Wer eine Reise zur documenta 14 in Kassel dezentral beginnt, namentlich an dem von Leo von Klenze entworfenen Wilhelmshöher Ballhaus, findet in dessen Inneren gleich eine besondere Rezeptionssituation: Saalmittig darf man zwischen grauen, zu einer Sitzinsel gruppierten Kissen einsinken. Von dort fällt der Blick auf eine kleine Kinoleinwand. Das zwar postbarocke, aber rankenreiche Dekor des Saalinterieurs bildet dabei samt der seitlichen Durchblicke auf Parkausschnitte eine wirkmächtige Kulissenerweiterung für einen ästhetisch nicht minder vereinnahmenden, szenisch meist ruhig dahinziehenden Film: Le fort de fous (Algerien/Griechenland/Frankreich, 2017) von Narimane Mari. Einige kolonialklassizistische Drehorte für das Spiel der Laiendarsteller_innen Maris hätten nicht allein aufgrund architektonisch-atmosphärischer Qualitäten eine durch Zeit und Raum verschobene Parallele zur Umgebung des Ballhauses ergeben können. Historisch wäre eine konstruierte, aber mögliche Vergleichsoption gewesen, zweierlei aufeinander zu beziehen: Zum ersten den Soldatenhandel, also die massenweise Verdingung Wehrpflichtiger als Söldner für die englische Seite im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, die Friedrich II. von Hessen-Kassel im 18. Jahrhundert betrieben hatte, um so die gewalt(tät)igen Ausbau- und Renommierprojekte seiner Residenz zu finanzieren; und, zum zweiten, das teils subtile Unterwerfungsregiment früher französischer Kolonialmissionen, deren Folgen Mari in ihrem Film aufgreift und gleichzeitig mittels eines communitas-utopischen Plots transzendiert. Doch entzauberten mit der Tonspur eingespielte und als Untertitel eingeblendete Zitate regelmäßig allzu diachrone Allusionen (vom Filmpanorama auf die Residenztopographie) als retrograde Illusion: O-Töne, beispielsweise aus einer poetisierenden Rede Nicolas Sarkozys, führten direkt bis in eine Gegenwart zurück, in der ranghohe europäische Politiker_innen im Duktus pseudo-spätaufklärerischer Überhebung ‚den‘ afrikanischen Bauern als verträumt-fortschrittsunwillig stigmatisieren konnten.
Unglücklich nur, dass kuratorische Setzungen an einer zweiten Reisestation, der documenta-Halle, mit einer Behauptung im Geiste von Sarkozys Redeausschnitt verschwistert scheinen: Insoweit man gleich beim Halleneingang Ali Farka Touré Raum widmet und dessen Musik im Anschluss mit Formen endlos-zyklischer Komposition zusammenbringt, verteidigt man zwar ein nicht-linear-progredientes Gestalten als wertvolle Alternative zu westlich-europäischem Fortschrittsfuror, aber man lässt das Bild vom ‚verträumten Afrikaner‘ unwidersprochen, ja affirmiert sogar einen ahistorischen und undifferenzierten Blick auf ‚die‘ südliche (und, vice versa, ‚die‘ nördliche) Haltung. Einen ansprechend arrangierten Beitrag auf dem Weg zu einer allfälligen Ausstellungssichtbarkeit afrikanischer Blues- und Popgeschichte bieten die von Igo Diarra und La Medina gestalteten Kabinette dennoch.
