Indem man immer wieder auf dasselbe zurückkommt, stößt man immer auf anderes.

Ausgabe #6
Juli 2017
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Die folgende Ausstellungslektüre hebt auf die Verwicklungen ab, die die documenta 14 zwischen Objekten, Biografien und Besucher_innen stiftet. Sie verfolgt dabei die Überlegung, dass es sich um eine Ausstellung der kleinen Formen handelt, in denen sich die Gebundenheit ästhetischer Praktiken an Körper und Orte artikuliert.

Als einen der hervorstechendsten Züge dieser documenta habe ich die Wiederholungen und Wiederaufgriffe empfunden, nicht nur über die beiden Städte Athen und Kassel hinweg, sondern auch an den verschiedenen Ausstellungsorten. Edi Hila bin ich z.B. immer wieder begegnet. In Athen waren Gemälde und Zeichnungen aus den 1970er und 1980er Jahren zu sehen,11Im EMST (National Museum of Contemporary Art) und im Athens Conservatoire (Odeion) Athen. die in Albanien entstanden, teilweise unter Arbeitsverbot. Bacchantisches und Melancholisches mischen sich unter eine vordergründig sozialistische Ästhetik, bis diese zusammenbricht. In Kassel, wo ich ein paar Wochen später war, sind Hilas aktuelle Arbeiten ausgestellt, die sich mit Architektur beschäftigen, genauer, mit ebenso ins Phantastische wie Phantasmatische ragenden Entwürfen moderner Planung. Zu sehen sind diese verblichen wirkenden Gemälde u.a. in der von Ibrahim Mahama mit Jutesäcken vollständig verhängten Torwache, die ein Relikt früherer Stadtplanungen ist. In einem der Torhäuschen sollen mal die Brüder Grimm gewohnt haben. Mit den Jutesäcken, die aus Ghana oder eigentlich aus China stammen und für den globalen Handelsverkehr verwendet wurden, bekommt das restaurierte Denkmal etwas Abgenutztes übergestülpt, das Hessische wird mit einem Stoff (im Sinn von Material und Geschichte) – von woanders her überzogen und so in einem viel grundsätzlicheren Sinne provinzialisiert als es die Rede von der deutschen Provinz meint: In Frage steht der Universalismus der europäischen Perspektive, eine, die in dieser documenta 14 nicht nur als einheitliche zerfällt, sondern sich als eine unter anderen wiederfindet.

Ibrahim Mahama: Check Point Sekondi Loko. 1901–2030, 2016–2017, Torwache Kassel
Foto: Kathrin Peters

Mir hat sich die Arbeit der documenta 14, die diesen Anspruch der partikularen Perspektiven verpflichtet ist, ganz konkret als eine der Vernähung und Verwicklung dargestellt, über Orte und Zeiten hinweg. Als „Arbeit“ auch insofern, als die Ausstellungen entanglements nicht nur präsentieren und durch die kuratorische Verstreuung erzeugen, sondern mich selbst verwickeln und auffordern, den Fäden nachzugehen, die auch in mein Leben hineinreichen.

In Athen habe ich Vivian’s Garden (2017) von Rosalind Nashashibi angeschaut. Zunächst, weil ich Nashashibis Video über Frauen in Tahiti an einem anderen Ausstellungsort in der Stadt eine Entdeckung fand. 22Vivian’s Garden wurde gezeigt in der Athen’s School of Fine Arts und im Ottoneum Kassel; Why Are You Angry? war im EMST zu sehen. Why Are You Angry? (mit Lucy Skaer, 2017) stellt Frauen in Gauguin’sche Kompositionen auf, was ich allerdings erst nach einer Weile verstanden hatte, in der ich mir über diesen (post-)kolonialen Ort und die dann doch nicht ganz alltägliche Gruppierung der Frauen Gedanken gemacht hatte. Auch in Vivian’s Garden geht es um Frauen. Vivian Suter, Malerin, bearbeitet große Leinwände im Garten ihres Hauses in Guatemala. Die andere Frau, Elisabeth Wild, sitzt drinnen an einem Tisch und schneidet Bildteile aus Magazinen aus, die ihr von einem Angestellten stapelweise gebracht werden.

