Hören und Zuhören scheint sich als Praxis herauszustellen, die auf der documenta 14 durch ein vergleichsweise großes Spektrum an ausgestellter Klangkunst, dem SAVVY-Funk-Radioprogramm oder in zahlreichen Gesprächsrunden im Parlament der Körper neu eingeübt werden kann. In Athen wurde ihr durch den Listening Space, kuratiert von Paolo Thorsen-Nagel, ein wortwörtlicher Raum gegeben. Das Programm konzentrierte sich auf akustische Arbeiten, die sich jenseits etablierter Aufführungsformen von Musik bewegen. Hauptort war das Romantso, in dem einstmals ein gleichnamiges Boulevardmagazin gedruckt wurde und das heute als Bar, Club, Coworking-Space und Galerie fungiert.
Brandon LaBelle führt das Publikum am Abend des 29. Juni 2017 mit einer performativen Installation zu verschiedenen Orten des Kulturzentrums. Über drei Stunden hinweg arbeitet er u.a. mit Sounds, Bewegungen, Videoinstallationen und Lectures zur Figur des Unregierbaren, The Ungovernable. Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Aufschwungs des Autoritarismus ließe sich dabei sowohl an unterdrückende, unbelehrbare Staatschefs als auch an drop outs, Unruhestifter, aber auch Träumer denken. LaBelle lenkt den Fokus auf letztere und wie diese an selbstgewählten Rückzugsorten, im Abseits, durch Musik und die gemeinsame Begeisterung für Sound, alternative Sozialitäten auszubilden vermögen.
Eine zentrale Rolle spielt dafür Noise. Während sich in der Nachbarschaft die Geschäftigkeit des Tages legt, der mit Temperaturen über 40 Grad nicht nur mich sichtlich angestrengt hat, beginnt LaBelle, das Untergeschoss des Romantso akustisch mit einem subtilen, tiefen Rauschen zu füllen. Er platziert ein großes, schwarzes Tuch spiralförmig auf dem Boden und im Anschluss daran mobile Beamer, welche auf Wände, die Decke und das Publikum Videos von Performern projizieren, die sich vor geschlossenen und mit Graffiti übersäten Läden bewegen. Im Anschluss bittet er alle in einen nochmals tiefer liegenden und dunkleren Teil des Gebäudes und nimmt Platz. Der so markierte Übergang vom sich im Raum bewegenden Körper zur vortragenden Person wird von einer biografischen Notiz unterstrichen: Eine der ersten Slides zeigt seinen Schülerausweises von der Margate Intermediate School in Palos Verdes Estates, Kalifornien aus dem Jahr 1983. Durch diese ID kommt es zu einer merkwürdigen Identifikation und Preisgabe des Performers, der vor dem Publikum in gedimmtem Licht sitzt. Er spricht nun über sich als „emerging subject“ 11Alle im Folgenden unbezeichneten Zitate entstammen Brandon LaBelles erster Lecture während The Ungovernable. Mehr Details zur Performance online unter: http://www.brandonlabelle.net/the_ungovernable.html (letzter Zugriff am 27. Juli 2016) , dessen Zukunft gerade erst beginnt und doch schon ein Zeichen gegen externe Erwartungshaltungen zu setzen weiß: Auf dem Ausweisfoto trägt er ein T-Shirt der Band The Doors und schaut mit verlorenem Blick in die Kamera, der laut LaBelle zum Ausdruck bringt: „I am listening to a world over and above this one. […] this subject […] is driven by what it listens to“. Das Band-T-Shirt ist also lediglich ein Verweis auf die Abgrenzung gegen das visuelle Regime. Nicht dem Aussehen, sondern der Selbstbestimmung auf akustischer Ebene wird ein höherer Stellenwert eingeräumt. Und dafür spielt die High-School eine weniger große Rolle als die Leere der Vorstadtperipherie sowie die kalifornische Steilküste, die nicht nur am Rand, sondern selbst Ränder sind. Während ein Schwarz-Weiß-Video von der Küste gezeigt wird, stelle ich mir eine Gruppe Jugendlicher vor, die aus der sozialen Enge der wohlhabenden Vorstadt dorthin fliehen, um sich nachts heimlich zu treffen und Musik zu hören. Sonic imagination nennt LaBelle, was in diesem selbstgewählten Milieu den Heranwachsenden zum Modus der Selbstbestimmung wird: nicht den Stimmen derer zu lauschen, die das Sagen haben, sondern denen, die träumen, durch die Nacht hindurch und „in the tones of freedom“ sprechen. In diesen „landscapes of the night as well as that of listening“ werden andere Formen von Gemeinschaft möglich.
