listening / zuhören

Ausgabe #10
Mai 2021
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In Ästhetiken des Atmosphärischen spielt das Hören oft eine zentrale Rolle. Wie sind Zuhören und atmosphärische Aufmerksamkeit miteinander verknüpft? (In memoriam Pauline Oliveros)

Einen Vortrag übers Zuhören zu halten, ist ein bisschen merkwürdig. Ich appelliere an andere, mir zuzuhören. Und ich behaupte, dass ich etwas sagen kann über das, was sie gerade tun: Zuhören. Um zuhören zu können, muss ich selbst still werden.

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Zeit ihres Lebens praktizierte die Komponistin und Musikerin Pauline Oliveros eine Art akustische Meditation, die sie Deep Listening nannte. Was sie damit meint, hat sie einmal auf die folgende kurze Formel gebracht: „Listen to everything all the time, and remind yourself when you are not listening.“11Oliveros, Pauline: Sounding the Margins. Collected Writings 1992-2009. Hg. v. Lawton Hall. Kingston, N.Y. 2010, S. 28. Es geht um ein situatives Hören, das für jeden Moment möglich gemacht wird.

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Im Gegensatz zur basalen Fähigkeit des Hörens zeichnet sich die Tätigkeit des Zuhörens dadurch aus, dass ich meine Aufmerksamkeit bewusst und aktiv auf etwas richte – etwa auf einen Klang, ein Musikstück, auf eine Person, die spricht, oder auf etwas weitaus Unbestimmteres: Vielleicht auf das, was mich hier und jetzt umgibt, auf die Atmosphäre dieses Ortes.

Um diesen Modus des ‚Atmosphärischen‘ beim Zuhören geht es mir heute. Ich könnte mich fragen: Was nehme ich in diesem Moment wahr? Ich stehe in einem Hinterhof am Einsteinufer in Berlin. Ringsherum gibt es eine Vielzahl an Baustellen, wo gearbeitet wird. Manchmal laufen Menschen vorbei. Signale. Vögel zwitschern. Ab und an fährt ein Bus vorbei. Alles das höre ich, aber ist das ‚die Atmosphäre‘ dieses Ortes?

Tatsächlich geht mein Versuch, dies zu beschreiben, daran vorbei. Denn die atmosphärische Wahrnehmung ist vor allem ein Modus, der ganzheitlich wahrnimmt, noch bevor die Umgebung analytisch in ihre Einzelelemente zerlegt wird: Atmosphärisch zu hören heißt, die eigene akustische Umgebung als eine situativ gegebene Gesamtheit wahrzunehmen.

Sicher, da sind die Geräusche, die mir am nächsten sind: Geräusche, die ich vielleicht selbst mache bzw. deren Quelle ich genau lokalisieren kann. Aber je weiter ich den Radius meiner Aufmerksamkeit nach außen verlagere, desto mehr verschwimmen die einzelnen Klänge in der Ferne zu einem wabernden akustischen Horizont. Ein undefinierbares Rauschen umgibt mich von allen Seiten.

Im Radio- und Filmbereich wird dieses Hintergrundrauschen auch als ‚Atmo‘ bezeichnet. Im Englischen spricht man eher von ambience, room tone oder presence. Gerade presence ist ein sehr interessanter Begriff, weil hier Präsenz und Präsens, Anwesenheit und Gegenwart zusammenfallen.
 
Das Hören spielt in der atmosphärischen Wahrnehmung eine wichtige Rolle. Aber spielt beim Zuhören nicht auch generell so etwas wie eine atmosphärische Aufmerksamkeit eine Rolle?
Wenn wir über das Zuhören sprechen, haben wir oft eine Dialogsituation zwischen zwei Personen vor Augen. Gut zuhören zu können, gilt als eine Tugend. Aber was heißt das eigentlich? In einem Aufsatz von 1964 schreibt Roland Barthes etwa über das „psychoanalytische Zuhören“,22Barthes, Roland: „Zuhören“, in: Kuhn, Robert und Kreuz, Berndt (Hg.): Das Buch vom Hören. Freiburg i. Br. 1991, S. 55–71, hier S. 65ff. es gehe darum, gerade nicht bewusst zuzuhören. Freud sagt, es gehe darum, „sich nichts besonderes merken zu wollen“, sondern „allem, was man zu hören bekommt, die nämliche gleichschwebende Aufmerksamkeit […] entgegenzubringen.“33Freud, Sigmund: „Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1913 – 1917, Bd. 8. Hg. v. Anna Freud. Frankfurt am Main 1999, S. 376–387, hier S. 377. In den „Ratschlägen für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“ heißt es bei Freud:

Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Material auszuwählen; man fixiert das eine Stück besonders scharf, eliminiert dafür ein anderes und folgt bei dieser Auswahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies darf man aber nicht; folgt man bei der Auswahl seinen Erwartungen, so ist man in Gefahr, niemals etwas anderes zu finden, als was man bereits weiß.44Freud 1999, S. 377.

Das hieße, dass es beim psychoanalytischen Zuhören darum ginge, möglichst auf ein vorschnelles Etikettieren und Einsortieren zu verzichten, und stattdessen eine Art laterale, atmosphärische Aufmerksamkeit zu kultivieren. Etwas erst einmal ‚nur atmosphärisch‘ wahrzunehmen, heißt oft, es noch nicht klar bestimmen und benennen zu können. Es gibt da eine Spur, eine Ahnung – etwas, das irritiert, das wahrgenommen werden will, aber es ist noch nicht ganz klar, was es ist. Erst dies ermöglicht es – nach Freud – etwas anderes zu finden, etwas allererst zu entdecken. Es geht darum, das Gehörte nicht gleich einzuordnen, sondern gewissermaßen in der Schwebe zu halten und länger nachwirken zu lassen.
 
Was bedeutet es, sich mit der Aufmerksamkeit in diesem unbestimmten Raum aufzuhalten? Klänge und Geräusche tendieren dazu, einander vielfältig zu überlagern. Diese Überlagerung kommt meinem atmosphärischen Wahrnehmungsmodus entgegen. Ich darf nur nicht der Gewohnheit verfallen, das Gehörte zu benennen, in seine Bestandteile aufzudröseln und einzeln abzuhaken – auch wenn es schwer ist, dem zu widerstehen. Deshalb werden oft solche Geräuschereignisse als ‚atmosphärisch‘ bezeichnet, bei denen es nahezu unmöglich ist, sie auf ihre einzelnen Bestandteile zurückzuführen: Meeres- oder Verkehrsrauschen, Stimmengewirr, Regen, Wind. Manchmal stechen einzelne Geräusche heraus und drängen sich mir auf. Aber eigentlich bin ich immer und überall von einer Vielzahl an Geräuschen umgeben. Was ich wahrnehme, ist vor allem diese ‚gemeinsame Anwesenheit‘.
Kann diese Wahrnehmung irgendeine Bedeutung haben? Oder befinde ich mich nicht vielmehr in einer Art ästhetischen Grauzone, in der Gestalten und Kategorien sich auflösen und verschwimmen? Ist das, was ich da interpretierend hineinzulegen versuche, überhaupt noch ‚von außen‘ vorgegeben, oder bin ich ganz auf mich selbst zurückgeworfen und bewege mich in inneren Traumbildern? Die Rede von ‚innen‘ und ‚außen‘ ist jedoch irreführend. Leibphilosophisch betrachtet unterscheidet die atmosphärische Wahrnehmung nicht zwischen Selbst und Welt, zwischen Innen und Außen. Es geht – mit Gernot Böhme gesprochen – zunächst ganz basal um das „Spüren von Anwesenheit“ bzw. um die „Erfahrung […], daß ich selbst da bin und wie ich mich, wo ich bin, befinde.“55Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 42. Ich nehme nie nur einzelne Geräusche wahr, sondern mit ihnen auch eine Stimmung. Ich selbst bin Teil der Umgebung. Äußere und innere Stimmung korrespondieren miteinander – auch wenn ich beides nicht unbedingt klar in Worte fassen kann.

Zuhören beschreibt daher mindestens ebenso eine Beziehung wie eine Aktivität. Wenn, dann überbrückt das Zuhören ja gerade ‚innen‘ und ‚außen‘. So schrieb Vilém Flusser einmal:

Beim Musikhören findet der Mensch sich selbst, ohne die Welt zu verlieren, und er findet die Welt, ohne sich selbst zu verlieren, indem er sich selbst als Welt und die Welt als sich selbst findet.66Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, 2., durchges. u. um einen Anhang erw. Aufl. Düsseldorf 1993, S. 158.