Westlich der Halle, im Fridericianum, dem traditionellen Zentrum der documenta, hält man in der zum Parlament der Körper erklärten Rotunde camouflage-farben bespannte Schaumstoffblöcke vor (Polemos, 2017, von Andreas Angelidakis). Weitere historische und diachrone Allusionen werden da möglich: Wo 2017 Paul B. Preciado als Parlamentarier an Fragen nach dem Status der Körper in einer patriarchal und binär eingerichteten Welt anschließen (bzw. sie post-subjektzentrisch wenden) kann, platzierte Arnold Bode 1955 prominent eine androgyne Knienden-Skulptur Wilhelm Lehmbrucks. Mit den nur gekalkten Brandmauern des kriegsgezeichneten ältesten Museumsbaus im Hintergrund schien die Rotunden-Inszenierung damals Joseph Beuys‘ Diktum zu antizipieren: zeige deine Wunde. Beuys machte fast 30 Jahre später mit dem documenta-Projekt 7000 Eichen (1982ff.) ein urbanes Nachkriegsunheil anderer Art, die Menschenfeindlichkeit der autogerechten Stadt, zeigbar. Zum Teil schließt die Promenadologie Lucius Burckhardts, eines diesjährigen Referenztheoretikers, an solches Aufzeigen an; und in einer so herzuleitenden Durchlässigkeit für spielortbezogene Wundengeschichte erweist sich die Positionierung der documenta 14 als fundamental demokratisch; nachzuvollziehen insbesondere auf einem Spaziergang, der zum Stadtmuseum führt, und darin vorbei an einem Modell des mit Kriegsende bereits nahezu entkernten Kassel. Mit diesem Einbezug wird eine konzeptionelle Entschiedenheit erahnbar, das Parlament der Körper konsequent als ein Parlament aller Versehrten zu betrachten, für einen Moment also – in schon Sontag’scher Weise 11Im Schlussteil von Regarding the pain of Others (2003) legt Susan Sontag eine Perspektive der Kriegsbeteiligten nahe, die nicht auf Binnendifferenzierung ausgeht, sondern mit der Kategorie des Dabeigewesenseins eine Grenze nach außen, zur Gruppe der Betrachter_innen, markiert. Vgl: Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. München/Wien 2003, S. 146f. – unter Absehung von der Betonung möglicher moralischer Mitverantwortung einzelner Opfergruppen.
Eine für diese oftmals historisch argumentierende Schau ungewöhnlich gegenwärtige Akzentuierung erreicht die documenta 14 über einen zweiten direkten Ortsbezug: In der nun als Spielort genutzten ehemaligen Neuen Hauptpost installieren Forensic Architecture (77sqm_9:26min, 2017, als Teil eines Kooperationsprojektes mit lokalen Initiativen) eine detailreiche Aufbereitung zum Tatortgeschehen im Zusammenhang mit einem der NSU-Morde, begangen 2006 in Laufnähe zum Ausstellungsort. Die Tat erscheint so als eine frische Wunde in der Stadt, die zugleich in einer Linie mit einer Mordserie quer durch die Bundesrepublik liegt, und damit genauso über den Tatort hinausreicht wie die nach wie vor juristisch strittige Frage nach Verstrickung und Kontrolle eines Informanten- und Agentenmilieus. Kassel wird so zu einem exemplarischen Schauplatz, wenngleich einem hauptsächlich ermittlungspolitischen statt künstlerischen.
Wie schwer andererseits vor Ort 22Gerade vor der Folie einer von Beginn an ‚kontextintensiven‘ documenta-Geschichte, mindestens jedoch seit Harald Szeemanns 1972er Schau (bspw. mit einer Rubrik Politische Propaganda) oder dezidiert Catherine Davids documenta X (1997) mit (Katalog-)Untertitel Politics – Poetics, ließen sich zwar einerseits Momente des Angestrengtseins durch latente Züge zu vereinseitigenden Zuspitzungen von Kunst auf politische Implikationen nachvollziehen. Andererseits verwundert es dann in der genau gegenläufigen Rubrizierung doch mehr, wenn sich dieser Tage z.B. ein kunstwissenschaftlich orientierter Publizist wie Christian Demand mit der Einlassung (indirekt) zitieren lässt, dass „sich die wenigsten auf der documenta gezeigten Kunstwerke einfach durch Anschauen erschließen, sondern […] kontextintensiv rezipiert werden“ müssten. War das, möchte man da zurückfragen, und kann das überhaupt jemals anders sein, unbenommen des Umstandes, dass bestimmte Kontexte