The darkness in which things may find refuge;
The darkness in which to imagine other worlds;
The darkness in which life and love found new possibilities, undercover and out of sight;
The darkness of shared listening.
Brandon LaBelle sieht ‚Spuren‘ dieser Idee von Gemeinschaftsbildung qua Versammlung im Verborgenem und (Musik)-Hören bei dem tschechischen Philosophen Václav Benda. Benda wollte mit seinem Konzept von der ‚parallelen Polis‘ 1978 im Anschluss an die Charta 77 der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung dazu ermutigen, parallele Formen der Bildung, Informationsverbreitung, der Ökonomie und der Kultur aufzubauen. In einem Rückblick aus dem Jahr 1988 schreibt er, dass mehr als erhofft davon verwirklicht wurde. 22Benda, Václav in: Social Research, Schwerpunkt: „Parallel Polis, or An Independent Society in Central and Eastern Europe: An Inquiry“, Vol. 55., Nr. 1–2, 1988, S. 214–222, hier S. 215. Im selben Atemzug benennt Benda aber auch die Grenzen des Konzepts: Eine parallele Polis ist nicht einfach das Gegenteil oder Negativbild beispielsweise des kommunistischen Regimes, von dem man komplett unabhängig agieren könne. Daher ist es „probably impossible for the parallel polis to destroy, replace, or peacefully transform (humanize, democratize, reform […]) totalitarian power.“ 33Ebd., S. 220.
Die Pflege einer anderen Form von Gemeinschaft unter Jugendlichen im Kalifornien der 1980er Jahre kann natürlich nicht direkt mit dem zeitgleichen Widerstand gegen die Diktatur im damaligen Ostblock verglichen werden. Das behauptet auch LaBelle nicht, eröffnet in seiner Performance aber einen gemeinsamen listening space für beide. Ihn interessieren besonders die dissidente Untergrundkultur auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs und deren geheime Zusammenkünfte, um Platten aus dem Westen zu hören und verbotene Musik zu machen. Ivan Jirous prägte dafür die Bezeichnung second culture und betont 1988 im selben Kontext wie Benda, dass darin Ausdruck fand, was Václav Havel als die „Macht der Machtlosen“ bezeichnete. 44Ivan M. Jirous in: Social Research, S. 227. Vgl. auch: Havel, Václav: Versuch in der Wahrheit zu leben, Reinbek bei Hamburg 1993.
Diese Macht „undercover and out of sight“ zu entwickeln, wie LaBelle es in seiner Lecture beschreibt, gilt für die Teenager wie für die Dissidenten, auch wenn die sonic imagination dabei auf verschiedene Horizonte gerichtet ist. Aus Perspektive der Teenager geht es um das Leben nach einer anderen Logik, die sich nicht am Sichtbaren der Kleidung, an der Hautfarbe oder Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht orientiert, sondern auf der Grundlage eines „reworking of the senses and the sensible“ und durch eine Praxis des „nocturnal gathering and sonic attunement“ zu einer Sprache der Differenz findet, die andere Identitäten stiftet. Listening, (zu)hörend gründet sich dabei eine Gemeinschaft, die durch „audible intensities“ verwoben wird und darin die Möglichkeit zur imaginären Logik bekommt, die vorstellbar (oder vielmehr: hörbar) macht, dass Noise übergeordnete Strukturen zu stören und zu zersetzen weiß. In einer solchen „acoustic ecology“ verortet LaBelle auch Jirous’ second culture, die kraft der „intensities of free sound“ und durch ein „listening from below“ die Vorstellung entwickeln könne, dass man es schafft, abzuhauen oder dass man sich verstecken und anders zusammen leben kann.
