Für einen Blick hinter die Geste. Einige Gedanken zum Kuratorischen auf der documenta 14

Ausgabe #6
Juli 2017
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Die documenta 14 brachte selbstbewusste kuratorische Setzungen vor, die zum Teil scharf kritisiert wurden. Lässt sich eine Kritik an der großen kuratorischen Geste auf die gesamte Schau und die Erfahrung der Werke im Ausstellungsraum übertragen? In Hinblick auf die Präsentation von Arbeiten in der Neuen Galerie, der Neuen Hauptpost und dem Museum für Sepulkralkultur in Kassel schlägt der Artikel vor, die vieldiskutierte Frage der Symbolpolitik zugunsten einer Untersuchung des Partikularen zurückzustellen und die Konstellationen von Werk und Betrachter_in im Ausstellungsraum auf Inhaltsebene ernst zu nehmen.

„Wir wollen jetzt nicht über die documenta sprechen, aber…“ – Auf einer Abendveranstaltung zum Kuratorischen Forschen in der neuen Gesellschaft für bildende Kunst Berlin (nGbK) im Juni hörte man mehrfach diesen Satz fallen. Und vielleicht wenig überraschend: Denn die documenta verspricht alle fünf Jahre nicht nur, anstehende Paradigmenwechsel aktueller Kunst vorherzusehen (und, wie man argumentieren könnte, mit herbeizuführen), sondern bringt dabei auch wechselnde kuratorische Positionierungen hervor, die ihrerseits nicht selten als paradigmatisch gelesen werden können. Strukturell erhält sich in der documenta so ein emphatisches Verständnis des Kuratorischen, für das bis heute der ‚(Star-)Kurator-als-Künstler‘ Harald Szeemann (documenta 5, 1972) die historische Folie darstellt.

‚Adam Szymczyks documenta 14‘ nun setzte augenscheinlich vieles daran, sich von diesem (in solchen Possessivkonstruktionen stets erneut aufgerufenen) Schöpfungsverhältnis zu distanzieren. Nicht nur auf künstlerischer, sondern auch auf kuratorischer Seite wurden die Stimmen gezielt pluralisiert – die Ausstellung wurde von einem Team von 18 Kurator_innen und kuratorischen Berater_innen realisiert – und diese Pluralisierung inszeniert, wie auf der gemeinsamen Bühnenperformance auf der Pressekonferenz zur Eröffnung in Athen. 11Für die gesamte Dauer der Eröffnungs-Pressekonferenz in Athen waren die Kurator_innen und die 150 documenta-Künstler_innen auf der Bühne der Konzerthalle Megaron anwesend; die Pressekonferenz begann mit der gemeinsamen Performance des Stücks Epicycle (1968) des griechischen experimentellen Komponisten Jani Christou. Natürlich widersprechen Pluralismus und kollektives Arbeiten nicht grundsätzlich den Hierarchien des Ausstellungsbetriebs; Pathos und symbolische Affirmation der eigenen Bedeutung – die hier ebenso mitschwingen wie in der Verdopplungsgeste Kassel-Athen, die die documenta zum Exportmodell macht – wurden breit kritisiert. 22So entspann sich u.a. am Beispiel der documenta aktuell eine polemische Debatte um die Rolle der Kurator_innen. Vgl. Stefan Heidenreich: „Schafft die Kuratoren ab!“, in: Die Zeit, URL: http://www.zeit.de/2017/26/ausstellungen-kuratoren-kuenstler-macht; Hans-Jürgen Hafner: „Zuerst die Musik, dann die Freunde“, in: Institut für Betrachtung, URL: http://www.institutfuerbetrachtung.de/index.php/artikel/zuerst-die-musik-dann-die-freunde-zu-stefan-heidenreich-schafft-die-kuratoren-ab-die-zeit-21-06-2017.html. Zur documenta als Exportmodell vgl. Ingo Arendt: „Sorgenfalten des Kapitalismus“, in: taz.de, URL: http://www.taz.de/!5416877/  (letzter Zugriff jeweils 04.07.2017). Meines Erachtens liegt in den starken kuratorischen Setzungen der Ausstellung durchaus ihre Stärke, jedoch vornehmlich dort, wo diese leisere Töne anschlagen: im besonnenen, oft historischen Blick aufs Kleinteilige sowie präzisen Kontextualisierungen im Einzelnen.