Vivian Suter, Einladungskarte Intrépida, Kunsthalle Basel, 2014
Foto: Kathrin Peters

Wiederum verzögert wurde mir klar, dass ich Vivian Suters Arbeiten schon einmal gesehen hatte, vor ein paar Jahren in der Kunsthalle Basel, wo Adam Szymczyk, damals Direktor dort, eine Einzelausstellung Suters kuratiert hatte. In einem Anflug von Begeisterung oder Übermut, falls das beides nicht ohnehin ineinander übergeht, hatte ich mit dem Gedanken gespielt, mir ein Bild von Suter zu kaufen, den ich bald verwarf und mir stattdessen die Einladungskarte, auf der ein grünes Bild im grünen tropischen Garten zu sehen ist, in die Küche hängte. Als ich diesen Zusammenhang zwischen dem Film in der Kunstakademie Athen und dem Bild in meiner Küche begriff, bin ich noch mal zurückgegangen, um den Film, den ich zuvor documenta-ökonomisch nur halb gesehen hatte, ganz zu schauen. Es ist ein schöner Portraitfilm, der die beiden Frauen in ihrem Arbeitsalltag zeigt; eine von ödipalen Konflikten unbehelligte Mutter-Tochter-Gemeinschaft, in der man sich kümmert und füreinander Sorge trägt. In einer traumartigen Sequenz, wenn ein Palmblatt auf eine offene Stelle im Dach gelegt wird, erzählt Vivian’s Garden von Unbehaustheit und vom Zu-Hause-Sein.

Vivian Suter: Niysyors (Vivian’s bed), 2016–2017, Glas-Pavillon Kassel
Foto: Kathrin Peters

Ich bin den beiden Künstlerinnen dann in Kassel wieder begegnet. Suters Leinwände hängen dort dicht von der Decke eines Glas-Pavillons aus den 1950er Jahren, ein wenig wie Schlingpflanzen. Davor verläuft eine Hauptverkehrsstraße, an der sich das Hansa-Haus mit sechs Glas-Pavillons, die ehemals Läden waren, erstreckt – ein Gebäudekomplex als Zeugnis der Stadtplanung Kassels nach dem zweiten Weltkrieg, als man für eine Zukunft ohne Vergangenheit baute, die doch anders kam, die Zukunft wie die Vergangenheit. In einem anderen der Pavillons hat Mounira Al Solh eine Bäckerei ihres Vaters in Beirut nachgebaut, die so lange es ging, ihren Betrieb während des libanesischen Bürgerkrieges aufrecht erhielt (Nassib’s Bakery, 2017). Elisabeth Wilds kleinformatigen, abstrakten und bunten Collagen sind in der Neuen Galerie ausgestellt.

Auch die Neue Galerie mit ihren kleinen Räumen ist dicht gehängt. Es ergeben sich Narrative von einer Arbeit zur nächsten, Pfade, die man selbst legt, die sich verlieren und in andere übergehen – abgebrochene Biografien, versteckte und erbeutete Kunst, Gedenken und Restitution sind das übergeordnete Thema, das Menschen wie Kunstobjekte betrifft und oft in nur wenigen Arbeiten erzählt wird, die sich zu Sätzen und Sinnabschnitten zusammenfügen. Wilds Collagen verbinden sich hier mit der Arbeit Geta Brătescus zu einer Aufmerksamkeit für Kunst von Frauen; ‚kleiner‘ Kunst, könnte man sagen, nicht nur von der Größe her, sondern vor allem, weil sie eine ‚große‘ Kunst im Sinne von abgeschlossenen, repräsentativen Werken der Umstände halber nicht realisieren konnten oder überhaupt nicht im Sinn haben. Es sind Arbeiten, die mit Zeitungsseiten, Schere und Kleber an Esstischen hergestellt werden können, oder die, wie bei Brătescu, in ihrem Atelier in Bukarest mit Filzstiften auf Papier im Minutentakt entstehen. 33Im EMST war ein schönes Video zu sehen, Linia (2014), das ein Blatt Papier und Brătescus alten Hände beim Zeichnen in Aufsicht zeigt. In der Neuen Galerie Kassel sind u.a. ihre Arbeiten aus den 1970er Jahren zu sehen. In diesem Sinne könnten selbst Suters Leinwände, die nicht nur im Garten, sondern unter Beteiligung des Gartens entstehen, ‚klein‘ genannt werden, weil sie keiner repräsentationalen Ordnung verschrieben sind und einen Bezug zum Realen und zum Moment haben. 44Hiermit beziehe ich mich auf Roland Barthes’ Überlegungen zur „kleinen Form“, in: ders.: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesungen am College de France 1978–1979 und 1979–1980, Frankfurt/M. 2008, insbesondere S. 126–167. Suter, die in den 1970er Jahren u.a. mit Miriam Cahn eine feministische Künstlerinnengruppe in Basel bildete, ging später mit ihrer Mutter zurück nach Südamerika.55Suter ist in Argentinien geboren, kam in den 1960er Jahren mit ihren Eltern nach Basel und zog in den 1990ern nach Guatemala. Wilds Arbeiten verbinden sich in der Neuen Galerie auch mit den Zeichnungen Cornelia Gurlitts aus den 1910er Jahren, der Schwester des nationalsozialistischen Kunstbürokraten. An deren Arbeit und frühen Suizid erinnert Yael Davids’ Installation aus Glas und Holz ein paar Räume weiter (A Reading That Loves – A Physical Act, 2017); von Davids war auch in Athen eine Installation mit Panzerglas zusehen, das in einer Fabrik in einem Kibbuz hergestellt wird, in dem Davids aufgewachsen ist. 66Die Installationen im EMST und in der Neuen Galerie wurden auch zu Orten für Performances. Neben Cornelia Gurlitt bezieht sich Davids auf Else Lasker-Schüler, Iulia Aquilia Severa und Rahel Varnhagen. Diese Verknüpfungen, Aufgriffe und Weiterverarbeitungen können sehr greifbar machen, was ‚verkörpertes Wissen‘ heißt, 77Hier wie zuvor schon spiele ich an auf Donna Haraway: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur, Frankfurt/M. 1995, S. 73–97. oftmals auch Nichtwissen oder Nichtweiterwissen, und wie sehr das mit einer ‚weiblichen‘ Ästhetik verbunden sein kann, ohne in irgendeiner Weise essentialistisch zu werden.

