innen gewidmet. In der 14. Ausgabe wird nun auch die Kunst längst oder länger Verstorbener ausgestellt. Die unmittelbare Nähe der documenta-Beiträge zu den Dauerexponaten des Museums für Sepulkralkultur bringt zum Teil eine Irritation hervor, welche Exponate zur documenta und welche zum Museum für Sepulkralkultur gehören. Dies ist auch dem Aspekt geschuldet, dass für die Kasseler documenta 14 eine enge Verbindung zwischen den mit dem Ausstellungsorten verbundenen Themen und Geschichten und den dort gezeigten Werken besteht. Anders als im Kassel Map Booklet beschrieben, richtete sich mein Blick weniger auf den Körper als auf die Zeit. Vgl. documenta 14: Kassel Map Booklet. Hrsg. von Quinn Latimer und Adam Szymczyk. Kassel 2017. S. 18.
  • 2Manche der documenta-Besucher_innen tricksen quasi die zeitliche Begrenztheit der Schau aus und halten alle Werke mit ihren Handys oder Fotoapparaten fest. Diese Besucher_innengruppe der Fotografierenden sah ich selten vor einem Werk verweilen oder es gar direkt anblicken. Diese Strategie scheint mir eine Gegen-Strategie zu dem zu sein, was ich als zeitliches Unbehagen erlebte: Statt sich den zeitlichen Aufgaben vor Ort zu widmen, entzieht man sich durch das Festhalten der Werke.
  • 3Für die Installation Collective Exhibition for a Single Body werden „Partituren von Pierre Bal-Blanc, Marie Cool Fabio Balducci, Yael Davids, Maria Eichhorn, Anna Halprin, Maria Hassabi, David Lamelas, Prinz Gholam, Ashley Hans Scheirl, Kostas Tsioukas, Annie Vigier & Franck Apertet (les gens d’Uterpan), Lois Weinberger und Artur Żmijewski (2017)“ auf und um die zwei Tische arrangiert. Wer dieses Arrangement angelegt hat, wird aus keiner der Veröffentlichungen der documenta 14 ersichtlich. http://www.documenta14.de/de/artists/22807/collective-exhibition-for-a-single-body (letzter Zugriff am 25. Juli 2017).
  • 4Vgl. Mignolo, Walter D.: Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien 2012, S. 122.
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