Abb. 1
Ahlam Shibli: Heimat, Nordhessen, Deutschland, 2016–17,
Serie von 53 Fotografien, Installationsansicht, Neue Neue Galerie (Neue Hauptpost), Kassel, documenta 14
© Foto: Michael Nast

So wurde für mich in dieser documenta zum Beispiel deutlich, wie sehr die Schau (trotz Athen-Export) an ihren Kasseler Kontext gebunden ist, an ein großes, auch regionales Publikum (annähernd eine Million Besucher_innen!) mit hoher Identifikation mit der Ausstellung weit über übliche kunstaffine Kreise hinaus. Dieses wird in der documenta 14 ganz gezielt lokal angesprochen und mobilisiert: Etwa in Ausstellungsorten wie dem Stadtmuseum und dem Hessischen Landesmuseum, oder in den Arbeiten, die sich in der Neuen Hauptpost (für die Ausstellung umbenannt in „Neue Neue Galerie“) mit der unmittelbaren Umgebung der Kasseler Nordstadt beschäftigen: Ahlam Shiblis Fotoserie Heimat (2016-17) etwa, die die Geschichten von Gastarbeiter_innen in Kassel dokumentiert und mit denen der dort nach 1945 angesiedelten deutschen Heimatvertriebenen in Verbindung bringt. Oder die Präsentation der Gesellschaft der Freund_innen von Halit in Zusammenarbeit mit Forensic Architecture, die die Ermittlungsversäumnisse um den NSU-Mord an dem Kasseler Bürger Halit Yozgat akribisch in einer großformatigen Videoinstallation und ergänzenden, auf Tablets und Wandmonitoren gezeigten Dokumentationen und Interviewfilmen aufschlüsselt. Man kann sich hier sicherlich die Frage stellen, was solche Arbeiten vom Kunstkontext haben. Und gelangt schnell zu einer einfachen Antwort: In der Breite gehört zu werden. Denn die Perspektive und Reichweite der Ausstellung ist dezidiert nicht das Kunstfeld. Gerade in Hinblick auf vergangene Großausstellungen wie die Berlin Biennale 2016, die den Wirkkreis von Kunst vehement in einer über Markt, Mode und digitale Affektökonomie informierten Kunstszene verortet hat, wirkt das beizeiten naiv; doch gelingt es gerade durch diese Perspektive (in der sich vielleicht das vielzitierte „Unlearning“ zeigt), einen Raum für sogenannte ‚politische Kunst‘ zu eröffnen, der außerhalb dieses Labels steht. 33Zum Begriff der ‚politischen Kunst‘ vgl. Texte zur Kunst, Nr. 80, Dezember 2010.

Das gilt vor allem dann, wenn sich die Ausstellung auf das In-Konstellation-Bringen von Werk, Publikum und Institution verlässt, wenn sie also mit und durch Kunst denkt: Etwa in der Neuen Neuen Galerie, die im oberen Stock mit einer Arbeit Maria Eichhorns beginnt, die in der Gründung des Rose Valland Instituts besteht, das die Enteignung der jüdischen Bevölkerung Europas und u.a. den Verbleib von NS-Raubgut in deutschen und internationalen Kunstsammlungen recherchiert. Anschließend wird die Sammlung Gurlitt, die hier ursprünglich gezeigt werden sollte, über die Kontextualisierung ihrer Familiengeschichte mit aufgerufen, über Grafiken der bisher weitgehend unbekannten expressionistischen Malerin Cornelia Gurlitt etwa, die kurz nach Rückkehr aus dem Sanitätsdienst an der Ostfront im Ersten Weltkrieg Selbstmord beging. Zwischen dem bis heute nachwirkenden beharrlichen Schweigen über die Provenienz vieler Werke in deutschen Sammlungen und den Verflechtungen familiärer Traumata und Gesinnungskonflikte stellt die Ausstellung Beziehungen her, ohne sie festzuschreiben. Beziehungen, die mögliche Lesarten anbieten und Kontexte offenlegen, durch die die Rezeption der Arbeiten eher verkompliziert als reduziert wird.