Daybook, Doppelseite Elisabeth Wild (7. August)
Foto: Kathrin Peters

So könnte es weitergehen. Ich blättere das Begleitbuch, das Daybook, und die verschieden gestalteten Hefte hin und her, die der Orientierung und Verstreuung zugleich dienen. In den Innenklappen des Begleitbuchs ist ein Datum zu ermitteln, an dem etwas über die jeweilige Künstlerin steht und da, wo man eine Kurzbiografie erwarten würde, erscheint ein Eintrag zu einem weiteren, von den Künstler_innen genannten Datum. Biografien können nicht anders, als Herkünfte und Ausbildungsgänge wie in einem ewigen Bewerbungsschreiben festzulegen und das, was immer ein wenig erfunden ist, mit Realitätseffekten zu versehen. Im Daybook wird stattdessen eine ganz subjektive Zeitlichkeit entworfen, die dem Nicht-Chronologischen von Erinnerung Rechnung trägt. Elisabeth Wild hat den Eintrag „Januar 1938“ beigegeben, als sie, österreichische Jüdin, mit dem Schiff in Buenos Aires ankam: „Ich werde nie den ersten Schritt vergessen, den ich auf dieses großartige Land setzte. Das war im Januar 1938. Ich war 15 Jahre alt.“ 88documenta 14: Daybook, hrsg. v. Quinn Latimer, Adam Szymczyk, o.S. (7. August). Die Gestaltung des Daybooks wurde von Julia Born & Laurenz Brunner besorgt. Die Gestaltung des Athens Map Booklet stammt von VIER5, Paris, die des Kassel Map Booklet von Mervis & van Deursen. Alle sind in Optik und Materialität eher low.

    Fußnoten

  • 1Im EMST (National Museum of Contemporary Art) und im Athens Conservatoire (Odeion) Athen.
  • 2Vivian’s Garden wurde gezeigt in der Athen’s School of Fine Arts und im Ottoneum Kassel; Why Are You Angry? war im EMST zu sehen.
  • 3Im EMST war ein schönes Video zu sehen, Linia (2014), das ein Blatt Papier und Brătescus alten Hände beim Zeichnen in Aufsicht zeigt. In der Neuen Galerie Kassel sind u.a. ihre Arbeiten aus den 1970er Jahren zu sehen.
  • 4Hiermit beziehe ich mich auf Roland Barthes’ Überlegungen zur „kleinen Form“, in: ders.: Die Vorbereitung des Romans. Vorlesungen am College de France 1978–1979 und 1979–1980, Frankfurt/M. 2008, insbesondere S. 126–167.
  • 5Suter ist in Argentinien geboren, kam in den 1960er Jahren mit ihren Eltern nach Basel und zog in den 1990ern nach Guatemala.
  • 6Die Installationen im EMST und in der Neuen Galerie wurden auch zu Orten für Performances. Neben Cornelia Gurlitt bezieht sich Davids auf Else Lasker-Schüler, Iulia Aquilia Severa und Rahel Varnhagen.
  • 7Hier wie zuvor schon spiele ich an auf Donna Haraway: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: dies.: Die Neuerfindung der Natur, Frankfurt/M. 1995, S. 73–97.
  • 8documenta 14: Daybook, hrsg. v. Quinn Latimer, Adam Szymczyk, o.S. (7. August). Die Gestaltung des Daybooks wurde von Julia Born & Laurenz Brunner besorgt. Die Gestaltung des Athens Map Booklet stammt von VIER5, Paris, die des Kassel Map Booklet von Mervis & van Deursen. Alle sind in Optik und Materialität eher low.
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