bestimmten Personen bis zur Unsichtbarkeit vertraut (gewesen) sind? Zu: Christian Demands Statement siehe: http://www.deutschlandfunkkultur.de/documenta-halbzeitbilanz-unprofessionell-und-respektlos.2950.de.html?dram:article_id=392221, zuletzt aufgerufen am 1. August 2017. Künstlerisches von Politischem und gerade im Kontext traditioneller, stets nur vermeintlicher Ausstellungsobjektivität zu trennen ist, zeigt Maria Eichhorn in der (alten) Neuen Galerie. Ganze Ausstellungsflure bespielt sie darin mit Apparaten einer Raubkunstrecherche. Dabei korrespondiert die Aufbereitung regelmäßig mit der Integration von Kasseler Bestandswerken wie Karl Hofers weltkriegsvisionärem Mann in Ruinen (1937). Und, mehr noch, werden Bestandswerke ihrerseits nicht allein besitzrechtlich befragt, sondern (durch hinzugruppierte Dokumentvitrinen z.B. mit Fotos aus ehemals besetzten, bis heute versehrten Weltregionen) neu in Korrespondenz gebracht mit global gegenwärtigerer Raub- und Kriegspein. Über Unrechtsbestände hinaus erschließen sich so neue Reichweiten einzelner Ausstellungsstücke. Auch in der Neuen Galerie kann man also etwas, wenn nicht von, doch in Kassel lernen. Das gilt ferner für dezentrale Orte wie die temporär wiedereröffnete einzige Tiefbahnstation der Stadt, die nicht nur als Ausstellungsort funktioniert, sondern aus der sich das lokale Scheitern eines nachkriegsmodernen think big-Städtebaus in einer vormaligen Zonenrand-Kommune veranschaulicht. Und es sieht so aus, als glückte der documenta 14 mehr als vielen Ausstellungen, das Lokale nicht ausschließlich in der globalen Kunstperspektive zu behaupten, sondern genauso am Stammort einzubeziehen. Gleichzeitig kann mit dieser Ortsbezugsstärkung eine Tendenz hervorspringen, eine Weltkunstperspektive wieder regionalistisch zu verkürzen oder gar zu ent-kunsten, also das Gewicht ganz auf lokale Geschichtsaufarbeitung zu verlagern.
Ausstellungsimmanenter drohen komplementäre Probleme: Mit der Lage bestimmter Arbeiten, die, wie im Fall von Forensic Architecture, unmittelbar ortsbewusste Raumrelationen aufmachen, scheinen gewisse strukturelle wie handwerkliche Aufbauprobleme der documenta 14 durch. So grenzt die genannte Installation sehr dicht an Nachbarnischen. Deren thematische Bandbreite reicht mit Arin Rungjangs Democracy Monument (2017) von einer Auseinandersetzung mit dramatischen Wechseln im thailändischen Regierungssystem des 20. Jahrhunderts bis zu Máret Ánne Saras künstlerischer Begleitung des Kampfes heutiger Sámi um kulturelle Eigenständigkeit in Norwegen (Pile o’ Sápmi, 2017). Im Auge solch heterogener Geschichte(n) sieht sich der Blick zu simultan globaler Aufsplittung gedrängt. Daraus kann jedoch schwerlich eine Konvergenzperspektive auf schuldhafte Verstrickungen gewonnen werden; und manche ästhetische Verbindungsmöglichkeiten bleiben ohnehin arg arbiträr: über Ausstellungssituationen vermittelt diese documenta in sich oft disparat (präsentiert z.B. das Modell zu Lois Weinbergers Installation in der Karlsaue, Ruderal Society: Excavating a Garden, 2017, weit entfernt in einer der Torwachen). Vor allem wurde diese documenta a priori asymmetrisch, wenn auch aufschlussreich zwischen zwei Spielstädten (Athen/Kassel) aufgefaltet. Kunstdeiktisch bis -didaktisch sperriger wirkt dabei am Ende, dass vieles in einer Art Gestrüpp politisch-historischer Referenzen und sogleich jenseits noch ästhetisch wahrnehmbar konturierter Konstellationen verwoben scheint. 33Wie etwa, um im oben beschriebenen Raumdrittel der ‚Neuen Neuen Galerie‘ zu bleiben, soll man dort zwei posthallenhoch nah beieinander befestigte Vorhänge, einen aus stilisierten Paarhuferschädeln (von Máret Ánne Sara) und der andere, eine in Stoffteilen ausgeführte Adaption von Manets Déjeuner sur l’herbe (von Beatriz González), distinkt schauen oder aber zusammendenken angesichts der skizzierten lokal- und weltpolitischen Spannweite der Diskurse, die in den umliegenden Installationsgefachen aufgerufen werden.