Diese phänomenologische Beziehung realisiert sich in der Gegenwart als ein Kreuzungspunkt, an dem sich verschiedenste Einflüsse – von ‚innen‘ und ‚außen‘ – überlagern.
Dieser Punkt ist nicht neutral, er ist gefärbt sowohl von meiner momentanen Verfassung als auch – wenn man so will – der ‚Verfasstheit der Welt‘, an diesem historischen Ort, in diesem Moment; meine Erfahrung ist die Berührungsfläche, die diese Dimensionen zusammenbringen kann. Auch wenn sich Gestalten und Kategorien dabei tendenziell verflüssigen und auflösen mögen, heißt das nicht, dass ich mich an einem Punkt außerhalb der Geschichte, außerhalb des Politischen befinde. Die Affekttheoretikerin Lauren Berlant beschreibt eher das Bedrückende der Gegenwart, wenn sie sagt:

ambience provides atmospheres and spaces in which movement happens through persons: listeners dissolve into an ongoing present whose ongoingness is neither necessarily comfortable nor uncomfortable, […] but, most formally, a space of abeyance77Berlant, Lauren: Cruel Optimism, Durham 2011, S. 230.

– ein Raum der Unentschiedenheit, der Schwebe: „[T]he world is at once intensely present and enigmatic“.88Berlant 2011, S. 4. Diese Rätselhaftigkeit, dieses Moment des Unbestimmten kann lähmend und überwältigend sein, es kann aber auch produktiv sein. Es liegt eine Chance darin, etwas Neues zu erfahren – auch wenn es anfangs nur eine schwache Ahnung sein mag.

Ein atmosphärisches Hören begibt sich an diesen Punkt der Unschärfe, wo vieles noch in der Schwebe hängt. Diese Ambivalenz birgt ein Potenzial: Etwas nur zu ahnen, heißt noch nicht zu wissen. Von hier aus, von diesem gegenwärtigen Punkt gemeinsamer Anwesenheit aus, sind noch nicht alle Wege vorgezeichnet.

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Ich höre die, die ungeduldig sind: Die die Ruhe nicht ertragen. Ich höre die, die mit mir still sind. Ich höre die, die nicht sprechen oder nicht sprechen können. Ich höre die, die laut sind, ohne etwas zu sagen. Ich höre die, die gerade aufgehört haben, zu schreien. Ich höre die, die schlafen. Die, die für sich und andere sorgen.

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„Listen to everything all the time, and remind yourself when you are not listening,“ hatte Pauline Oliveros gesagt. Sie fügte aber noch etwas hinzu: „Don’t tune out.“99Oliveros, Pauline: Creating, Performing and Listening. 9. Listening vs. Hearing, 2000, URL: https://nmbx.newmusicusa.org/pauline-oliveros-creating-performing-and-listening/10/(letzter Zugriff am 21. April 2021).

    Fußnoten

  • 1Oliveros, Pauline: Sounding the Margins. Collected Writings 1992-2009. Hg. v. Lawton Hall. Kingston, N.Y. 2010, S. 28.
  • 2Barthes, Roland: „Zuhören“, in: Kuhn, Robert und Kreuz, Berndt (Hg.): Das Buch vom Hören. Freiburg i. Br. 1991, S. 55–71, hier S. 65ff.
  • 3Freud, Sigmund: „Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung“, in: Ders.: Gesammelte Werke. Werke aus den Jahren 1913 – 1917, Bd. 8. Hg. v. Anna Freud. Frankfurt am Main 1999, S. 376–387, hier S. 377.
  • 4Freud 1999, S. 377.
  • 5Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 42.
  • 6Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, 2., durchges. u. um einen Anhang erw. Aufl. Düsseldorf 1993, S. 158.
  • 7Berlant, Lauren: Cruel Optimism, Durham 2011, S. 230.
  • 8Berlant 2011, S. 4.
  • 9Oliveros, Pauline: Creating, Performing and Listening. 9. Listening vs. Hearing, 2000, URL: https://nmbx.newmusicusa.org/pauline-oliveros-creating-performing-and-listening/10/(letzter Zugriff am 21. April 2021).
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