Und so würde ich vorschlagen, in den kuratorischen Ansätzen der documenta zu unterscheiden zwischen den großen symbolischen Setzungen und Rahmungen (dem Gang nach Athen, dem Zeigen der Sammlung des griechischen Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst [EMST] im Fridericianum 44Vgl. hierzu den Beitrag von Maximilian Haas in dieser Ausgabe.), und den einzelnen spezifischen Argumentationen auf ‚Mikro-Ebene‘. Die aufgeregte Kritik an der documenta entspannte sich bisher v.a. an ersteren. 55Eine Ausnahme ist Kia Vahlands Text in der Süddeutschen Zeitung, die ihre Kritik genau an den räumlichen Konstellationen festmacht, sie dann jedoch ebenfalls an den wahrgenommenen Gestus einer kuratorischen Bevormundung knüpft. Kia Vahland, „Wie die documenta das Publikum bevormundet“, in: sueddeutsche.de, URL: http://www.sueddeutsche.de/kultur/documenta-in-kassel-wie-die-documenta-das-publikum-bevormundet-1.3581139 (letzter Zugriff 14.04.2017) So blieben zum einen die leiseren Töne, die strukturellen Vorschläge und Analysen ungehört. Im Verständnis der Ausstellung als Geste oder Zeichen(setzung) 66Vgl. Tess Edmonsons Frage „Is Greece a metaphor?“. Tess Edmonson: „Learning from Athens. documenta 14, Kassel“, in: Flash Art Online, URL: http://www.flashartonline.com/2017/06/learning-from-athens-documenta-14-kassel/ (letzter Zugriff 04.07.2017). Zum aktuellen Verhältnis von politischen Zeichen, Geste und direkter Aktion siehe ausführlicher Jaleh Mansoor: „Entschleierung und/oder Re-Maskierung. Anmerkungen zur politischen Dialektik der Opazität des Zeichens“, in: Texte zur Kunst, Nr. 106, Juni 2017, S. 71-81. wurde diese zudem wieder schnell mit dem Kurator als Einzelfigur identifiziert: Eine hochkomplexe Ausstellung ist dann einfach „Adam Szymczyks Revolte“. 77So ein Titel auf Monopol Online. URL: http://www.monopol-magazin.de/adam-szymczyks-revolte (letzter Zugriff 04.07.2017).

Abb. 2
Collective Exhibition for a Single Body
Installationsansicht, Museum für Sepulkralkultur, Kassel, documenta 14
© Foto: Mathias Völzke

Dass die documenta dann am stärksten ist, wenn man hinter die großen Gesten blickt, zeigte sich für mich auch an den Arbeiten von Artur Żmijewski – ausgerechnet dem Großmeister der zynischen Provokation, der als Kurator der Berlin Biennale 2012 die unteren Räume der Kunst-Werke der Occupy-Bewegung zur Verfügung stellte und Kunst wie Protest als Zeichen im Leerlauf inszenierte. In Kassel werden anderen Aspekten seiner Arbeiten Raum gegeben: Hier werden sie mehrfach so präsentiert, dass die ihnen oft innewohnende Tendenz zum Zynismus und Voyeurismus in den Hintergrund rückt. Im Museum für Sepulkralkultur, einem luftigen Bau mit Blick über die Karlsaue, zeigt, auf einem offenen Zwischengeschoss inmitten der Dauerausstellung zum kulturellen Umgang mit dem Tod, ein kleiner, am Boden platzierter Röhrenfernseher das Video Collection (Tadeusz) von 2016. Das schwarz-weiße Kamerabild folgt einem Mann mittleren Alters mit sensomotorischer Störung bei alltäglichen Bewegungen und Handlungen (Treppensteigen, Aufspannen eines Regenschirms usw.). Als Teil der Installation Collective Exhibition for a Single Body, die Partituren für Performances verschiedener Künstler_innen zeigt, wird der tonlose Film kommentiert von einer Soundarbeit von Prinz Gholam (The River, 2009–2017). In Aufforderungen, bestimmte Bewegungsabläufe auszuführen – einen Arm zu heben, einen Schritt nach vorne zu machen – spricht die Installation nicht nur die Betrachter_in gezielt an; vielmehr werden Betrachter_innenkörper und betrachteter Körper des Videos in ein unmittelbares Verhältnis gesetzt. Währenddessen fordert die bedachte Sprache einen ernsthaften Blick ein, das Hinschauen und Ernstnehmen sowohl der dargestellten Körper und Subjekte außerhalb der ‚Norm‘, als auch der medialen Sehgewohnheiten und -bedingungen in der Konstellation von Subjekt, Werk, Ausstellungsraum.

In solchen kuratorischen Gegenüberstellungen steckt eine Forderung, die die Frage nach den Wirkkreisen zeitgenössischer Kunst, nach der Übermacht des Marktes, nach der Eventlogik der Großausstellung eine Zeitlang in den Hintergrund treten lässt, um eine andere, mögliche Kunstwelt zu denken.

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