The Ungovernable versucht konsequenterweise, dem Akustischen eine tragende Rolle für die Beziehung zwischen Performer und Publikum zu geben. Das geschieht beispielsweise, wenn Lieder von den Doors gespielt werden oder das sehr aktuell wirkende Gimme Shelter von den Rolling Stones daran erinnert, dass war, rape, murder und love „just a shot away“ sind. Doch auch die Fragilität des Akustischen wird spürbar, wenn die zarte, fast schwebende und präzise artikulierende Stimme des Künstlers kaum hörbar ist, weil nicht alle seiner Lecture lauschen, sondern währenddessen reden und nicht bemerken, dass sie genau in seine Richtung bzw. in den Rücken des Publikums sprechen. Im zweiten Teil nach der Pause unternimmt LaBelle in einem weiteren Raum dann akustische (Be)setzungen, diesmal durch mobile Lautsprecher, denen man sich nähern oder denen man fernbleiben kann. Dort, wo die akustischen Elemente genügend Raum bekommen und auch dort, wo ihnen keine Aufmerksamkeit zuteil wird, wird deutlich, welche Rolle sie dafür spielen, wie sehr man eine Performance als temporäre Gemeinschaft erlebt, oder eben eher als Zuschauerin, die sich von den anderen gestört fühlt. Berechtigterweise fragt LaBelle daher:
Do we create another type of collectivity here, one also determined by listening? By a desire to reorient ourselves through other forms of knowing? Is this not a landscape or at least a space, in which some gather?
Letzterer Aspekt ist nicht von der Hand zu weisen. Das Publikum geht mit LaBelle durch das Gebäude und in verschiedene Hörsituationen. Aber das Gemeinschaftliche bindet sich dabei eher an den Künstler als Bezugspunkt, der auch oft nicht spricht und sich im Raum, häufig korrespondierend mit kleinformatigen Videoprojektionen, bewegt. Die Idee, durch sonic imagination eine andere Form von Miteinander entstehen zu lassen, vermittelt sich stärker als dass nachvollziehbar würde wie, wo und mit wem das konkret geschehen könnte. Es scheint mit einer Praxis des Hörens verbunden zu sein, die sich allerdings nicht innerhalb von drei Stunden einüben lässt.
Am Ende bringt LaBelle Zeichnungen an einer mintgrünen Fliesenwand an, beschriftet die Blätter mit Namen, Begriffen und Wortgruppen und verbindet sie teilweise durch Kreppklebeband miteinander. Nicht nur dieses installative Moment gibt den visuellen Elementen und Worten in The Ungovernable Gewicht. Auch auf den Zeichnungen an der Wand manifestiert sich, was von einem solchen akustischen Weltbezug betroffen wäre, welche alltäglichen und grundlegenden Motive unseres Lebens dadurch angesprochen werden. Die Blätter zeigen Personen, Szenen und Konstellationen, die den Schilderungen von der kalifornischen Küste zu Beginn der 1980er entnommen sein könnten. Sie sind eine Art fragmentarisches Storyboard, das zahlreiche Besucher_innen abfotografieren.
Beim Heraustreten aus dem klimatisierten Romantso in die immer noch vor Hitze glühende Betonstadt, habe ich das Gefühl, dass ebenso wie zwischen Kalifornien und dem tschechoslowakischen Untergrund, zwischen dem Publikum der documenta und Widerstandsgruppen etwa in Syrien oder der Türkei derzeit Welten liegen, die auch durch sonic imagination nicht in Resonanz miteinander gebracht werden können. Sonic imagination ist somit keine globale Anleitung für den Widerstand, sondern die Bestärkung zum Rückzug in selbstgewählte Klang-Peripherien mit jenen, denen man lauschen will und jenen, die zuhören können, sodass aus geteilter Verletzlichkeit Stärke entsteht – „Weak is the shared“ steht auf einem gelben Spüllappen, der an einem durch den Raum gespannten Faden hängt, wie eine eindringliche Erinnerung daran, dass dies keine einfache Strategie ist.
- 1Alle im Folgenden unbezeichneten Zitate entstammen Brandon LaBelles erster Lecture während The Ungovernable. Mehr Details zur Performance online unter: http://www.brandonlabelle.net/the_ungovernable.html (letzter Zugriff am 27. Juli 2016)
- 2Benda, Václav in: Social Research, Schwerpunkt: „Parallel Polis, or An Independent Society in Central and Eastern Europe: An Inquiry“, Vol. 55., Nr. 1–2, 1988, S. 214–222, hier S. 215.
- 3Ebd., S. 220.
- 4Ivan M. Jirous in: Social Research, S. 227. Vgl. auch: Havel, Václav: Versuch in der Wahrheit zu leben, Reinbek bei Hamburg 1993.