Bereits durch die leitmotivische Beziehung zu Athen erscheint die documenta 14 beteiligt an einem politischen Diskurs. Diesseits der documenta fixiert er sich leider ungebrochen auf die Schuldenfrage im heutigen Griechenland. Gelänge es, sich davon zu lösen, müsste mithin das documenta-Motto ‚Lernen von Athen‘ als solches eigentümlich hyper- und zugleich dystroph erscheinen: Hieß doch bis zur Banken- und Eurokrise und seit Johann Joachim Winckelmann von Athen lernen, primär (dem Bild) kultureller und künstlerischer Hochkultur nachzueifern. (Zumal die Ausstellung wiederholt derartige Traditionen adressiert; sei es durch die – mit Marta Minujíns Parthenon of Books und Simon Louis du Rys Fridericanumsportikus gedoppelte – Tempelmotivik am Friedrichsplatz oder über die gebauten und gemalten Architekturklassizismen Leo von Klenzes, sowie ferner durch im Katalog publizierte Anmerkungen des Architekten Andreas Angelidakis zu „Informationen, die Griechenland exportiert hat“.) 44Zitiert nach: Korody, Nicholas: „Andreas Angelidakis“. In: Latimer, Quinn/Szymczyk, Adam (Hg.): documenta 14. Daybook. München/London/New York 2017, o.S.
Wie endlich eine andere, an sich, in ihrer globalen Gleichförmigkeit, gespenstische Hypertrophie, jene westlicher Konsumstile, künstlerisch gefasst und gewendet werden kann, führen zwei zeichnerische Acrylarbeiten Nomin Bolds im Ottoneum vor (Green Palace und One Day of Mongolia, 2017). Thematisch wird darauf ein mongolischer Alltag problematisiert, der sich zusehends verstädtert. Bold bleibt dabei jedoch einem traditionellen Malstil des Landes verpflichtet, mit einem Figurenreichtum von leuchtender Farbintensität und flächiger Ausdifferenzierung. Auf einer documenta-Reise kann man sich an einer solchen Station, die dem Wahrnehmungserlebnis Vorrang gegenüber dem politisch Referenziellen einräumt, sozusagen ästhetisch regenerieren. Insgesamt lohnt der Weg aber auch trotz oder wegen mancher kuratorischen Verstrickung in arbiträre Diskursgeflechte.
- 1Im Schlussteil von Regarding the pain of Others (2003) legt Susan Sontag eine Perspektive der Kriegsbeteiligten nahe, die nicht auf Binnendifferenzierung ausgeht, sondern mit der Kategorie des Dabeigewesenseins eine Grenze nach außen, zur Gruppe der Betrachter_innen, markiert. Vgl: Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. München/Wien 2003, S. 146f.
- 2Gerade vor der Folie einer von Beginn an ‚kontextintensiven‘ documenta-Geschichte, mindestens jedoch seit Harald Szeemanns 1972er Schau (bspw. mit einer Rubrik Politische Propaganda) oder dezidiert Catherine Davids documenta X (1997) mit (Katalog-)Untertitel Politics – Poetics, ließen sich zwar einerseits Momente des Angestrengtseins durch latente Züge zu vereinseitigenden Zuspitzungen von Kunst auf politische Implikationen nachvollziehen. Andererseits verwundert es dann in der genau gegenläufigen Rubrizierung doch mehr, wenn sich dieser Tage z.B. ein kunstwissenschaftlich orientierter Publizist wie Christian Demand mit der Einlassung (indirekt) zitieren lässt, dass „sich die wenigsten auf der documenta gezeigten Kunstwerke einfach durch Anschauen erschließen, sondern […] kontextintensiv rezipiert werden“ müssten. War das, möchte man da zurückfragen, und kann das überhaupt jemals anders sein, unbenommen des Umstandes, dass bestimmte Kontexte bestimmten Personen bis zur Unsichtbarkeit vertraut (gewesen) sind? Zu: Christian Demands Statement siehe: http://www.deutschlandfunkkultur.de/documenta-halbzeitbilanz-unprofessionell-und-respektlos.2950.de.html?dram:article_id=392221, zuletzt aufgerufen am 1. August 2017.
- 3Wie etwa, um im oben beschriebenen Raumdrittel der ‚Neuen Neuen Galerie‘ zu bleiben, soll man dort zwei posthallenhoch nah beieinander befestigte Vorhänge, einen aus stilisierten Paarhuferschädeln (von Máret Ánne Sara) und der andere, eine in Stoffteilen ausgeführte Adaption von Manets Déjeuner sur l’herbe (von Beatriz González), distinkt schauen oder aber zusammendenken angesichts der skizzierten lokal- und weltpolitischen Spannweite der Diskurse, die in den umliegenden Installationsgefachen aufgerufen werden.
- 4Zitiert nach: Korody, Nicholas: „Andreas Angelidakis“. In: Latimer, Quinn/Szymczyk, Adam (Hg.): documenta 14. Daybook. München/London/New York 2017, o.S.